Das Bild zeigt das Cover von Christoph Heins Das Narrenschiff. Darauf ist ein Wandmosaik im Stil des sozialistischen Realismus zu sehen.

Das Narrenschiff von Christoph Hein – die klassische Erzählform steht in Widerspruch zur systemtheoretischen Sicht auf die DDR

Das Narrenschiff von Christoph Hein hat viele Besprechungen erhalten und wurde einerseits gelobt, andererseits gab es Kritik – vor allem in Hinblick auf die literarische Qualität des Buches (so etwa Dietmar Jacobsen auf literaturkritik.de). 

Beeindruckend sind die detaillierten Beschreibungen von Karrierewegen in der DDR, die anhand von zwei Ehepaaren – Karsten und Rita Emser sowie Johannes und Yvonne Goretzka – und dem homosexuellen Intellektuellen Benaja Kuckuck dargestellt werden. Durch die Figuren werden Einblicke in die Arbeitswelt eines Ingenieurs, eines Ökonomie-Professors sowie in das Referat für Kinder- und Jugendfilm gegeben, außerdem wird die politische Atmosphäre beim Aufbau und später auch beim Zusammenbruch der DDR vermittelt.

Detailliert beschrieben werden etwa das Leben auf der Parteischule (es wurde empfohlen, während der ganzen Woche das Areal nicht zu verlassen), die Welt des Kinderfilms (von einem klassenbewussten tapferen Schneiderlein bis hin zu einem in Venedig preisgekrönten tschechischen Kinderfilm und polnischen Animationsfilmen) oder die Entstehungsgeschichte des Wartburgs. Nicht zuletzt macht man sich während des Lesens mit vielen Begriffen, die zum Standardvokabular der DDR gehörten und auch mit dem Ton, in dem offiziell gesprochen wurde, vertraut.

Ein auktorialer Erzähler, der öfters moralisierend daherkommt, überblickt sein Figurenensemble und interessiert sich nicht nur für ihre Karriereentscheidungen, sondern auch für ihre Freundschaften und intimen Beziehungen. Der Stil orientiert sich eher am Anspruch, ein Page-Turner zu sein als an literarischen Finessen, doch das Ziel, ein gesellschaftliches Panorama zu sein, das allein schon durch die vielen Seiten suggeriert wird, verfehlt der Roman, da er sich nur auf die gesellschaftliche Oberschicht konzentriert. Johannes Goretzka muss nicht Straßenbahn fahren, denn er hat selbstverständlich einen Dienstwagen, Yvonne Goretzka muss sich nicht mit Massenware zufrieden geben, denn für sie gibt es handgenähte Lederschuhe aus Ungarn. 

Das Leben und die Beweggründe derjenigen, die Karriere gemacht haben, stehen hier im Zentrum. Es fehlt – gerade weil das Buch ein solches historisches Panorama aufmacht – jedoch die Perspektive derjenigen, die sich gegen das System gestellt haben. Es geht vielmehr um die Unterschiede zwischen denen, die das System aufgebaut und am Laufen gehalten haben: Johannes Goretzka will einfach nur Karriere machen, egal in welchem System. Karsten Emser ist überzeugt vom System, auch wenn er nicht alle Partei-Entscheidungen richtig findet. Benaja Kukuck wiederum macht seine ironischen Scherze, fügt sich aber in die vorgesehenen Bahnen. Ab und zu tauchen Nebenfiguren auf, die nicht alles mitmachen, um voranzukommen – so etwa Yvonnes Liebhaber, der nicht einfach alles unterschreibt, oder Kathinkas Ehemann, der sich mit kritischen Kommentaren nicht zurückhält. Die ersten beiden Drittel des Buches sind allerdings geprägt von der Perspektive derjenigen, die das System am Laufen halten. Ambivalenzen – wie sie etwa in der Serie Weissensee innerhalb einer Familie dargestellt wurden – sind hier nicht das Thema. Widerstand gegen das System kommt in der hier dargestellten Welt nicht wirklich vor. 

„Doch für das, was in den Zeitungen zu lesen stand, interessierte sich die Bevölkerung kaum, alle hatten damit zu tun, für sich und ihre Familien zu sorgen, die nötigen Lebensmittel zu besorgen und gelegentlich, verbunden mit langem Anstehen vor den Geschäften, einen seltenen und begehrten Artikel zu erstehen. Die politischen Ereignisse nahm man schweigend zur Kenntnis, man hielt den Mund und äußerte nur engsten Freunden gegenüber, was man von der Besatzungsmacht und der von ihr eingesetzten Regierung hielt, oder man verschwand mit der Familie und mit möglichst viel Gepäck in Richtung Westen.“ (303)

Dargestellt wird der Aufbau der DDR – daher ist der Fokus auf die Funktionäre auch plausibel. Das Buch erzählt DDR-Geschichte – mit detaillierten Schilderungen des Alltags und der historischen Ereignisse. Um ein Panorama der DDR-Gesellschaft zu sein – wie es die 750 Seiten, ob gewollt oder ungewollt, von der Form her suggerieren – fehlt allerdings die Perspektive derjenigen, die unter dem System gelitten haben sowie die derjenigen, die gegen das System waren. Im letzten Drittel des Buches werden dann der Wittenberger Kreis, die Friedensgebete und die Montagsdemonstrationen thematisiert – das Ende der DDR wird anhand der Generation der Kinder und Enkel:innen der Hauptprotagonist:innen dargestellt. 

In diesem letzten Teil wird – etwas spät – dann auch langsam klar, worum es Hein eigentlich geht. Die Zeitspanne des Buches reicht von der Gründung bis zum Ende der DDR und der Titel deutet  es auch an (auch wenn er vielleicht etwas irreführend darauf anspielt, das Buch könnte eine Satire sein): Es geht darum, zu zeigen, wie die DDR als System funktioniert hat und wie sie sich dann auch selbst als System abgeschafft hat. So wird im Vorfeld der Montagsdemonstrationen der Zusammenbruch der Wirtschaft (mit dem Wechselkurs 1:10) detailliert beschrieben, ebenso wird anhand des Generationenwechsels deutlich gemacht, dass es gesellschaftlich zu einer Lockerung und einer Gegenbewegung kam, die wiederum zunächst mit stärkeren Sanktionen einherging, die sich aber letztendlich nicht aufhalten ließ. 

Insgesamt bietet das Buch eine detaillierte literarische Aufarbeitung von DDR-Geschichte, die sich auf jeden Fall zu lesen lohnt. Und doch bleibt man nach 750 Seiten etwas ratlos zurück, weil in einem solchen Panorama doch wesentliche Perspektiven fehlen. Der klassische, auktoriale Erzählmodus und der damit verbundene Fokus auf die Hauptprotagonist:innen, die bis in die letzten persönlichen Erfahrungen, biografischen Hintergründe und intimsten körperlichen Bedürfnisse ausgeleuchtet werden, stehen im Widerspruch zu der systemtheoretischen Sicht auf die DDR.

Christoph Hein: Das Narrenschiff. Berlin: Suhrkamp 2025.

Hinterlasse einen Kommentar