Auf dem Bild ist das Cover von Joanna Bators Roman "Bitternis" zu sehen, darauf ein Frauenporträt

Joanna Bator: Bitternis

Joanna Bator legt mit Bitternis einen Generationenroman von über 800 Seiten vor und die Kritiker:innen sind sich einig (siehe die Rezensionen im Perlentaucher), dass es durchaus noch ein paar hundert Seiten mehr sein dürften. Wovon wird erzählt? Bator erzählt die Geschichte von vier Frauen – Berta, Barbara, Violetta und Kalina. Zwischen den Frauen, Zeiten und Orten springt die Erzählung hin und her – dadurch bleibt es interessant, immer wieder werden Ereignisse andeutet, deren Bedeutung sich dann erst später erschließt. Es geht vor und zurück, von der Urgroßmutter zur Großmutter, dann zur Mutter und schließlich zu Kalina, der Ich-Erzählerin, über die zugleich aus allwissender Perspektive erzählt wird. Der Perspektivwechsel gelingt Bator ausgezeichnet, sie wechselt mühelos zwischen „Ich“ und „Kalina“, zum Teil innerhalb von wenigen Sätzen, ohne dass es künstlich oder aufgesetzt wirkt. Durch die Erzählweise wird immer wieder der Unterschied zwischen Erinnerung und Erzählung plausibel gemacht und den Lesenden vor Augen geführt, ohne dass es den Anschein hat, die Autorin möchte sich unbedingt in den inzwischen überpräsenten Autofiktionsdiskurs einschreiben. Die Erzählerin erklärt es besser selbst:

Ich selbst trete in dieser Geschichte selten auf, ich husche nur ab und zu im Hintergrund vorüber, mal in der dritten, mal in der ersten Person, die sich häufig überschneiden oder ineinanderfließen. Diejenige, die erzählt, und die jüngste meiner Hauptfiguren, Kalina Serce, sind ein und dieselbe Gestalt. Nur so gelingt es mir, die wenig gehaltvolle Existenz zu fassen, die ich bin, und sie mit Kalina zu verbinden, diesem mir kaum bekannten kleinen Mädchen, das auf einen Jungen namens Konrad wartet und sich nach Babcia Bunia sehnt.

Joanna Bator: Bitternis, S.15

Keine der Frauen hat wirklich freiwillig ein Kind bekommen, alle vier hängen sie Träumen und Idealen nach, die sich nicht erfüllen werden und die sie zum Teil auf kriminelle Abwege führen. Berta, die Tochter eines Fleischers, begleiten wir beim Leben auf dem Land, wo sie und ihr Vater gemeinsam die Wurst- und Fleischwaren für das nahe Sanatorium in Sokołowsko (deutsch Görbersdorf in Schlesien) herstellen. Ihre Liebe zu einem Händler hat Konsequenzen, Berta wird schwanger und ihre Tochter Barbara wird 1939 in der Waldenburger Haftanstalt geboren. Sie kommt in das Waisenhaus der Heiligen Barbara. Ihr Start ins Leben findet unter sehr schlechten Voraussetzungen statt, sie wächst während des Zweiten Weltkriegs unter dem strengen Regime der Nonnen auf, wird später adoptiert und zieht mit ihren Eltern in die Wohnung am Bergmannsplatz in Wałbrzych (deutsch Waldenburg). Dort spielen sich auch wesentliche Abschnitte im Leben ihrer Tochter Violetta und ihrer Enkelin Kalina ab.

Violetta blickt auf ein abgebrochenes Polonistikstudium, auf verschiedene Jobs und einen Reiseleiterlehrgang zurück. Sie hat ihr Leben lang das Gefühl, am falschen Ort zu sein – sie sehnt sich nach einem Leben, wie es in den Frauenzeitschriften beschrieben wird und möchte nirgends weniger sein als in der Wohnung am Bergmannsplatz, wo es sie jedoch immer wieder hinverschlägt. Kalina wächst bei ihrer Großmutter Barbara auf, ihre Mutter Violetta stattet den beiden anfangs nur Stippvisiten ab. Vor ihrem siebten Geburtstag verschwindet die Großmutter plötzlich und fortan muss Violetta ihren Mutterpflichten nachkommen, ob sie will oder nicht.

Im Vergleich zu Berta, Barbara und Kalina wird die Figur der Violetta als die unsympathischste gezeichnet oder zumindest aus einer größeren Distanz als die beiden anderen Frauen – sicherlich auch, da sie nun einmal die Mutter der Ich-Erzählerin Kalina ist. Violetta hat für die Wohnung, in der Kalina aufgewachsen ist, nur Flüche übrig, sie lackiert sich lieber in Ruhe die Nägel, statt auch nur ein kurzes Gespräch mit ihrer Tochter zu führen. Sie kann sich mit der Mutterrolle einfach nicht anfreunden. Dieselbe Ablehnung zeigt sie allerdings auch in Hinblick auf alle anderen Umstände ihres Lebens – sie lehnt sich gegen die provinzielle Stadt auf, sie ist gelangweilt von den wenig aufregenden Liebhabern, ihre Jobs sind auch nicht das, was sie sich vorstellt. Sie weiß aber auch nichts Besseres mit ihrem Leben anzufangen.

Sowie sich ihre Großmutter Berta durch die Lektüre von Liebesromanen der Illusion der Liebe zu einem Händler hingibt, ist Violetta zwischen der Desillusionierung im Sozialismus und der Traumfabrik des Kapitalismus hin- und hergerissen und kann sich, wie es scheint, auf gar keine Realität mehr einlassen. Mit der Figur der Violetta gelingt Bator eine Art weiblicher Don Quichotte der Liebesromane und Frauenzeitschriften. Violetta träumt davon, endlich eine tolle Karriere und ein aufregendes Leben im Ausland oder zumindest in der Hauptstadt zu beginnen. Ständig stellt sie Situationen her, die in ihrer Welt dazu bestimmt wären, dass sie einen erfoglreichen und gutaussehenden Ehemann kennenlernt und für immer mit ihm glücklich wird.

Kalina, ihre Tochter, steht ihr dabei nur im Weg. Sie – so erfährt man gleich am Anfang – versucht, die Familiengeschichte zu rekonstruieren und hat sich ein Haus in der Nähe von Sokołowsko gekauft, womit sie an den Ort zurückkehrt, den ihre Urgroßmutter Berta gut kannte.

Bator hüpft geschickt zwischen den verschiedenen Erzählsträngen hin und her und zeigt vier Frauen in ganz unterschiedlichen Kontexten. Alle vier eint, dass Männer zwar deren Leben ruinieren, aber sonst nur eine untergeordnete Rolle darin spielen. Für das Genre des Generationenromans ist es sicherlich noch nicht selbstverständlich, dass die Frauen hier die Hauptrolle spielen:

Eine Geschichte ohne Frauen ist für kaum jemanden ein Grund zur Beunruhigung; die Frauen werden schon irgendwo im Hintergrund wirken, in Küche und Hof, mit langweiligem Weiberkram beschäftigt. Bei einem Mangel an männlichen Akteuren muss es sich um einen besorgniserregenden Irrtum handeln. Als sei ein fehlender Mann ein Defizit. Genau das aber hat Tradition in unserer Familie, in der die Väter irgendwann einfach verschwunden sind, was sich auf die unterschiedlichste Weise und bisweilen auch unter Mitwirkung der Frauen abspielte.

Joanna Bator: Bitternis, S. 19f.

„Gorzko, gorzko“, so der Originaltitel, ist sicherlich kein „besorgniserregender Irrtum“, sondern ein vielschichtiger Roman, der eine Geschichte ohne männliche Helden erzählt, sich auf vier Frauen einlässt, in deren miteinander verflochtenes Leben eintaucht und dabei immer wieder überraschende Wendungen bereithält.

Joanna Bator: Bitternis, aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. Im Orignal: Gorzko, gorzko, erschienen 2020 bei Znak in Krakau.