Das Bild zeigt das Cover von Kim de l`Horizons Blutbuch, es ist in den Farben rot und blau gehalten. Vor blauem Hintergrund erscheinen zwei menschliche Figuren, deren Arme in Zweigen aufgehen.

Kim de l’Horizon: Blutbuch (Shortlist für den Deutschen Buchpreis)

Kim de l`Horizons Blutbuch ist 2022 beim Dumont Verlag erschienen, steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, ist bereits mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung 2022 ausgezeichnet worden und erzählt von einer Kindheit in der Schweiz, vom Aufwachsen in und mit der Natur, von komplexen Familienstrukturen und einem Coming-of-Age-Prozess. Ein nicht-binäres Ich schwankt zwischen Zugehörigkeit und Befreiung, die fortschreitende Demenz der Großmutter dient als Motiv, um sich mit der Familiengeschichte auseinanderzusetzten. Die Familienmitglieder werden nicht nur in ihrem Wirken auf das Kind dargestellt, sondern treten auch als vielschichtige Figuren in ihrer eigenen Verletzlichkeit in Erscheinung. Durch den kulturgeschichtlichen Ansatz, der die Thematik des Aufwachsens in einer zumindest nicht im klassisch-großstädtischen Sinne bürgerlichen Familie mit der Geschichte der Blutbuche verknüpft, gelingt es Kim de l`Horizon von einer Kindheit inmitten der Natur zu schreiben, die von dem Einkochen von Früchten, ländlichen Gerichten, dem Schlachten von Hühnern und dem Sitzen unter Bäumen geprägt ist, ohne in Naturromantik oder zynische Idyllenverachtung zu verfallen. 

Kim de l`Horizons Erzählperspektive wechselt immer wieder, bleibt aber deutlich an das erzählende Ich gebunden. Einmal ist es näher bei dem Kind, das es sich aus Erinnerungen, Erzählungen und Fiktionen zusammensetzt und bei dem früheren Kindeskörper, der in seiner Umgebung nach einem Ausdruck sucht, der nicht bereits von Herrschaftsdiskursen, Verboten oder schamhaften Abwehrmechanismen durchdrungen ist. Dann ist es wieder bei sich selbst, sechsundzwanzigjährig, schreibend, an einem Schreibtisch in Zürich sitzend, die Besuche bei der dementen Großmutter planend, die einen selbstgestrickten pinken Pullover bestellt hat, für den die Wolle aber viel zu hell ist. Ein Grund, die Besuche immer wieder hinauszuzögern. Nach den ersten beiden Kapiteln, die vor allem von der Kindheit erzählen, ringt das Erzähl-Ich im dritten Kapitel mit der Struktur der weiteren Kapitel, und findet dann zu einer zynisch-ironischen Stimme, die vom Coming-of-Age-Prozess in der Hipster:innen- und Schwulenkultur zwischen Zürich und Berlin erzählt, eine Zeit, die noch zu nah zu sein scheint, um nicht über sich selbst lachen zu müssen. Es geht um die „Crème de la Crème der Gen-Y-Hipsterei […], koschere Zimtschnecke[n], […], Leif-Randt-life-Clowns [… und um] wohlstandsverwahrlostes Weisssein, in dem es nur um Distinktion geht“ (Blutbuch, S. 122).

Und ich weiss, ich werfe jetzt all die Schwuletten in einen Topf und Verallgemeinerung gähn, und es ist eine zynische, aufgekratzte Erzählstimme, die ganz plötzlich und angestrengt popliterarisch über diesen Teil schwubuliert, und dafür entschuldige ich mich auch, echt, entsorrygung.

Blutbuch, S. 124

In den beiden folgenden Kapiteln verschiebt sich der Fokus nochmals, im vierten Teil werden von der Mutter gesammelte Lebensläufe von Frauen eingefügt, darunter Heiler:innen und Hexer:innen, der fünfte Teil wird in Briefen an die Großmutter erzählt, die auf Englisch wiedergegeben werden.

Anhand der Kulturgeschichte der Blutbuche, die nicht nur titelgebend und eine der prägendsten Erinnerungen an die Kindheit ist, wird eine Aufstiegsgeschichte anhand von kleineren Ungereimtheiten in der Familiengeschichten erzählt, die nicht zu dem an der Oberfläche stimmigen Narrativ zu passen scheinen. Warum hat der Urgroßvater eine Blutbuche in den Garten gesetzt, der eigentlich als Nutzgarten konzipiert war, dessen Ernte der Deckung des Familienunterhalts dienen sollte? Der Baum nahm nicht nur Platz für andere, nützlichere Pflanzen weg, sondern spendete auch viel zu viel Schatten. Während der Recherche nach diesem Detail, den das schreibende Ich unternimmt, als es im dritten Teil nicht so recht weiterkommt mit dem Erzählen und als das Gespräch mit der Großmutter aufgrund der Wolle in der falschen Farbe immer weiter hinausgezögert wird, entspinnt sich eine kulturgeschichtliche Annäherung an die Familiengeschichte, die sich an der Frage entzündet, warum sich der Großvater einen so teuren Baum in seinen Garten gesetzt hat.

… wie ich der Spur der Blutbuche gefolgt bin, wie ich das Netz durchforstet habe, die botanischen Gärten des deutschsprachigen Raumes abgegrast habe, die Deutsche Dendrologische Gesellschaft und die Gesellschaft Deutsches Arboretum geschröpft habe, Fachmenschen ausfindig gemacht und ihnen jede Unze Blutbuchenwissen ausgepresst habe und sogar mal zu Meer bin, um alles Material zum Garten zu durchforsten (seit sie unser altes Haus vermietet, hat sie alles von Urgrosspeer zu sich genommen, all die alten Werkzeuge, Quittungen, Fotos, Verzeichnisse).

Blutbuch, S. 134f.

Letztlich führt die Spur der Blutbuche – die sich als „cheapeste Rolex des 19. Jahrhunderts“ (S. 135) entpuppt – zu einer selbstkritischen Einordnung des erzählenden Ichs, das sich am Anfang klassenbewusst präsentiert („Wir sprachen nie über Politik oder Literatur oder die Klassengesellschaft oder Foucault oder darüber, dass Mutter die Matur auf dem zweiten Bildungsweg abbrach, als ich auf die Welt kam.“ S. 9f.), dann aber nach und nach über die eigene Distinktionsperformanz nachdenkt, die einerseits von einer Queerness geprägt ist, die auch „cool und edgy“ (139) ist, und andererseits durch den Bildungsaufstieg à la Eribon.

Was ich nicht checkte und was mein mit haufenweise Bourdieu & Eribon angefuttertes Ich jetzt checkt: Natürlich protzte ich mit anderen Dingen rum in dieser Zeit – meiner Bildung […]. Meine Ego-Aufspritzung waren die Meter an Foucault, Bourdieu und Butler, die ich in meinem Büchergestell präsentierte. Wir spuckten auf das ökonomische Kapital, aber leckten das kulturelle Kapital umso gieriger auf.

Blutbuch, S. 142f.

Das Protzen mit Zitaten und Referenzen an Autor:innen, die sich mit Klassismus, Gender und Queerness, aber auch mit Dekonstruktion und gesellschaftlich repressiven Diskursen auseinandergesetzt haben, wirkt in diesem Buch nie aufdringlich oder bildungsbürgerlich distinktiv, wahrscheinlich aufgrund des durchgängig selbstkritisch-reflexiven Zugangs. Auch sprachlich ist das Buch unangestrengt innovativ und anregend – so wird zum Beispiel „mensch“ statt „man“ benutzt, es werden unglaublich viele Anglizismen verwendet, es gibt in jedem Kapitel neue stilistische Annäherungen an die zu erzählende Geschichte. Eine sehr erfreuliche Nominierung für den Deutschen Buchpreis.    

Kim de l’Horizon: Blutbuch. Dumont 2022.

Ekphrasis und Fotografie im Familienroman der Gegenwart: Helena Adlers „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und Sandra Gugićs „Zorn und Stille“

Helena Adlers „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und Sandra Gugićs „Zorn und Stille“ haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam: Adler erzählt von einer Kindheit und Jugend auf einem Bauernhof, Gugić von einer erfolgreichen Fotografin, die sich früh von ihrer Familie emanzipiert, um ein selbstbestimmtes Leben in Berlin zu beginnen. Beide Texte bringen Distanz in das erzählte Familienleben. Diese wird nicht im Gewand psychologischer Motive den Protagonistinnen abgerungen, sondern durch künstlerische Verfahren bzw. durch Verweise auf Kunst hergestellt.

Helena Adler – so der Künstler_innenname der Absolventin eines Malerei-Studiums am Mozarteum und eines Psychologie- und Philosophie-Studiums an der Universität Salzburg – beginnt ihren Roman mit folgender Gebrauchsanweisung: „Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es.“ Davor aber noch, in der Kapitelüberschrift, offenbart sich ihr künstlerisch-schriftstellerisches Verfahren: „Home Sweet Home“ ist das erste von 21 Bildzitaten, die den Kapiteln ihre Namen geben. Zugleich gibt der erste Titel bereits Einblick in die Verdoppelung der Bedeutungen, die sich durch den gleichzeitigen Einsatz von Bildbeschreibung und literarischem Schreiben ergibt. „Home Sweet Home“ erinnert zunächst an Kissenaufdrucke in Concept-Stores und greift damit mögliche Leseerwartungen auf, die an einen bäuerlichen Familienroman gestellt werden könnten. In Kontrast dazu zitiert die Kapitelüberschrift zugleich eine Installation aus Gasmasken, die der Künstler Arman 1960 geschaffen hat. Adler gelingt es auf beeindruckende Weise, durch die Bildtitel und gezielt eingesetzte ekphrastische Elemente eine zweite Ebene in den Text einzufügen, die an keiner Stelle überfrachtend wirkt. Der Text ist auch ohne Kenntnis der künstlerischen Werke, die ihn strukturieren, lesbar.

Durch den Bezug auf Arman verweist Adler indirekt schon gleich zu Beginn auf das Verfahren der Akkumulation, denn mit diesem Begriff bezeichnete der zitierte Künstler seine Installationen von gleichartigen Dingen. Dies wiederum führt zu dem den Text konstituierenden Verfahren – zur „Ekphrasis“, der Beschreibung von Kunstwerken in Worten.  

Die Akkumulation wird in Aristoteles‘ Rhetorik als ein Mittel beschrieben, um die Wichtigkeit einer Sache zu betonen oder gar zu übertreiben. Wenn ein Ereignis in vielen Einzelheiten dargestellt wird, erscheint es dem Publikum auch wichtig, da die Anhäufung von Einzelheiten eine größere Bedeutung erzeugt als eine Zusammenfassung. Aus der Begriffsgeschichte der Ekphrasis lassen sich auch Perspektiven auf die Doppelfunktion von Adler als Künstlerin und Autorin sowie auf ihre Verwendung von Bildzitaten und Bildbeschreibungen ableiten. Der Maler dient bei Platon und bei Aristoteles als ein prägnantes Beispiel für mimetische Praxis. Lessing betont in seinem „Laokoon“ (1766) jedoch den prinzipiellen Unterschied zwischen Malerei und Dichtung, der darin besteht, dass die Malerei im Raum, die Poesie jedoch in der Zeit existiert. Kennzeichnend für erstere sei daher ein Nebeneinander, für letztere eine Aufeinanderfolge. Sowohl die Kunst- als auch die Literaturgeschichte hat eine Reihe von Gegenbeispielen für diese Auffassung hervorgebracht. Helena Adler zeigt eindrucksvoll, wie gerade das Nebeneinander – im Gegensatz zu den zeitlichen Abfolgen, die den (psychologischen) Familienromans prägen – von (Bild-)Beschreibungen einen Text strukturieren kann.

Statt idyllischer Schilderungen des Landlebens zeigt Adler die Gewalt und Kälte traditioneller dörflicher Familienbeziehungen, die Strenge katholischer Sprach- und Denkmuster sowie ganz konkrete Szenen normalisierter Grausamkeit auf dem Bauernhof, so etwa Tiere bei der Schlachtung. „Noch bevor der Vater am Morgen kräht, springe ich aus dem Bett, sprinte zur Stallkammer und reiße die Tür auf. Eine schwarzrote Lache erstreckt sich über den Estrichboden wie ein Rohrschachbild. Die Mutter hockt auf einem Schemel, mit dem Rücken zur Tür, und ist gerade dabei, einen riesigen Kadaver, der von der Decke herunterhängt, auszuweiden.“ Im Unterschied zu Elfriede Jelinek oder Thomas Bernhard, die mit zynischem Blick auf die Provinz schauen, gibt es bei Adler neben den abgeklärten Beschreibungen von Gewalt und Kälte zwischen den Geschwistern und Dorfbewohner_innen immer auch Stellen, in denen der Bauernhof als Zuhause dargestellt wird.

Das Gefühlsrepertoire enthält parallel zu der Angst, etwa vor den Zwillingsschwestern, auch Zuneigung, vor allem väterlicher- und großväterlicherseits. „Jeden Morgen und jeden Abend nach der Stallarbeit ist er stolz durchs Sommerfeld gestiefelt, Jahrzehnte hindurch hat er seine dickhäutigen Handflächen über die Ährenspitzen des Roggens gehalten. Er hat seine Wiesen gestreichelt. Manchmal hat er mich mitgenommen. Meist hat er nicht geredet. Nur einmal hielt er inne und die Luft an. »Hörst du das Feld atmen?«, hat er mich zufrieden gefragt. Und ich habe mich immer beschützt gefühlt, den Vater geliebt wie eine Mutter, wie niemanden sonst auf der Welt, diesen vollbärtigen Räuberhauptmann, den verwilderten Vagabund mit dem Kinderherzen in seiner grünen Latzhose, das immer nur für uns Töchter schlug.“

Sandra Gugić nutzt Bilder, genauer Fotografien, um der von ihr erzählten Familiengeschichte eine abstrakte Ebene hinzuzufügen, wodurch das Erzählte selbst auch in Bezug auf das Medium Fotografie und das damit zusammenhängende Vokabular – Abzug, Ausschnitt, Erinnerung, Unmittelbarkeit, Transportierbarkeit, Zeitlichkeit usw. – reflektiert wird. Die Ich-Erzählerin Biljana Banadinović ist früh von zuhause ausgezogen, um der Enge der Familie zu entkommen. Zurück lässt sie nicht nur die Eltern, die als Gastarbeiter_innen nach Österreich gekommen sind und aufgrund von Schichtarbeit kaum Zeit hatten, sich um die Kinder zu kümmern, sondern auch ihren kleinen Bruder, mit dem sie sehr viel Zeit verbracht hat und zu dem sie eine enge Beziehung hatte. Nach dem Auszug meldet sie sich nicht mehr, um sich vor der Familie zu schützen.

Stattdessen führt sie ein selbstbestimmtes Leben als Fotografin, stellt zuerst in Berlin und dann in Wien aus. Stärker als bei Adler stehen hier die Geschichten der einzelnen Familienmitglieder im Fokus. Erzählt wird zuerst von der erfolgreichen und bewusst alleinlebenden, ständig reisenden Billy Bana (so ihr Künster_innenname), im zweiten Teil von der Mutter Azra und im dritten von Vater Sima. Abwesend bleibt der kleine Bruder Jonas Neven, der eines Tages spurlos aus der Familie verschwand. Nach einigen Jahren, die auf den Kontaktabbruch durch Billy folgen, taucht er eines Tages spontan nach einer ihrer Vernissagen bei ihr auf, um sie mit dem von der Mutter gekochten (heimlich) mitgebrachten Familienessen wieder an die alte Bindung zwischen den Geschwistern zu erinnern. Von den gemeinsam verbrachten Tagen bleiben Fotografien, die Billy von sich und dem Bruder gemacht hat und die sie ihm zum Abschied mit der Bitte mitgibt, darauf Notizen auf seinen Reisen zu machen.

Die Kamera spielt nicht nur eine wichtige Rolle im Leben der Künstlerin, sie stellt auch die Verbindung zum Vater her, der seinerseits eine Leica besaß, mit der er früher Familienszenen fotografierte und die er später Biljana schenken sollte. Die Fotografien sind nicht nur wichtig, weil sie Billy Bana künstlerischen Erfolg und ein freies Leben ermöglichen, sondern sie werden auch durchaus in der Tradition postjugoslawischer Erinnerungstexte – so etwa bei Dubravka Ugrešić oder Daša Drndić – als Medien eingesetzt, die eine Reflexion über vergangene Zeiten ermöglichen und anders als Erzählungen, frühere Momente unmittelbar evozieren. Der fotografische Diskurs wird hier aber nicht im Sinne von Roland Barthes aufgegriffen – in dessen Essay über die Betrachtung der Fotografien seiner Mutter geht es gerade darum, dass das Bild die Präsenz des Augenblicks der Aufnahme hervorruft, der sich tatsächlich so vor der Linse zugetragen hat. Die Fotografien dienen hier eher als Ausdruck der Sprachlosigkeit in einer Familie, in der es nur mühsam gelingt, Geschichten zu den Szenen auf den Fotos zu erinnern.

Billy Bana äußert in ihren Interviews ständig Variationen des Satzes, dass jede und jeder seine eigene Wahrheit hat. Dieses Nebeneinander von Perspektiven führt auf meisterhafte Weise Bernadine Evaristos „Girl, Women, Other“ vor – dort allerdings ist den Lesenden zumeist nicht schon zu Beginn der jeweiligen Abschnitte klar, wie die Person, deren Perspektive wiedergegeben wird, sich zu den anderen verhält. Durch die anders perspektivierte Erzählung lässt sich nachvollziehen, dass die Konflikte der einen Person ganz andere sein können als die der anderen und dass es so etwas wie einen objektivierbaren Familienkonflikt vielleicht gar nicht geben kann.

Sandra Gugić möchte vielleicht eine ähnliche Wirkung erzielen: Auf die Sicht von Billy Bana folgt die Sicht von Azra und Sima, erzählt wird nun aber nicht mehr aus der Ich-Perspektive und es werden auch Details aus dem Leben der Eltern wiedergegeben, die Biljana der Logik der Erzählung folgend kaum wissen kann. Es fragt sich demnach, wer diese Geschichte(n) eigentlich erzählt. Ein_e personelle_r Erzähler_in, die Billy Bana als Ich-Erzählerin ablöst? Möglich. Nur fragt sich, warum die Erzählperspektive gerade in der wichtigen Frage, wer die Geschichte dieser Familie eigentlich erzählt, so unentschieden bleibt. Eine allwissende Erzählstimme, die auch Billys Leben in eine Reihe mit denen ihrer Eltern stellen würde, scheint aus Gründen der Ähnlichkeit mit dem Familienroman des 19. Jahrhunderts zu banal. Eine Imagination der Lebensgeschichten der Eltern aus Sicht der Tochter – als die sich die beiden Kapitel nur mit viel Wohlwollen interpretieren ließen – bliebe wiederum aufgrund der ständig geforderten und durch das Nebeneinander der drei Erzählungen durchaus auch eingelösten Gleichberechtigung der Sichtweisen letztlich ebenso unbefriedigend. Der Kunstgriff, die verschiedenen Perspektiven auf die durch die Familie verbundenen, aber doch sehr unterschiedlichen Leben durch den Wechsel der Erzählperspektive – diese Strategie wird im letzten Kapitel noch gesteigert, da in Kursivschrift die Notizen des Bruders auf den Rückseiten der Fotografien von Billy wiedergegeben werden – als je eigene Wahrheiten darzustellen, kann allerdings auch dahingehend gedeutet werden, dass es hier eigentlich um etwas anderes geht. „Zorn und Stille“, das titelgebende Gefühl und der die Familie beherrschende Zustand, verdecken letztlich die nicht artikulierte Scham, als gefeierte Künstlerin ein Kind von Gastarbeitenden zu sein.

Besonders eine Szene am Schluss legt eine solche Deutung nahe, denn darin zeigt sich, wie wenig sich die Tochter eigentlich für das Leben der Mutter interessiert, wie wenig sie sich als die Person, die sie geworden ist, dafür interessieren kann. Die Ich-Erzählerin verbringt anlässlich des Todes ihres Vaters einige Tage mit ihrer Mutter in Belgrad, dabei spielt sie ihr ein Video von Marina Abramovićs „Balkan Baroque“ vor. Die Performance-Künstlerin schrubbt darin Rinderknochen, um auf das Grauen der Kriege im zerfallenen Jugoslawien hinzuweisen. Im anschließenden Gespräch, in dem die Tochter versucht, die Mutter für die Kunst einzunehmen, antwortet diese ihr als praktizierende Reinigungskraft: „Aber ich könnte ihr zeigen, wie sie die Knochen schneller sauber bekommt.“  

Während bei Gugić eine Annäherung der Familie undenkbar bleibt, sind Konflikte zwischen den Personen bei Adler gar nicht das Thema, sie versteht sie eher als strukturelle Grundlage von Familienleben im Allgemeinen und im Besonderen auf dem Land. Azra und Sima, die Eltern der Protagonistin von Gugićs Roman, versuchen sich von den ländlichen Strukturen, der damit zusammenhängenden Gewalt, den kollektiven Erwartungen und der Ablehnung jedes abweichenden Verhaltens zu emanzipieren, finden aber wegen der Arbeit und den Kindern kaum Zeit dazu. Der Vater der Ich-Erzählerin bei Adler entsagt den Erwartungen der Leute vollends, dennoch – so Adlers klare Analyse der gesellschaftlichen Strukturen – entkommt die Familie diesen Bewertungen nicht. Auch bei Gugić wird trotz des Beharrens der Erzählerin darauf, dass sie ihr Leben frei und selbstgewählt ohne jegliche Bindung gestaltet, klar, dass sie sich der Abwesenheit des Bruders, der verschollen bleibt, nicht entziehen kann. Gelungen ist in beiden Texten die Vermeidung des psychologischen Blicks. Bei Adler geschieht dies zugunsten der Verfremdung durch die Bildbeschreibung als künstlerisches Verfahren, bei Gugić durch die Ersetzung der Person Biljana Banadinović, die das Produkt einer Familie ist, durch die Künstlerin Billy Bana, die ihre Freiheit und Selbstbestimmung der Abgrenzung von der eigenen Familie und Vergangenheit abringt. 

Literatur

Helena Adler: Die Infantin trägt den Scheitel links. Salzburg und Wien: Jung und Jung 2020.

Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.

Bernadine Evaristo: Girl, Women, Other. London: Hamish Hamilton 2019.

Sandra Gugić: Zorn und Stille. Hamburg: Hoffmann und Campe 2020.

Albert Halsall: Beschreibung. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Online (1992). Berlin, Boston: De Gruyter. Zugriff am 23.12.2020