Bilder bauen, Bulimie als Metapher und andere Stilübungen: Yade Yasemin Önder

Dass Önder es ernst meint mit der Literatur, wird gleich auf der ersten Seite klar. Ihr Text beginnt ekphrastisch mit folgendem Bild:

An einem Tag ein Jahr nach Tschernobyl wurde ich auf einer Wiese geboren. Geschrien haben muss ich lang, und dunkel war meine Stimme schon bei der Geburt, sagte man mir. Auf die Wiese hat mein Vater eine Dreizimmerwohnung gebaut und meine Mutter bestand nicht auf einer Badewanne. Die Gegenstände stellten wir auf Grashalme und Moos, und das Wetter tat sein Übriges: Ausgebleicht waren alle von der Witterung, vor allem die aus Holz. Die Füße faulten sicherlich, doch das war uns egal. Egal war aber nicht, der Herd kam zu spät, es war schon Dezember, erst dann konnte die Milch, die nicht von meiner Mutter stammte, in einem kleinen roten Töpfchen erhitzt werden. Das schmeckte mir, dann grinste ich, und mein Vater steckte mir einen Grashalm in den zahnlosen Mund, und meine Mutter drückte auf den Polaroidknopf, und fertig war unsere Dreizimmerwohnung im Park.

Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2022.

Önder entwickelt ein Bild – eine Wohnung, die auf einer Wiese gebaut wird, vom Familienvater für die Mutter und das Kind. Die Mutter drückt zum Abschluss auf einen Polaroidknopf. Dadurch wird die Szene nun explizit zum Bild gemacht, allerdings zu einem, das noch zu entwickeln ist. Das Bild wird dadurch vervielfacht, der Text ist von Beginn an selbstreferenziell. Es gibt das Bild der Wohnung, die vom Vater aufgebaut wird. Die Betrachterinstanz des Bildes ist die Ich-Erzählerin im Moment ihrer Geburt. Die Mutter schließlich macht ein Bild von dem Bild – ein Polaroid, d.h. eines, das direkt entwickelt und damit materialisiert wird. In der anschließenden Szene betrachtet die erwachsene Tochter dieses Bild. Die Leser:innen haben es somit mit drei Bildern zu tun, die von den drei Figuren (Kind, Vater, Mutter) geschaffen werden. Die synästhetische Wirkung der ekphrastischen Beschreibung und das surreale Element (das Bauen der Wohnung auf einer Wiese), bewirken, dass sich von Anfang an ein Rahmen zwischen Realität, Phantasie, Traum und Kunst aufspannt.

Nicht nur, dass dieser erste Absatz mit der rhetorischen Form der Ekphrasis aufwartet und Selbstreferentialität den Beginn des Textes markiert (der Text beginnt mit der Geburt der Ich-Erzählerin, die ein Bild beschreibt), er enthält zugleich auch allerlei intertextuelle Anspielungen. Der Vater baut eine Art Puppenheim – die Referenz auf Ibsens Theaterstück „Nora oder Ein Puppenheim“ gelingt auch ohne direkte Bezugnahme, die Enge und das Gefühl des Eingesperrtseins werden im Bild einer vom Vater gebauten Wohnung auf einer Wiese bereits deutlich. Ibsens Protagonistin Nora widersetzt sich den Geschlechterzuschreibungen der damaligen Zeit und versucht schließlich, daraus ausbrechen.

In einer der folgenden Passagen wird Hannelore Kohl als „unsere Nachbarin, die damals mit ihrem dicken Mann neben uns einzog“ (ebd. 6) eingeführt und damit eine typisch patriarchale Paarkonstellation. Die Anspielung auf die Kohls evoziert einerseits die gesellschaftspolitische Stimmung in den 80er und 90er Jahren in der Bundesrepublik während Helmut Kohls 16-jähriger Kanzlerschaft. Andererseits wird durch die Betonung des Gewichts des Mannes, das sowohl bei Kohl als auch bei dem Vater der Protagonistin eine Rolle spielt, das Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau im wortwörtlichen Sinne besonders sichtbar gemacht. Das öffentliche Bild von Hannelore Kohl ist nicht nur das der perfekten Ehefrau und Mutter, sondern auch das einer von Gewalterfahrung und Krankheit gezeichneten Frau, die zuletzt an einer Lichtallergie litt, die es ihr unmöglich machte, bei Tageslicht das Haus zu verlassen.

Krankheit ist ein weiteres Motiv, das Önders Debütroman prägt. Das extreme Übergewicht des Vaters wird als Krankheit diagnostiziert – dem wird innerhalb der Erzählung die Bulimie der Tochter gegenübergestellt. Das bulimische Verhalten der Ich-Erzählerin bildet einen auffälligen Kontrast zu dem übergewichtigen Vater. Das Thema Bulimie ist in der Gegenwartsliteratur durchaus präsent, so etwa in Lana Lux‘ Jägerin und Sammlerin oder in Sofi Oksanens Stalins Kühe. Bulimie wird bei Önder jedoch nicht nur psychologisch als eine sich in der Pubertät entwickelnde Erkrankung einer jungen Frau beschrieben, sondern auch auf die Ebene struktureller Geschlechterverhältnisse gehoben. Darauf weist nicht nur die Polarisierung zwischen dem übergewichtigen Vater und der untergewichtigen Tochter hin, sondern auch die Anspielung auf Helmut Kohl als erfolgreichem dicken Mann und dessen vorbildlicher, aber kranker Ehefrau Hannelore. Dies nur als Gegenwartsbezug – als Verweis auf patriarchale Konstellationen in der westdeutschen Gesellschaft – zu lesen, greift jedoch zu kurz.

Önders Roman arbeitet sich auch an der Frage ab, wofür Bulimie als Metapher steht. In Susan Sontags Essay Krankheit als Metapher, in der sich die amerikanische Essayistin mit (dem auch bei ihr diagnostizierten) Krebs auseinandersetzt, werden die Metaphern, die in Zusammenhang mit Krebs und mit Tuberkulose gebraucht werden, analysiert (in einem Folgeessay beschäftigt Sontag sich auch mit Aids). Während Krebs von Sontag als „eine Krankheit des Mittelstandslebens, eine mit Überfluß, mit Exzeß assoziierte Erkrankung“ (Sontag: 17) beschrieben wird, werde die Tuberkulose als „eine Krankheit der Armut und Entbehrung“ (17) imaginiert. Sontag trägt in ihrem Essay verschiedene Vorstellungen über die beiden Krankheiten zusammen, sie bezieht sich dabei auf medizinische, literarische und psychologische Diskurse.

In einer Passage stellt sie das Bild der Tuberkulosekranken, die sie später mit dem Leben der Boheme in Verbindung bringen wird, den erfolgreichen Männern des 19. Jahrhunderts gegenüber:

Viele der literarischen und erotischen Verhaltensweisen, die als romantischer Schmerz bekannt sind, stammen von der Tuberkulose und ihren Umformungen durch die Metapher. Der Schmerz wurde romantisch in einer stilisierten Darstellung der einleitenden Symptome der Krankheit (beispielsweise wird Entkräftung in Sehnsucht umgewandelt), und der tatsächliche Schmerz wurde einfach ausgespart. Abgezehrte, hohlbrüstige junge Frauen und bleiche, rachitische junge Männer wetteiferten miteinander als Kandidaten für diese (zu jener Zeit) fast völlig unheilbare, entkräftende, wirklich schreckliche Krankheit. „Als ich jung war“, schrieb Theophile Gautier, „konnte ich als Lyriker niemanden akzeptieren, der mehr als 99 Pfund wog.“ (…) Nach und nach wurde die tuberkulöse Erscheinung, die eine anziehende Verletzlichkeit, eine überlegene Sensibilität symbolisierte, in zunehmendem Maße zum idealen Aussehen der Frauen – während bedeutende Männer des mittleren und späten 19. Jahrhunderts dick wurden, Industrieimperien gründeten, Hunderte von Romanen schrieben, Kriege führten und Kontinente plünderten.

Susan Sontag: Krankheit als Metapher/Aids und seine Metaphern. Frankfurt a.M.: Fischer 2003 (1977/78 und 1988/89).

Yade Yasemin Önders Debütroman lädt zu Interpretationen ein – nicht nur, weil die geschilderten Szenen von Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit geprägt sind und es oft zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Realität, Phantasie und Unbewusstem kommt. Sondern vor allem durch die explizite Literarizität, die sich in intertextuellen Verweisen, Metaphern und Motiven, aber auch in der strengen Form zeigt, die den ganzen Text durchzieht. Es gibt verschiedene Variationen ein- und derselben Szene, Listen, Wiederholungen und Aufzählungen. In den Verweisen nimmt Önder Bezug auf Raymond Queneaus Stilübungen.

Raymond Queneau: Stilübungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968 (1947).

Önder arbeitet sehr bewusst mit der Sprache, sie setzt Reime und Rhythmen sowie weitere Stilübungen ein, wodurch immer wieder Interpretationsspielräume eröffnet werden, die weniger auf die Handlung selbst bezogen sind, sondern vielmehr aus dem Text heraus, hin zu anderen literarischen und essayistischen Werken führen und auch auf gesellschaftspolitische Debatten in intersektionaler Dimension Bezug nehmen. Was für ein Buch!

Ekphrasis und Fotografie im Familienroman der Gegenwart: Helena Adlers „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und Sandra Gugićs „Zorn und Stille“

Helena Adlers „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und Sandra Gugićs „Zorn und Stille“ haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam: Adler erzählt von einer Kindheit und Jugend auf einem Bauernhof, Gugić von einer erfolgreichen Fotografin, die sich früh von ihrer Familie emanzipiert, um ein selbstbestimmtes Leben in Berlin zu beginnen. Beide Texte bringen Distanz in das erzählte Familienleben. Diese wird nicht im Gewand psychologischer Motive den Protagonistinnen abgerungen, sondern durch künstlerische Verfahren bzw. durch Verweise auf Kunst hergestellt.

Helena Adler – so der Künstler_innenname der Absolventin eines Malerei-Studiums am Mozarteum und eines Psychologie- und Philosophie-Studiums an der Universität Salzburg – beginnt ihren Roman mit folgender Gebrauchsanweisung: „Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es.“ Davor aber noch, in der Kapitelüberschrift, offenbart sich ihr künstlerisch-schriftstellerisches Verfahren: „Home Sweet Home“ ist das erste von 21 Bildzitaten, die den Kapiteln ihre Namen geben. Zugleich gibt der erste Titel bereits Einblick in die Verdoppelung der Bedeutungen, die sich durch den gleichzeitigen Einsatz von Bildbeschreibung und literarischem Schreiben ergibt. „Home Sweet Home“ erinnert zunächst an Kissenaufdrucke in Concept-Stores und greift damit mögliche Leseerwartungen auf, die an einen bäuerlichen Familienroman gestellt werden könnten. In Kontrast dazu zitiert die Kapitelüberschrift zugleich eine Installation aus Gasmasken, die der Künstler Arman 1960 geschaffen hat. Adler gelingt es auf beeindruckende Weise, durch die Bildtitel und gezielt eingesetzte ekphrastische Elemente eine zweite Ebene in den Text einzufügen, die an keiner Stelle überfrachtend wirkt. Der Text ist auch ohne Kenntnis der künstlerischen Werke, die ihn strukturieren, lesbar.

Durch den Bezug auf Arman verweist Adler indirekt schon gleich zu Beginn auf das Verfahren der Akkumulation, denn mit diesem Begriff bezeichnete der zitierte Künstler seine Installationen von gleichartigen Dingen. Dies wiederum führt zu dem den Text konstituierenden Verfahren – zur „Ekphrasis“, der Beschreibung von Kunstwerken in Worten.  

Die Akkumulation wird in Aristoteles‘ Rhetorik als ein Mittel beschrieben, um die Wichtigkeit einer Sache zu betonen oder gar zu übertreiben. Wenn ein Ereignis in vielen Einzelheiten dargestellt wird, erscheint es dem Publikum auch wichtig, da die Anhäufung von Einzelheiten eine größere Bedeutung erzeugt als eine Zusammenfassung. Aus der Begriffsgeschichte der Ekphrasis lassen sich auch Perspektiven auf die Doppelfunktion von Adler als Künstlerin und Autorin sowie auf ihre Verwendung von Bildzitaten und Bildbeschreibungen ableiten. Der Maler dient bei Platon und bei Aristoteles als ein prägnantes Beispiel für mimetische Praxis. Lessing betont in seinem „Laokoon“ (1766) jedoch den prinzipiellen Unterschied zwischen Malerei und Dichtung, der darin besteht, dass die Malerei im Raum, die Poesie jedoch in der Zeit existiert. Kennzeichnend für erstere sei daher ein Nebeneinander, für letztere eine Aufeinanderfolge. Sowohl die Kunst- als auch die Literaturgeschichte hat eine Reihe von Gegenbeispielen für diese Auffassung hervorgebracht. Helena Adler zeigt eindrucksvoll, wie gerade das Nebeneinander – im Gegensatz zu den zeitlichen Abfolgen, die den (psychologischen) Familienromans prägen – von (Bild-)Beschreibungen einen Text strukturieren kann.

Statt idyllischer Schilderungen des Landlebens zeigt Adler die Gewalt und Kälte traditioneller dörflicher Familienbeziehungen, die Strenge katholischer Sprach- und Denkmuster sowie ganz konkrete Szenen normalisierter Grausamkeit auf dem Bauernhof, so etwa Tiere bei der Schlachtung. „Noch bevor der Vater am Morgen kräht, springe ich aus dem Bett, sprinte zur Stallkammer und reiße die Tür auf. Eine schwarzrote Lache erstreckt sich über den Estrichboden wie ein Rohrschachbild. Die Mutter hockt auf einem Schemel, mit dem Rücken zur Tür, und ist gerade dabei, einen riesigen Kadaver, der von der Decke herunterhängt, auszuweiden.“ Im Unterschied zu Elfriede Jelinek oder Thomas Bernhard, die mit zynischem Blick auf die Provinz schauen, gibt es bei Adler neben den abgeklärten Beschreibungen von Gewalt und Kälte zwischen den Geschwistern und Dorfbewohner_innen immer auch Stellen, in denen der Bauernhof als Zuhause dargestellt wird.

Das Gefühlsrepertoire enthält parallel zu der Angst, etwa vor den Zwillingsschwestern, auch Zuneigung, vor allem väterlicher- und großväterlicherseits. „Jeden Morgen und jeden Abend nach der Stallarbeit ist er stolz durchs Sommerfeld gestiefelt, Jahrzehnte hindurch hat er seine dickhäutigen Handflächen über die Ährenspitzen des Roggens gehalten. Er hat seine Wiesen gestreichelt. Manchmal hat er mich mitgenommen. Meist hat er nicht geredet. Nur einmal hielt er inne und die Luft an. »Hörst du das Feld atmen?«, hat er mich zufrieden gefragt. Und ich habe mich immer beschützt gefühlt, den Vater geliebt wie eine Mutter, wie niemanden sonst auf der Welt, diesen vollbärtigen Räuberhauptmann, den verwilderten Vagabund mit dem Kinderherzen in seiner grünen Latzhose, das immer nur für uns Töchter schlug.“

Sandra Gugić nutzt Bilder, genauer Fotografien, um der von ihr erzählten Familiengeschichte eine abstrakte Ebene hinzuzufügen, wodurch das Erzählte selbst auch in Bezug auf das Medium Fotografie und das damit zusammenhängende Vokabular – Abzug, Ausschnitt, Erinnerung, Unmittelbarkeit, Transportierbarkeit, Zeitlichkeit usw. – reflektiert wird. Die Ich-Erzählerin Biljana Banadinović ist früh von zuhause ausgezogen, um der Enge der Familie zu entkommen. Zurück lässt sie nicht nur die Eltern, die als Gastarbeiter_innen nach Österreich gekommen sind und aufgrund von Schichtarbeit kaum Zeit hatten, sich um die Kinder zu kümmern, sondern auch ihren kleinen Bruder, mit dem sie sehr viel Zeit verbracht hat und zu dem sie eine enge Beziehung hatte. Nach dem Auszug meldet sie sich nicht mehr, um sich vor der Familie zu schützen.

Stattdessen führt sie ein selbstbestimmtes Leben als Fotografin, stellt zuerst in Berlin und dann in Wien aus. Stärker als bei Adler stehen hier die Geschichten der einzelnen Familienmitglieder im Fokus. Erzählt wird zuerst von der erfolgreichen und bewusst alleinlebenden, ständig reisenden Billy Bana (so ihr Künster_innenname), im zweiten Teil von der Mutter Azra und im dritten von Vater Sima. Abwesend bleibt der kleine Bruder Jonas Neven, der eines Tages spurlos aus der Familie verschwand. Nach einigen Jahren, die auf den Kontaktabbruch durch Billy folgen, taucht er eines Tages spontan nach einer ihrer Vernissagen bei ihr auf, um sie mit dem von der Mutter gekochten (heimlich) mitgebrachten Familienessen wieder an die alte Bindung zwischen den Geschwistern zu erinnern. Von den gemeinsam verbrachten Tagen bleiben Fotografien, die Billy von sich und dem Bruder gemacht hat und die sie ihm zum Abschied mit der Bitte mitgibt, darauf Notizen auf seinen Reisen zu machen.

Die Kamera spielt nicht nur eine wichtige Rolle im Leben der Künstlerin, sie stellt auch die Verbindung zum Vater her, der seinerseits eine Leica besaß, mit der er früher Familienszenen fotografierte und die er später Biljana schenken sollte. Die Fotografien sind nicht nur wichtig, weil sie Billy Bana künstlerischen Erfolg und ein freies Leben ermöglichen, sondern sie werden auch durchaus in der Tradition postjugoslawischer Erinnerungstexte – so etwa bei Dubravka Ugrešić oder Daša Drndić – als Medien eingesetzt, die eine Reflexion über vergangene Zeiten ermöglichen und anders als Erzählungen, frühere Momente unmittelbar evozieren. Der fotografische Diskurs wird hier aber nicht im Sinne von Roland Barthes aufgegriffen – in dessen Essay über die Betrachtung der Fotografien seiner Mutter geht es gerade darum, dass das Bild die Präsenz des Augenblicks der Aufnahme hervorruft, der sich tatsächlich so vor der Linse zugetragen hat. Die Fotografien dienen hier eher als Ausdruck der Sprachlosigkeit in einer Familie, in der es nur mühsam gelingt, Geschichten zu den Szenen auf den Fotos zu erinnern.

Billy Bana äußert in ihren Interviews ständig Variationen des Satzes, dass jede und jeder seine eigene Wahrheit hat. Dieses Nebeneinander von Perspektiven führt auf meisterhafte Weise Bernadine Evaristos „Girl, Women, Other“ vor – dort allerdings ist den Lesenden zumeist nicht schon zu Beginn der jeweiligen Abschnitte klar, wie die Person, deren Perspektive wiedergegeben wird, sich zu den anderen verhält. Durch die anders perspektivierte Erzählung lässt sich nachvollziehen, dass die Konflikte der einen Person ganz andere sein können als die der anderen und dass es so etwas wie einen objektivierbaren Familienkonflikt vielleicht gar nicht geben kann.

Sandra Gugić möchte vielleicht eine ähnliche Wirkung erzielen: Auf die Sicht von Billy Bana folgt die Sicht von Azra und Sima, erzählt wird nun aber nicht mehr aus der Ich-Perspektive und es werden auch Details aus dem Leben der Eltern wiedergegeben, die Biljana der Logik der Erzählung folgend kaum wissen kann. Es fragt sich demnach, wer diese Geschichte(n) eigentlich erzählt. Ein_e personelle_r Erzähler_in, die Billy Bana als Ich-Erzählerin ablöst? Möglich. Nur fragt sich, warum die Erzählperspektive gerade in der wichtigen Frage, wer die Geschichte dieser Familie eigentlich erzählt, so unentschieden bleibt. Eine allwissende Erzählstimme, die auch Billys Leben in eine Reihe mit denen ihrer Eltern stellen würde, scheint aus Gründen der Ähnlichkeit mit dem Familienroman des 19. Jahrhunderts zu banal. Eine Imagination der Lebensgeschichten der Eltern aus Sicht der Tochter – als die sich die beiden Kapitel nur mit viel Wohlwollen interpretieren ließen – bliebe wiederum aufgrund der ständig geforderten und durch das Nebeneinander der drei Erzählungen durchaus auch eingelösten Gleichberechtigung der Sichtweisen letztlich ebenso unbefriedigend. Der Kunstgriff, die verschiedenen Perspektiven auf die durch die Familie verbundenen, aber doch sehr unterschiedlichen Leben durch den Wechsel der Erzählperspektive – diese Strategie wird im letzten Kapitel noch gesteigert, da in Kursivschrift die Notizen des Bruders auf den Rückseiten der Fotografien von Billy wiedergegeben werden – als je eigene Wahrheiten darzustellen, kann allerdings auch dahingehend gedeutet werden, dass es hier eigentlich um etwas anderes geht. „Zorn und Stille“, das titelgebende Gefühl und der die Familie beherrschende Zustand, verdecken letztlich die nicht artikulierte Scham, als gefeierte Künstlerin ein Kind von Gastarbeitenden zu sein.

Besonders eine Szene am Schluss legt eine solche Deutung nahe, denn darin zeigt sich, wie wenig sich die Tochter eigentlich für das Leben der Mutter interessiert, wie wenig sie sich als die Person, die sie geworden ist, dafür interessieren kann. Die Ich-Erzählerin verbringt anlässlich des Todes ihres Vaters einige Tage mit ihrer Mutter in Belgrad, dabei spielt sie ihr ein Video von Marina Abramovićs „Balkan Baroque“ vor. Die Performance-Künstlerin schrubbt darin Rinderknochen, um auf das Grauen der Kriege im zerfallenen Jugoslawien hinzuweisen. Im anschließenden Gespräch, in dem die Tochter versucht, die Mutter für die Kunst einzunehmen, antwortet diese ihr als praktizierende Reinigungskraft: „Aber ich könnte ihr zeigen, wie sie die Knochen schneller sauber bekommt.“  

Während bei Gugić eine Annäherung der Familie undenkbar bleibt, sind Konflikte zwischen den Personen bei Adler gar nicht das Thema, sie versteht sie eher als strukturelle Grundlage von Familienleben im Allgemeinen und im Besonderen auf dem Land. Azra und Sima, die Eltern der Protagonistin von Gugićs Roman, versuchen sich von den ländlichen Strukturen, der damit zusammenhängenden Gewalt, den kollektiven Erwartungen und der Ablehnung jedes abweichenden Verhaltens zu emanzipieren, finden aber wegen der Arbeit und den Kindern kaum Zeit dazu. Der Vater der Ich-Erzählerin bei Adler entsagt den Erwartungen der Leute vollends, dennoch – so Adlers klare Analyse der gesellschaftlichen Strukturen – entkommt die Familie diesen Bewertungen nicht. Auch bei Gugić wird trotz des Beharrens der Erzählerin darauf, dass sie ihr Leben frei und selbstgewählt ohne jegliche Bindung gestaltet, klar, dass sie sich der Abwesenheit des Bruders, der verschollen bleibt, nicht entziehen kann. Gelungen ist in beiden Texten die Vermeidung des psychologischen Blicks. Bei Adler geschieht dies zugunsten der Verfremdung durch die Bildbeschreibung als künstlerisches Verfahren, bei Gugić durch die Ersetzung der Person Biljana Banadinović, die das Produkt einer Familie ist, durch die Künstlerin Billy Bana, die ihre Freiheit und Selbstbestimmung der Abgrenzung von der eigenen Familie und Vergangenheit abringt. 

Literatur

Helena Adler: Die Infantin trägt den Scheitel links. Salzburg und Wien: Jung und Jung 2020.

Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.

Bernadine Evaristo: Girl, Women, Other. London: Hamish Hamilton 2019.

Sandra Gugić: Zorn und Stille. Hamburg: Hoffmann und Campe 2020.

Albert Halsall: Beschreibung. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Online (1992). Berlin, Boston: De Gruyter. Zugriff am 23.12.2020