Bilder bauen, Bulimie als Metapher und andere Stilübungen: Yade Yasemin Önder

Dass Önder es ernst meint mit der Literatur, wird gleich auf der ersten Seite klar. Ihr Text beginnt ekphrastisch mit folgendem Bild:

An einem Tag ein Jahr nach Tschernobyl wurde ich auf einer Wiese geboren. Geschrien haben muss ich lang, und dunkel war meine Stimme schon bei der Geburt, sagte man mir. Auf die Wiese hat mein Vater eine Dreizimmerwohnung gebaut und meine Mutter bestand nicht auf einer Badewanne. Die Gegenstände stellten wir auf Grashalme und Moos, und das Wetter tat sein Übriges: Ausgebleicht waren alle von der Witterung, vor allem die aus Holz. Die Füße faulten sicherlich, doch das war uns egal. Egal war aber nicht, der Herd kam zu spät, es war schon Dezember, erst dann konnte die Milch, die nicht von meiner Mutter stammte, in einem kleinen roten Töpfchen erhitzt werden. Das schmeckte mir, dann grinste ich, und mein Vater steckte mir einen Grashalm in den zahnlosen Mund, und meine Mutter drückte auf den Polaroidknopf, und fertig war unsere Dreizimmerwohnung im Park.

Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2022.

Önder entwickelt ein Bild – eine Wohnung, die auf einer Wiese gebaut wird, vom Familienvater für die Mutter und das Kind. Die Mutter drückt zum Abschluss auf einen Polaroidknopf. Dadurch wird die Szene nun explizit zum Bild gemacht, allerdings zu einem, das noch zu entwickeln ist. Das Bild wird dadurch vervielfacht, der Text ist von Beginn an selbstreferenziell. Es gibt das Bild der Wohnung, die vom Vater aufgebaut wird. Die Betrachterinstanz des Bildes ist die Ich-Erzählerin im Moment ihrer Geburt. Die Mutter schließlich macht ein Bild von dem Bild – ein Polaroid, d.h. eines, das direkt entwickelt und damit materialisiert wird. In der anschließenden Szene betrachtet die erwachsene Tochter dieses Bild. Die Leser:innen haben es somit mit drei Bildern zu tun, die von den drei Figuren (Kind, Vater, Mutter) geschaffen werden. Die synästhetische Wirkung der ekphrastischen Beschreibung und das surreale Element (das Bauen der Wohnung auf einer Wiese), bewirken, dass sich von Anfang an ein Rahmen zwischen Realität, Phantasie, Traum und Kunst aufspannt.

Nicht nur, dass dieser erste Absatz mit der rhetorischen Form der Ekphrasis aufwartet und Selbstreferentialität den Beginn des Textes markiert (der Text beginnt mit der Geburt der Ich-Erzählerin, die ein Bild beschreibt), er enthält zugleich auch allerlei intertextuelle Anspielungen. Der Vater baut eine Art Puppenheim – die Referenz auf Ibsens Theaterstück „Nora oder Ein Puppenheim“ gelingt auch ohne direkte Bezugnahme, die Enge und das Gefühl des Eingesperrtseins werden im Bild einer vom Vater gebauten Wohnung auf einer Wiese bereits deutlich. Ibsens Protagonistin Nora widersetzt sich den Geschlechterzuschreibungen der damaligen Zeit und versucht schließlich, daraus ausbrechen.

In einer der folgenden Passagen wird Hannelore Kohl als „unsere Nachbarin, die damals mit ihrem dicken Mann neben uns einzog“ (ebd. 6) eingeführt und damit eine typisch patriarchale Paarkonstellation. Die Anspielung auf die Kohls evoziert einerseits die gesellschaftspolitische Stimmung in den 80er und 90er Jahren in der Bundesrepublik während Helmut Kohls 16-jähriger Kanzlerschaft. Andererseits wird durch die Betonung des Gewichts des Mannes, das sowohl bei Kohl als auch bei dem Vater der Protagonistin eine Rolle spielt, das Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau im wortwörtlichen Sinne besonders sichtbar gemacht. Das öffentliche Bild von Hannelore Kohl ist nicht nur das der perfekten Ehefrau und Mutter, sondern auch das einer von Gewalterfahrung und Krankheit gezeichneten Frau, die zuletzt an einer Lichtallergie litt, die es ihr unmöglich machte, bei Tageslicht das Haus zu verlassen.

Krankheit ist ein weiteres Motiv, das Önders Debütroman prägt. Das extreme Übergewicht des Vaters wird als Krankheit diagnostiziert – dem wird innerhalb der Erzählung die Bulimie der Tochter gegenübergestellt. Das bulimische Verhalten der Ich-Erzählerin bildet einen auffälligen Kontrast zu dem übergewichtigen Vater. Das Thema Bulimie ist in der Gegenwartsliteratur durchaus präsent, so etwa in Lana Lux‘ Jägerin und Sammlerin oder in Sofi Oksanens Stalins Kühe. Bulimie wird bei Önder jedoch nicht nur psychologisch als eine sich in der Pubertät entwickelnde Erkrankung einer jungen Frau beschrieben, sondern auch auf die Ebene struktureller Geschlechterverhältnisse gehoben. Darauf weist nicht nur die Polarisierung zwischen dem übergewichtigen Vater und der untergewichtigen Tochter hin, sondern auch die Anspielung auf Helmut Kohl als erfolgreichem dicken Mann und dessen vorbildlicher, aber kranker Ehefrau Hannelore. Dies nur als Gegenwartsbezug – als Verweis auf patriarchale Konstellationen in der westdeutschen Gesellschaft – zu lesen, greift jedoch zu kurz.

Önders Roman arbeitet sich auch an der Frage ab, wofür Bulimie als Metapher steht. In Susan Sontags Essay Krankheit als Metapher, in der sich die amerikanische Essayistin mit (dem auch bei ihr diagnostizierten) Krebs auseinandersetzt, werden die Metaphern, die in Zusammenhang mit Krebs und mit Tuberkulose gebraucht werden, analysiert (in einem Folgeessay beschäftigt Sontag sich auch mit Aids). Während Krebs von Sontag als „eine Krankheit des Mittelstandslebens, eine mit Überfluß, mit Exzeß assoziierte Erkrankung“ (Sontag: 17) beschrieben wird, werde die Tuberkulose als „eine Krankheit der Armut und Entbehrung“ (17) imaginiert. Sontag trägt in ihrem Essay verschiedene Vorstellungen über die beiden Krankheiten zusammen, sie bezieht sich dabei auf medizinische, literarische und psychologische Diskurse.

In einer Passage stellt sie das Bild der Tuberkulosekranken, die sie später mit dem Leben der Boheme in Verbindung bringen wird, den erfolgreichen Männern des 19. Jahrhunderts gegenüber:

Viele der literarischen und erotischen Verhaltensweisen, die als romantischer Schmerz bekannt sind, stammen von der Tuberkulose und ihren Umformungen durch die Metapher. Der Schmerz wurde romantisch in einer stilisierten Darstellung der einleitenden Symptome der Krankheit (beispielsweise wird Entkräftung in Sehnsucht umgewandelt), und der tatsächliche Schmerz wurde einfach ausgespart. Abgezehrte, hohlbrüstige junge Frauen und bleiche, rachitische junge Männer wetteiferten miteinander als Kandidaten für diese (zu jener Zeit) fast völlig unheilbare, entkräftende, wirklich schreckliche Krankheit. „Als ich jung war“, schrieb Theophile Gautier, „konnte ich als Lyriker niemanden akzeptieren, der mehr als 99 Pfund wog.“ (…) Nach und nach wurde die tuberkulöse Erscheinung, die eine anziehende Verletzlichkeit, eine überlegene Sensibilität symbolisierte, in zunehmendem Maße zum idealen Aussehen der Frauen – während bedeutende Männer des mittleren und späten 19. Jahrhunderts dick wurden, Industrieimperien gründeten, Hunderte von Romanen schrieben, Kriege führten und Kontinente plünderten.

Susan Sontag: Krankheit als Metapher/Aids und seine Metaphern. Frankfurt a.M.: Fischer 2003 (1977/78 und 1988/89).

Yade Yasemin Önders Debütroman lädt zu Interpretationen ein – nicht nur, weil die geschilderten Szenen von Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit geprägt sind und es oft zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Realität, Phantasie und Unbewusstem kommt. Sondern vor allem durch die explizite Literarizität, die sich in intertextuellen Verweisen, Metaphern und Motiven, aber auch in der strengen Form zeigt, die den ganzen Text durchzieht. Es gibt verschiedene Variationen ein- und derselben Szene, Listen, Wiederholungen und Aufzählungen. In den Verweisen nimmt Önder Bezug auf Raymond Queneaus Stilübungen.

Raymond Queneau: Stilübungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968 (1947).

Önder arbeitet sehr bewusst mit der Sprache, sie setzt Reime und Rhythmen sowie weitere Stilübungen ein, wodurch immer wieder Interpretationsspielräume eröffnet werden, die weniger auf die Handlung selbst bezogen sind, sondern vielmehr aus dem Text heraus, hin zu anderen literarischen und essayistischen Werken führen und auch auf gesellschaftspolitische Debatten in intersektionaler Dimension Bezug nehmen. Was für ein Buch!

Der kleine feine Maro-Verlag: Lyrik von Wanda Coleman und Maro-Hefte zu Themen abseits des Mainstreams

Der Maro-Verlag wurde 1970 gegründet, er legt besonderen Wert auf die grafische Gestaltung seiner Bücher und hat neben Lyrik und Prosa unter anderem auch Plakate, Biografien und Sachbücher im Programm.

Besonders ins Auge fallen die MaroHefte, in denen, wie auf der Verlagswebsite zu lesen ist, „Essays auf Illustrationen“ treffen und die eine ganze Bandbreite an Themen abdecken, „zu Politischem, Abseitigem, Höchstwichtigem, Poetischem & Tabubehaftetem“ (ebd.). Die Hefte überzeugen durch die bunte grafische Gestaltung und den gewitzten, aber informativen Zugang zum Thema. Dabei werden nicht nur Themen behandelt, die im Mainstream häufig ausgeblendet werden. Neben Wissen – etwa im Heft zur Aromantik und Asexualität mit Texten von Carmilla DeWinter und Illustrationen von Jasmin Dreyer – werden auch Erfahrungen aus dem aktivistischen Alltag beschrieben.

Ein Highlight im Verlagsprogramm ist Wanda Coleman – der Lyrikband trägt einen spektakulären Titel, der allein schon für sich steht. Er lautet: strände. warum sie mich kaltlassen.

Den Gedichten vorangestellt ist eine kurze Einführung zur Autorin, zu ihrem Hintergrund als Schwarze, arbeitende, alleinerziehende Mutter. Sie steht im Widerspruch zum immer noch überall präsenten Ideal des männlichen, weißen, der autonomen Kunst frönenden und sich um sonst nichts kümmernenden Schriftstellergenies. Im literarischen Leben gilt sie als mehrfach marginalisierte Frau, die sich allerdings nicht davon abbringen lässt, Gedichte zu schreiben und auf Literaturfestivals präsent zu sein. Mit großer Selbstverständlichkeit schreibt sie als Frau, als Mutter, als Arbeitende, als Geliebte und als Schwarze Frau, deren Körper immer wieder zur Angriffsfläche wird.

Ein wunderbares Buch, unbedingte Leseempfehlung!

https://www.maroverlag.de/

Die Maro-Hefte: https://www.maroverlag.de/36-marohefte

Wanda Coleman: https://www.maroverlag.de/lyrik/239-straende-warum-sie-mich-kaltlassen-9783875124972.html

Cover Die Wut die bleibt

Mareike Fallwickls „Die Wut die bleibt“

Mareike Fallwickl spricht in ihrem neuen Roman Die Wut die bleibt viele Themen an, die in der Gegenwartsliteratur unterrepräsentiert sind und mit denen das Buch einige wichtige Debatten anstoßt: Es geht um die Lage von Familien während der Corona-Pandemie, es geht um die unbezahlte Care-Arbeit von Frauen, es geht um abwesende Väter, um gesellschaftliche Rollenerwartungen an Frauen, um Gewalt gegen Frauen sowie um Gegengewalt und Feminismus.

Das Buch setzt auf einen eingängigen Plot: Helene, Mutter von drei Kindern, hat sich während der Pandemie und davor wahrscheinlich auch, um den Nachwuchs, den Haushalt und den Ehemann gekümmert, während letzterer sich größtenteils entzieht und mit der vermeintlich wichtigeren „Erwerbsarbeit“ herausredet. Die Vorgeschichte steht nicht im Mittelpunkt, das Buch beginnt direkt mit der Szene, in der Johannes eine Frage stellt, die harmlos daherkommt, aber implizit so herabwürdigend ist, dass Helene zum Balkon geht und herunterspringt. Die Frage von Johannes war folgende:

Haben wir kein Salz, sagt Johannes beim Abendessen, sagt es genau so: Haben wir kein Salz, und nicht einmal in Helenes Richtung. Sie hört das Du in seiner Formulierung, hört: Hast du es vergessen, hört: Du hast doch gekocht, hört: Stehst du noch mal auf, und alle diese Dus schlagen ihr die Kraft aus dem Körper. Matt und müde sitzt sie da, in ihren Ohren das schwere Dröhnen. Wie es anschwillt. Wie es körperfüllend wird, sodass da kein Platz mehr ist, nicht einmal für den nächsten Atemzug.  

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Hamburg: Rowohlt Verlag 2022, S. 9, im Original kursiv.

Die Pandemie hat die Last auf ihren Schultern vergrößert, es wurde noch deutlicher, dass Mütter weder vom Staat noch von der Gesellschaft und in vielen Fällen auch nicht vom näheren Umfeld Hilfe erwarten können. Sie sind auf sich allein gestellt, müssen den Ansprüchen der Kinder gerecht werden, während sie den Haushalt stemmen und zusätzlich den gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen ausgesetzt sind.   

Es geht in diesem Buch nicht nur um die Frage der Care-Arbeit für Kinder, sondern auch darum, dass Frauen oft nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Ehemänner oder Lebenspartner versorgen. Das wird auch in der Parallelgeschichte über Sarah, Helenes Freundin, thematisiert, die während der Pandemie mit Leon zusammengezogen ist und ganz selbstverständlich das Aufräumen übernimmt. Es geht in diesem Roman im Kern um die Frage, wer in einer Familie das Vakuum füllt, das entsteht, wenn die Mutter plötzlich ausfällt.

Eigentlich sollten die Väter die naheliegende Antwort sein. Um die Väter geht es bei Fallwickl aber nicht, Johannes kommt bis zur Hälfte des Buches kaum zu Wort. Die von Helene hinterlassene Lücke wird sofort von Sarah gefüllt, sie versorgt die Kinder, putzt und kocht, auch für Johannes. So abwesend wie Johannes in der Familie ist, ist er auch im Roman. Darin geht der Plot voll auf: Die von Helene dagelassene Lücke wird ganz selbstverständlich von einer anderen Frau, nämlich von ihrer besten Freundin Sarah, eingenommen. Als diese dann – Vorsicht, Spoiler-Alarm – irgendwann doch geht und die Familie sich selbst überlässt, tut auch sie es in der Hoffnung, dass schon bald die nächste Frau kommen wird.

Das macht etwas mit … Sarah, die in diesem Urlaub immer wieder darüber nachdenkt, dass sie eine Platzhalterin ist, eine Übergangsfrau. Nicht nur wegen Helene, die fehlt, Helene, die ersetzt werden musste, sondern wegen der Frau, in die Johannes sich verlieben wird. Aus seiner nächsten Beziehung wird vermutlich eine Patchwork-Familie, und die nächste Frau wird sich nicht für Wochen um Maxi und Lucius kümmern, sondern für Jahre, sie wird die Bonusmutter sein, die Stiefmutter, die vielleicht auch eigene Kinder mitbringt. Sie werden gemeinsam in dem neuen Haus leben, ob das wohl sein Plan ist? So schnell wie möglich eine Freundin finden, sich wieder einrichten in einem Gefüge, in dem alles ist wie vorher, nur mit einem anderen Muttergesicht.

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Hamburg: Rowohlt Verlag 2022, S. 269f.

Diese Ebene der Handlung, auch die gesellschaftliche Analyse, die dahintersteckt, ist überzeugend: Die Care-Arbeit wird überwiegend von Frauen geleistet und Männer haben beste Chancen, später in einer neuen Patchwork-Konstellation zweite und dritte Versuche zu starten. Die Belastung, die anstrengende Situation mit einer Teenagerin und zwei Kleinkindern, die Mental Load, die auf einer einzigen Schulter lastet und die nach dem Tod seiner Frau nicht auf Johannes, sondern direkt auf Sarah übergeht, wird mit eingängigen Szenen dargestellt.

Es geht – das ist von Anfang an klar – nicht so sehr darum, einen psychologischen Roman über eine Familie mit klassischer Rollenverteilung während der Pandemie zu erzählen, sondern um strukturelle und politische Fragen. Nach der Hälfte des Romans wird jedoch zunehmend unklar, warum die Erzählerin (und die Autorin) sich eigentlich nicht für Johannes interessiert. Einerseits werden die Lesenden dadurch vor den üblichen Rechtfertigungen und Ausreden vieler Väter (und Mütter) verschont, die erklären sollen, warum sie angeblich gar keine andere Wahl haben als sich der Care-Arbeit komplett zu entziehen und warum andere dafür zuständig sein sollen, ihre Kinder zu erziehen. Andererseits entsteht dadurch im Text eine Leerstelle, die im weiteren Geschehen zunehmend von zwei Handlungssträngen gefüllt wird – dem einen um Lola, die sich mit drei Freund:innen zu einem Schläger:innentrupp zusammentut, der Selbstjustiz an gewalttätigen Männern verübt, und dem anderen um Sarah, die versucht, sich sowohl von Leon als auch von Johannes zu lösen, von denen sie ausgenutzt wird. Keine der Männerfiguren bekommt eine Stimme oder ein Gesicht – im schlimmsten Fall sind die Männer in diesem Roman übelste Gewalttäter, im besten Fall ignorant und abwesend.

Für sich genommen werden in den Parallelhandlungen spannende Aspekte beschrieben: die gesellschaftlichen Erwartungen an Beziehungen, internalisierte Frauenfeindlichkeit, der Wandel feministischer Perspektiven und Praktiken, das Ablegen von Rollenerwartungen in der jüngeren Generation, das Ausüben von Kampfsport zur Selbstverteidigung anstatt Anpassung und vieles mehr.

Mit fortschreitender Handlung, in der sich die Frauen emanzipieren, kommt hinter den Schattierungen und Differenzierungen, die der Roman bereithält, allerdings zunehmend ein schwarz-weißes Bild zum Vorschein. Vor dem Hintergrund der durchweg negativen Männerfiguren befreit sich Sarah von ihrem Verantwortungsgefühl und Lola schlägt zu, wenn es sein muss. Während sich die beiden Frauen entwickeln, passiert mit den Männerfiguren überhaupt nichts.

Was wäre die Alternative gewesen? Johannes hätte sich entgegen gesellschaftlicher Erwartungen zum „ausreichend guten Vater“ (frei nach Donald Winnicott, der mit der „good enough mother“ ein Gegenkonzept zur idealisierten Mutter geschaffen hat) entwickeln können. Dieses Ende wird nicht einmal in Aussicht gestellt, denn Sarah stellt sich – siehe Zitat oben – vor, dass Johannes die Kernfamilie übergangsweise schon irgendwie versorgen wird, dann aber sicher bald eine neue Partnerin für eine Patchworkfamilie findet. Selbst wenn das von Sarah zynisch gemeint ist, ist es bezeichnend. Die Vaterfigur entwickelt sich nicht, er ist gefangen in der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft, Veränderung ist nicht in Sicht.

Was ist im Titel mit der Wut gemeint, die bleibt? Die Wut der zurückgelassenen Tochter Lola, die um ihre Mutter trauert und sich zugleich mit struktureller und physischer Gewalt gegen Frauen auseinandersetzen muss? Die Wut der Familien, die während der Corona-Pandemie kaum Unterstützung erfahren haben? Die Wut gegen die Männer und die Gewalt? Die Wut gegen die Kinder, die den der Raum der Mütter nach und nach einnehmen? Alles zusammen?

Der Roman spricht viele wichtige Themen an, erzählt von überforderten Müttern, von abwesenden bzw. ignoranten und gewalttätigen Männern sowie von einer frauenfeindlichen Gesellschaft. Der Plot um die Frage, wer das Vakuum besetzt, das mit dem Tod einer Mutter entsteht, wird jedoch in alle Richtungen geöffnet: Es geht um das Zusammenleben mit Kindern, um Gewalt an Frauen, um die (Un-)Möglichkeit einer romantischen Beziehung in der heteronormativen Gesellschaft, um Kindesmissbrauch, um die Frage, ob Frauen mit Kriminalromanen ihr Geld verdienen sollten, in denen Frauen immer nur die Opfer sind. Mit dieser Überfrachtung kommt es zwangsläufig zu einem erzählerischen Problem, das sich kaum auflösen lässt: der Plot verlangt eigentlich nach einer schlankeren Struktur, die Gesellschaftskritik schreit dagegen nach einer ausschweifenderen Erzählung und nach Figuren, die stärker mit Leben gefüllt und differenzierter gezeichnet sind.  

Während sich Autorinnen wie Anke Stelling oder Rumena Bužarovska direkt in die Widersprüche heteronormativer Strukturen hineinbegeben und von den Verstrickungen und Dynamiken der Beziehungen im Patriarchat erzählen, interessiert sich dieser Roman nur für die Perspektive der Frauen. Die ist zweifellos wichtig. In der Familienkonstellation fehlt dennoch die Perspektive des Ehemannes und Vaters der beiden kleinen Kinder, ebenso die des Vaters der größeren Tochter Lola.

Dadurch, dass die männlichen Figuren überhaupt nicht an Tiefe gewinnen, ergibt sich eine merkwürdige Nähe zwischen den arbeitenden, abwesenden Vätern und den gewalttätigen Männern aus dem anderen Handlungsstrang des Buches. Keine Rolle spielen überraschenderweise die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, die dazu führen, dass solche klassischen Rollenmodelle – auch entgegen der Wünsche sicherlich nicht der Masse, aber doch zumindest einiger Eltern – weiterhin gelebt werden. Die Diskussionen darum, wer in Elternzeit geht, wer mehr Geld verdient oder wer bessere Chancen auf die Karriere hat, ob eine:r oder beide oder keine:r Karriere macht, ob die Familie zugunsten der gerechteren Verteilung vielleicht lieber auf ein Haus verzichten sollte, werden hier nicht geführt. Dagegen lässt sich einwenden, dass in einem Roman, in dem es um die Erschöpfung der Frauen mit Care-Verpflichtungen geht, nicht alle möglichen Dinge verhandelt werden können. Genau. Vielleicht wären die erschöpften Frauen und die abwesenden Väter genug gewesen. 

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Hamburg: Rowohlt Verlag 2022.

Donald W. Winnicott: The Child, the Family, and the Outside World. Harmondsworth: Penguin 1964.

Drei Romane erzählen von Grenzen und Überschreitungen in unterschiedlichen Beziehungsformen

Begehren, Freundschaft und jüdischer Frozen Yoghurt: Milk Fed von Melissa Broder

In Milkfed – einem Roman, in dem Essen und Liebe von Anfang an ganz eng miteinander verbunden sind – erzählt Melissa Broder von einer Beziehung, die zwischen Freundschaft, Bemutterung und lesbischem Begehren verschmilzt. Rachel ist 24 Jahre alt und in gesellschaftlichen Zwängen gefangen – sie ist stets darauf bedacht, ihre Kalorien zu zählen und ihr Essverhalten zu regulieren, so wie es ihr ihre Mutter beigebracht hat, von der sie auch ständig angerufen und kontrolliert wird. Rachels Therapeutin schlägt ihr vor, 90 Tage lang den Kontakt zur Mutter abzubrechen und ihr eigenes Leben zu leben. Da es neben dem Kalorienzählen, dem Fitnessstudio und ihrem Job nicht viel anderes in ihrem Leben gibt, wirkt sich die Befreiung von der Mutter vor allem auf ihr Verhältnis zum Essen aus. Rachel fängt an, sich manchmal Dinge zu erlauben, die sie sich sonst nie gestattet hätte. In einem Frozen Yoghurt Shop verliert sie nach und nach die Kontrolle und probiert sich durch die verschiedenen Toppings, die ihr von Miriam, der Tochter der Besitzer:innen der Yo!Good-Kette, angeboten werden. Wie stark kontrollierend ihr Essverhalten zuvor war, zeigt sich in der Scham, die sie empfindet, wenn sie die zuvor verbotenen kalorienhaltigen Speisen zu sich nimmt. Genuss ist als Kategorie nicht vorgesehen, es gibt keinen Raum zwischen Kontrolle und Maßlosigkeit.

Melissa Broder. Milk Fed, New York u.a.: Scribner 2021.

Dieser Raum tut sich auf, als sie von Miriam zu deren jüdischer Familie nachhause eingeladen wird – nun wird die Beziehung, die zuvor zwischen Bemutterung (daher der Titel Milkfed, der zugleich auf mütterliche Zuwendung und den Frozen Yoghurt anspielt) und Begehren schwankte, durch einen neuen Aspekt ergänzt. Essen dient nun nicht mehr nur der körperlichen Bedürfnisbefriedigung, sondern ist im Haus der Familie Schwebel in liebevolle, familiäre Beziehungen eingebettet, nach denen Rachel dürstet, was sie dort erst zu bemerken scheint. Zugleich empfindet sie auch sexuelles Begehren und ist hin- und hergerissen zwischen Miriam als mütterlicher Person, die sie füttert, als Freundin, die sie an ihrem Familienleben teilhaben lässt und als Liebespartnerin. Zugleich weckt sie in Miriam durch ihren von jüdischen Traditionen geprägtem Alltag auch eine Sehnsucht nach Spiritualität. Da Rachel all ihre unterschiedlichen Begehren – nach Essen, nach Freundschaft, nach Familie, nach Sex, nach Glauben – auf eine einzige Person, auf Miriam, projiziert, ist von Anfang an klar, dass mit jeder weiteren Überschreitung das Ende der Beziehung naht.

Der Roman spielt die Überfrachtung einer Beziehung mit unterschiedlichen Begehren, die für Rachel weder im Privaten noch in der kapitalistischen Gesellschaft erfüllt werden und die sie sich vor der Loslösung von der Mutter nicht einmal eingestanden hat, auf leichte, unterhaltsame Weise durch – ironisch merkt die Ich-Erzählerin schon zu Beginn an, dass sie ihrer eigenen Therapeutin schon deswegen nichts zutraut, weil sie sich mit ihrem niedrigen Gehalt deren Dienste leisten kann. Melissa Broder legt ihren Text nicht als große gesellschaftliche oder psychologische Studie an, spielt jedoch anhand eines simpel konstruierten Plots überzeugend durch, wie sich Begehren für eine Person anfühlen kann, die sich zuvor in einem äußerst kontrollierten und reglementierten Rahmen bewegt hat. Die Projektion aller zuvor unterdrückten Begehren auf eine einzige Person erweist sich als kindlich und letztlich nicht erfüllbar – ein Happy End kann es in dieser Konstellation nicht geben. 

Asymmetrische Verstrickungen: Ein Amerikaner in Bulgarien zwischen Begehren und Mitgefühl

In seinem preisgekrönten Debüt What Belongs to You erzählt Garth Greenwell auf der Grundlage seiner bereits zuvor erschienenen Erzählung „Mitko“ in drei Teilen von homosexuellem Begehren, der Prägung durch die eigene Familiengeschichte und der Frage der Verantwortung für andere Personen. Der erste, auch eigenständig für sich stehende Teil des Romans kreist um die (fehlende) Gegenseitigkeit von Begehren sowie um die Frage, ob es Intimität auch in Beziehungen geben kann, die von vornherein durch einen Tauschwert bestimmt sind. Die erste Begegnung des Ich-Erzählers mit Mitko ist bereits von dieser Ambivalenz geprägt:

„That my first encounter with Mitko B. ended in a betrayal, even a minor one, should have given me greater warning at the time, which should in turn have made my desire for him less, if not done away with it completely. But warning, in places like the bathrooms at the National Palace of Culture, where we met, is like some element coterminous with the air, ubiquitous and inescapable, so that it becomes part of those who inhabit it, and thus part and parcel of the desire that draws us there.“

Garth Greenwell: What Belongs to You. London: Picador 2017 (2016), 3.

In der Männertoilette des Nationalen Kulturpalasts in Sofia, wo der amerikanische Ich-Erzähler als Lehrer in einer internationalen Schule arbeitet, trifft er auf Mitko, einen deutlich jüngeren Mann, der ihm Sex für Geld anbietet. Der Ich-Erzähler stellt bei dieser Begegnung fest, dass er mittlerweile zu einem Mann geworden ist, der aufgrund seines Alters nicht mehr attraktiv genug ist, um an solchen Orten als begehrenswert wahrgenommen zu werden und dem Sex von nun an vielleicht nurmehr als Dienstleistung zur Verfügung steht. So einfach ist dieses zunächst klare Geschäft dann aber doch nicht – der Ich-Erzähler und Mitko verbringen Zeit zusammen, Mitko erzählt ihm von seiner Vergangenheit, zeigt ihm private Fotos. Der Erzähler möchte daran festhalten, dass er als Person attraktiv ist, dass sein Begehren auf Gegenseitigkeit beruht, dass es sich nicht um eine bloße Transaktion handelt.

Garth Greenwell: What Belongs to You. London: Picador 2017 (2016)

Mitko lässt sich nicht auf eine Dienstleistung reduzieren, spielt aber auch keine Gefühle vor. Er zeigt sich vielmehr als jemand, der sich prostituieren muss und aufgrund seiner Wohnungslosigkeit auch immer wieder vor der Herausforderung steht, sich einen Schlafplatz organisieren zu müssen. Die Beziehung wird von beiden nicht klar definiert: Der Erzähler ist ambivalent in Bezug darauf, Sex gegen Geld einzufordern; Mitko nennt seine Freunde und Kunden gleichermaßen „prijatelji“, Freunde. Die Grenzen dessen, was in dem Verhältnis eingefordert werden kann, sind auf beiden Seiten unklar und stehen zur Disposition.

Der erste Teil mit dem Titel „Mitko“, der sich auch als eigenständige Erzählung lesen lässt, erzählt überzeugend die Geschichte eines alternden Amerikaners, der sich zum ersten Mal mit der Möglichkeit auseinandersetzt, Sex gegen Geld zu haben. Mitko sowie der Schauplatz Bulgarien drängen sich in diesem ersten Teil nicht in den Vordergrund, sie bleiben Projektionen des Ich-Erzählers. Aufgrund des Ausbaus der Erzählung zum Roman entwickelt sich Mitko nach und nach zu einer eigenständigen Figur. Zugleich erweist sich die Position des Ich-Erzählers, der als Amerikaner an einer privaten Schule in Bulgarien lehrt, immer deutlicher als Machtposition. Da er diese nicht kritisch reflektiert – hier hat der Roman seinen blinden Fleck -, sondern in Bezug auf Mitko zwischen Mitleid und Zurückweisung gefangen bleibt, wirkt der Fokus auf die eigene Empfindlichkeit als alternder Mann zunehmend problematisch. Während der Ich-Erzähler sich mit seinen eigenen Gefühlen auseinandersetzt und in diesem Kontext auch über seine Familiengeschichte reflektiert, sieht er Mitko nur als Opfer. Seine eigene Verantwortung als privilegierter Amerikaner, der von Mitkos verzweifelter Lage profitiert, sieht er bis zum Schluss nicht.    

Frauenfreundschaft im Patriarchat: Enrico Ippolito erzählt von gesellschaftlichen Machtstrukturen im kommunistischen Italien und in Deutschland

In Was Rot war erzählt Enrico Ippolito von einer Freundschaft zwischen zwei Frauen, Cruci und Lucia, aber vor allem auch davon, wie die heterosexuelle Norm (das klassische Narrativ einer Liebe zwischen Mann und Frau, gefolgt von Ehe und Kindern) und die gesellschaftlichen Umstände (die Unvereinbarkeit von zwei Karrieren in der klassischen Ehe, vor allem wenn die Sorgearbeit durch Kinder hinzukommt) eine ganz besondere Frauenfreundschaft zerstören.

enrico ippolito: Was rot war. Hamburg: Kindler (Rowohlt) 2021.

Ippolito erzählt – gekonnt miteinander verschachtelt – die Geschichten von Mutter und Sohn. Die eine blickt auf eine Freundschaft zurück, der andere stürzt sich in ein Abenteuer mit einem Unbekannten namens Hassan in Rom, den er über eine App kennenlernt. Auf der Ebene der Vergangenheit wird von der engen Freundschaft zwischen Lucia und Cruci in ihrem gemeinsamen Jahr auf der kommunistischen Parteischule erzählt, es wird deutlich, wie gut sie sich – trotz ihrer Unterschiedlichkeit – verstanden haben, wie sie für eine gemeinsame Sache gekämpft haben und wie wichtig sie für einander waren. Die Gegenwartsebene ist geprägt von den gemeinsamen Tagen von Mutter und Sohn, die zusammen von Köln nach Rom zur Beerdigung von Lucia fahren. Obwohl es für beide schwierig ist, Intimität aufzubauen und es überhaupt miteinander auszuhalten, gibt es eine große Nähe zwischen Mutter und Sohn, die sich auch darin zeigt, wie sie mit vermeintlichen Grenzüberschreitungen umgehen: Die Mutter weiß, dass der Sohn raucht, er tut es jedoch nicht vor ihr; sie weiß auch, dass er homosexuell ist, darüber wird – wohl vor allem aufgrund der als kulturell markierten italienisch-katholischen Tabuisierung von Sexualität generell – ebenfalls nicht gesprochen.    

Lucia und Cruci – so wird in Rückblenden erzählt – lernen sich in Rom auf der kommunistischen Schule Frattocchie kennen, beide mit der Absicht, eine große Karriere in der Partei zu machen. Bald wird ihnen klar, dass sie es als Frauen nicht leicht haben werden und so setzen sie sich auch politisch für die Gleichberechtigung ein. Lucia kommt aus gutem Hause, hat Kontakte und nutzt ihre Zeit auf der Schule auch für allerlei Vergnügungen, während Cruci sich darauf konzentrieren muss, ihre Leistung zu halten. Beiden steht eine Karriere offen, sie bemerken jedoch bald, dass es für sie als Frauen – anders als bei den sie umgebenden Männern, die ohne großen Aufwand Karrieresprünge machen – langwierig und mühsam sein wird, sich etwas aufzubauen. Cruci steht, als sie Antonio kennenlernt, vor der Entscheidung sich zwischen ihrer Karriere und der Ehe zu entscheiden. Sie macht sich dies bewusst, sie erwägt auch, die Liebe fallenzulassen, entscheidet sich dann aber dafür, zu versuchen, beides zu verwirklichen. Rückwirkend ließe sich dieser Moment als der Moment beschreiben, in dem der Pakt zwischen den beiden Frauen angezweifelt wurde – die Freundschaft wird später durch einen Verrat von Lucia für immer beschädigt. Es lässt sich allerdings auch nicht sagen, ob eine Freundschaft über all die Jahre Bestand gehabt hätte, wenn Cruci sich gegen Antonio entschieden hätte.  

Die Geschichte zwischen Lucia und Cruci wird durch die in Ich-Perspektive aus Sicht des Sohnes erzählte Gegenwartsebene unterbrochen, in der von seinem Besuch bei der Mutter in Köln, ihrer gemeinsamen Reise nach Rom, seinen Treffen mit Hassan und von der Beerdigung von Lucia und dem damit verbundenen Eintauchen in die Vergangenheit der Mutter erzählt wird. Zunächst wirkt das Ausbrechen des Erzählers aus der Zweisamkeit mit der Mutter im Hotel unerwartet, dann entspinnt sich jedoch zwischen ihm und Hassan eine von Erwartungen, Nähe und Hoffnungen geprägte Zweisamkeit.

Die unterschiedlichen Lebensentwürfe von Mutter und Sohn werden einander nicht kontrastiv gegenübergestellt, sondern auf eine Art und Weise beschrieben, die von gegenseitigem Verständnis geprägt ist und Schwarz-Weiß-Denken vermeidet. Der Sohn kann nicht nur nachvollziehen, dass es für seine Mutter und generell für Frauen in der damaligen Zeit keineswegs banal und einfach war, sich zwischen Familie und Karriere zu entscheiden, sondern fühlt auch nach, dass eine Entscheidung für die Karriere für eine Frau sehr viel weniger Möglichkeiten bereithielt als für Männer, und dass eine solche Entscheidung auch – wie bei Lucia – mit weiteren Entbehrungen verknüpft gewesen wäre.

Als der Ich-Erzähler Hassan durch eine App kennenlernt, als er mit ihm ausgeht und dann intime Momente mit ihm teilt, wird eine Leichtigkeit vermittelt, die allenfalls durch die Schwierigkeiten des ersten Kontakts, der Frage, worüber und ob überhaupt ein Gespräch geführt werden soll, getrübt wird und doch als Moment des Sich-Fallenlassens, von Intimität ohne Liebesversprechen, erlebt wird. Dagegen erscheint die Freundschaft zwischen Lucia und Cruci als tiefe Beziehung zwischen zwei Frauen, die jedoch aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – und der Konkurrenz zwischen Freundschaft, Ehe und Karriere – ebenfalls nur von kurzer Dauer gewesen sein wird. So erzählt Enrico Ippolito auch davon, wo die Grenzen zwischen verschiedenen gesellschaftlich akzeptierten Verträgen und Narrativen über Formen von Beziehungen verlaufen und dass es sich nicht nur zwischen Individuen entscheidet, welche Beziehung zwischen ihnen möglich ist.

Zwei Erzählbände über heteronormative Beziehungen im Patriarchat: „Mein Mann“ von Rumena Bužarovska und „Grundlagenforschung“ von Anke Stelling

Rumena Bužarovskas Erzählband beginnt mit der Story (so sind die Prosastücke auch in der deutschen Übersetzung, die im Suhrkamp-Verlag erschienen ist, betitelt) „Mein Mann, der Dichter“. Die Ich-Erzählerin arbeitet als Geschichtslehrerin und hat keine Lust mehr, sich ständig für die neuen Gedichte ihres Mannes zu begeistern, auch wenn sie sich damals auf einem Poesiefestival gerade deswegen für ihn interessiert und auf ihn eingelassen hat. Mittlerweile findet sie weder seine Gedichte überzeugend, noch hat sie Anerkennung für seine Arbeit übrig. Die Dramaturgie der Geschichten von Bužarovska ergibt sich oftmals aus der Erzählhaltung und Perspektive der Figuren – fast nie geht es um große Lebensentscheidungen, bemerkenswerte Begegnungen oder um die Konsequenzen einer gewichtigen Handlung.

Rumena Bužarovska: Mein Mann. Stories. Berlin: Suhrkamp 2021

Es sind aber auch nicht nur subtile Alltagsbeobachtungen, die sich aus der zumeist häuslichen Perspektive der Ehefrauen ergeben. Den Witz der Storys – Bužarovska hält ihren distanzierten, kühlen und belächelnd-herablassenden Stil trotz unterschiedlicher Ich-Erzählerinnen im ganzen Buch durch – machen überraschende Blickwinkel, teils auch skurrile Ereignisse und Reaktionen aus (oftmals in den Geschichten, die von Ehepaaren mit Kindern erzählen). Schon nach der ersten Erzählung ist klar, dass es in diesem Band keinen (ernsthaften) Streit, keine Trennungen und Scheidungen geben wird. Auch wenn die Frau die Inszenierung ihres Mannes als Dichter nicht ernst nehmen kann, steht die Fortführung ihrer Ehe außer Frage. Die Ich-Erzählerin fühlt sich auch nicht verpflichtet, sich als Korrektiv vereinnahmen zu lassen.

„Er geht immer noch auf Poesiefestivals. Er geht, sobald es ihm seine Arbeit erlaubt, die er nebenbei erwähnt, auch noch schlecht macht. […] Erst einmal schleppt er einen Koffer voll mit seinen dünnen, in billiges Plastik gebundenen Gedichtheftchen an. Die meisten davon hat er ins Englische und in ein paar Balkansprachen übersetzen lassen, damit die Ausländer sein Gefasel besser verstehen können. […] Die Übersetzungen seiner Gedichte sind schrecklich. Nicht was den Inhalt angeht – der ist sowieso bedeutungslos -, sie sind auch voller Grammatikfehler. Daran ist sein Geiz Schuld. […] [E]in paar arme junge Mädchen […] übersetzen dann kostenlos oder gegen ein miserables Honorar für ihn. Ein paarmal habe ich mitangehört, wie er mit ihnen feilscht: Als Belohnung vergibt er zehn Exemplare seines Buchs. Dafür schäme ich mich wirklich, aber was soll ich machen.“

Rumena Bužarovska: Mein Mann. Stories. Berlin: Suhrkamp 2021, S. 11 (das Original ist 2014 auf Mazedonisch im Verlag Ili-Ili in Skopje erschienen).

Das Setting der hier beleuchteten Beziehungen und ihrer Einbindung in gesellschaftliche Kontexte ist immer gesetzt. Die Frage ist, wer warum über wen lacht, wer aus welchem Grund auf wen hinabsieht und ob sich die Distanz, die die Ehefrauen ihren Ehemännern und der Gesellschaft gegenüber einnehmen, eher stabilisierend ist oder ob sie auch als subversiv gelesen werden kann. Verzichten sie gerade aufgrund der ironischen Distanz, die sie ihrem eigenen Leben gegenüber einnehmen, auf eine Veränderung oder wissen sie von vornherein (als sie hätten schon alles von Anke Stelling gelesen), dass die Alternativen sie auch nicht glücklich machen würden? Zum Teil scheint auch eine Metaebene auf: Da sie allesamt gar nicht erst an die Illusion einer großen Liebe oder eines guten Lebens glauben, machen sie sich gar nicht erst auf die Suche danach.  

Anke Stelling: Grundlagenforschung. Erzählungen. Berlin: Verbrecher Verlag 2020.

Anke Stelling erzählt in „Grundlagenforschung“ – übrigens eine Zusammenstellung zum Großteil bereits anderswo erschienener Erzählungen, was einige Leser:innen irritieren wird, sich aber in der Gesamtschau doch lohnt – von Männern, Frauen, Freund:innen, (meist ziemlich fertigen) Müttern, von gar nicht erst richtig angefangenen oder abgebrochenen (auch scheinbaren) Karrieren, von prekären Arbeitsverhältnissen und davon, wie die meisten Figuren in gewohnt-zynisch-Stelling’scher Sicht auch mit 40 oder 50 noch keinen Sinn im Leben gefunden haben, die Suche danach dennoch nicht aufgegeben haben. Immer wieder verfallen sie in Gedankenspiralen, aus denen sie nicht herausfinden und die kaum zu aktiven Handlungen führen. Sie mühen sich ab, mit allerlei verzweifelten Versuchen, die mit den Freund:innen verbrachten Ferien irgendwie ohne größere Unstimmigkeiten hinter sich zu bringen, das Leben allein nun entweder zu genießen oder doch endlich erfolgreicher in der Partner:innensuche zu werden oder sich damit abzufinden (oder auch nicht), dass sowohl der bessere Job als auch der Ehemann nun weg sind und man (bei Stelling trifft diese Konstellation eher die Frauen) allein, in zweifelhafter Lage, von den Kindern belächelt, seine Tage und Abende verbringt. 

Rumena Bužarovskas Erzählungen lassen sich gut in Kombination mit Anke Stellings Erzählungen lesen, immer zuerst eine von Bužarovska (ja, auch in denjenigen Beziehungen, die klassischen Rollenmodellen folgen, durchschauen die Frauen das Spiel und können sich selbstironisch zu ihrer in der patriarchalen Gesellschaft untergeordneten Lage verhalten) und danach eine von Stelling (sollte man sich beim Lesen von „Mein Mann“ des eigenen alternativen Lebensmodells allzu gewiss werden, offenbart „Grundlagenforschung“ die sich darin verbergenden Klischees und Abgründe). Zugleich wirken Stellings einerseits ständig an sich selbst zweifelnden und andererseits nach außen hin ihre eigenen Fehlentscheidungen und widersinnigen Verhaltensweisen selbstbewusst verteidigenden Figuren seltsam passiv und spießig, wenn sie in Kontrast stehen zu den zwar in bürgerlichen Beziehungen (meist mit Haus, Kindern und gesellschaftlicher Stellung) feststeckenden Frauen, die sich jedoch Distanz und Freiraum in ihrem Leben schaffen, weil sie sich erzählerisch dazu verhalten, indem sie sich selbst darüber (meist vor allem über ihre Männer) lustig machen.

Sowohl bei Stelling als auch bei Bužarovska stecken die Figuren fest in Situationen, in denen sie nur unbefriedigende Handlungsmöglichkeiten haben und in denen sie sich selbst kaum als aktive Protagonistinnen wahrnehmen. Während bei Bužarovska die patriarchelen Verhältnisse deutlicher zu spüren sind – die Frauen sind stets damit beschäftigt, die Dinge, die sie tun wollen, hinter dem Rücken ihrer Männer zu tun und verwenden einen Großteil ihrer Energie darauf, diese dann zu verbergen –, steht bei Stelling die Desillusionierung im Vordergrund. Stellings Figuren haben sich an einem alternativen Leben versucht – und stehen nun, in den Vierzigern – mit Jobs oder Karrieren da, die sie nur noch langweilen oder die sie in den Sand gesetzt haben, mit einem Familienleben, das entweder ernüchtert betrachtet wird oder tatsächlich gescheitert ist und mit Freundschaften, die nicht nur ständig an gesellschaftlichen Erwartungen und kollektiven Vorstellungen gemessen werden, sondern auch immer neuen Belastungsproben ausgesetzt werden, wodurch sie sich wohl nie als langweilig, dafür aber als äußerst fragil erweisen.

Die Figuren bei Stelling sind stets auf der Suche nach Drama, nach Abenteuer, nach etwas anderem. Die Figuren bei Bužarovska versuchen jegliches Drama zu vermeiden und in einem restriktiven Umfeld, in denen die Geschlechterverhältnisse und -rollen klar verteilt sind und ein Ausbruch gar nicht zur Debatte steht, irgendwie zu überleben. Während der Überdruss und die Desillusionierung bei Stelling beim Lesen gelegentlich unerträglich sind, hat auch das selbstironische bzw. kontrollierte Verhalten bei Bužarovska ihren Preis: am Ende der Erzählungen gibt es auch hier ein Ventil, die unterdrückte Gewalt geht letztlich auf Kosten der Kinder. Durch die bei Bužarovska keinesfalls und bei Stelling nicht nur realistisch gemeinten Plots wird bei beiden Autor:innen die schmale Grenze sichtbar, die zwischen einem gelungenen Leben mit zeitweisen Ausfällen und Enttäuschungen, und solchen Lebensmodellen, die vor allem an der Oberfläche funktionieren, darunter jedoch zahlreiche Abgründe verdecken, verläuft. Ob die jeweiligen Lebensmodelle konservativ oder alternativ sind, scheint – liest man die beiden Erzählbände nebeneinander – gar nicht der entscheidende Punkt zu sein.

Männer und Frauen: Perspektiven auf heteronormative Beziehungen von Anke Stelling, Rumena Bužarovska und Chris Kraus

Anke Stelling, Rumena Bužarovska und Chris Kraus schreiben auf ganz unterschiedliche Art und Weise über heteronormative Beziehungen und über das Leben von Frauen in der kapitalistischen, patriarchalen Gegenwart. Die schriftstellerische, bisweilen ausgeprägt künstlerisch-konzeptuelle Annäherung an ganz verschiedene Lebensmodelle speist sich aus der geteilten weiblichen Erfahrung und fällt in ihren Analysen und Urteilen individuell ganz anders aus. Hier ist es bei Weitem kein Zufall, dass diese Narrative von Frauen geschrieben sind, ebensowenig nebensächlich ist die Tatsache, dass die Autorinnen sich verstärkt für die Ehefrauen (besonders Rumena Bužarovska und Chris Kraus), Künstler:innen (in Selbstbeobachtung und gesellschaftspolitischer Analyse bei Chris Kraus, für die gesellschaftlich gut situierten Hobbykunstschaffenden Rumena Bužarovska) und das auch im 21. Jahrhundert immer noch präsente Ungleichgewicht zwischen den immer weiterziehenden, sich selbst verwirklichenden Männern und den irgendwie mit Kindern, beruflichen Abstiegen und schrullig wirkenden Sehnsüchten festsitzenden Frauen (so am Beispiel von Heiner und Claudia in „Ranunkeln“ bei Anke Stelling), interessieren.

Zum Beitrag: Zwei Erzählbände über heteronormative Beziehungen im Patriarchat: „Mein Mann“ von Rumena Bužarovska und „Grundlagenforschung“ von Anke Stelling

Bald: Die Künstlerin als Ehefrau