Cover Die Wut die bleibt

Mareike Fallwickls „Die Wut die bleibt“

Mareike Fallwickl spricht in ihrem neuen Roman Die Wut die bleibt viele Themen an, die in der Gegenwartsliteratur unterrepräsentiert sind und mit denen das Buch einige wichtige Debatten anstoßt: Es geht um die Lage von Familien während der Corona-Pandemie, es geht um die unbezahlte Care-Arbeit von Frauen, es geht um abwesende Väter, um gesellschaftliche Rollenerwartungen an Frauen, um Gewalt gegen Frauen sowie um Gegengewalt und Feminismus.

Das Buch setzt auf einen eingängigen Plot: Helene, Mutter von drei Kindern, hat sich während der Pandemie und davor wahrscheinlich auch, um den Nachwuchs, den Haushalt und den Ehemann gekümmert, während letzterer sich größtenteils entzieht und mit der vermeintlich wichtigeren „Erwerbsarbeit“ herausredet. Die Vorgeschichte steht nicht im Mittelpunkt, das Buch beginnt direkt mit der Szene, in der Johannes eine Frage stellt, die harmlos daherkommt, aber implizit so herabwürdigend ist, dass Helene zum Balkon geht und herunterspringt. Die Frage von Johannes war folgende:

Haben wir kein Salz, sagt Johannes beim Abendessen, sagt es genau so: Haben wir kein Salz, und nicht einmal in Helenes Richtung. Sie hört das Du in seiner Formulierung, hört: Hast du es vergessen, hört: Du hast doch gekocht, hört: Stehst du noch mal auf, und alle diese Dus schlagen ihr die Kraft aus dem Körper. Matt und müde sitzt sie da, in ihren Ohren das schwere Dröhnen. Wie es anschwillt. Wie es körperfüllend wird, sodass da kein Platz mehr ist, nicht einmal für den nächsten Atemzug.  

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Hamburg: Rowohlt Verlag 2022, S. 9, im Original kursiv.

Die Pandemie hat die Last auf ihren Schultern vergrößert, es wurde noch deutlicher, dass Mütter weder vom Staat noch von der Gesellschaft und in vielen Fällen auch nicht vom näheren Umfeld Hilfe erwarten können. Sie sind auf sich allein gestellt, müssen den Ansprüchen der Kinder gerecht werden, während sie den Haushalt stemmen und zusätzlich den gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen ausgesetzt sind.   

Es geht in diesem Buch nicht nur um die Frage der Care-Arbeit für Kinder, sondern auch darum, dass Frauen oft nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Ehemänner oder Lebenspartner versorgen. Das wird auch in der Parallelgeschichte über Sarah, Helenes Freundin, thematisiert, die während der Pandemie mit Leon zusammengezogen ist und ganz selbstverständlich das Aufräumen übernimmt. Es geht in diesem Roman im Kern um die Frage, wer in einer Familie das Vakuum füllt, das entsteht, wenn die Mutter plötzlich ausfällt.

Eigentlich sollten die Väter die naheliegende Antwort sein. Um die Väter geht es bei Fallwickl aber nicht, Johannes kommt bis zur Hälfte des Buches kaum zu Wort. Die von Helene hinterlassene Lücke wird sofort von Sarah gefüllt, sie versorgt die Kinder, putzt und kocht, auch für Johannes. So abwesend wie Johannes in der Familie ist, ist er auch im Roman. Darin geht der Plot voll auf: Die von Helene dagelassene Lücke wird ganz selbstverständlich von einer anderen Frau, nämlich von ihrer besten Freundin Sarah, eingenommen. Als diese dann – Vorsicht, Spoiler-Alarm – irgendwann doch geht und die Familie sich selbst überlässt, tut auch sie es in der Hoffnung, dass schon bald die nächste Frau kommen wird.

Das macht etwas mit … Sarah, die in diesem Urlaub immer wieder darüber nachdenkt, dass sie eine Platzhalterin ist, eine Übergangsfrau. Nicht nur wegen Helene, die fehlt, Helene, die ersetzt werden musste, sondern wegen der Frau, in die Johannes sich verlieben wird. Aus seiner nächsten Beziehung wird vermutlich eine Patchwork-Familie, und die nächste Frau wird sich nicht für Wochen um Maxi und Lucius kümmern, sondern für Jahre, sie wird die Bonusmutter sein, die Stiefmutter, die vielleicht auch eigene Kinder mitbringt. Sie werden gemeinsam in dem neuen Haus leben, ob das wohl sein Plan ist? So schnell wie möglich eine Freundin finden, sich wieder einrichten in einem Gefüge, in dem alles ist wie vorher, nur mit einem anderen Muttergesicht.

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Hamburg: Rowohlt Verlag 2022, S. 269f.

Diese Ebene der Handlung, auch die gesellschaftliche Analyse, die dahintersteckt, ist überzeugend: Die Care-Arbeit wird überwiegend von Frauen geleistet und Männer haben beste Chancen, später in einer neuen Patchwork-Konstellation zweite und dritte Versuche zu starten. Die Belastung, die anstrengende Situation mit einer Teenagerin und zwei Kleinkindern, die Mental Load, die auf einer einzigen Schulter lastet und die nach dem Tod seiner Frau nicht auf Johannes, sondern direkt auf Sarah übergeht, wird mit eingängigen Szenen dargestellt.

Es geht – das ist von Anfang an klar – nicht so sehr darum, einen psychologischen Roman über eine Familie mit klassischer Rollenverteilung während der Pandemie zu erzählen, sondern um strukturelle und politische Fragen. Nach der Hälfte des Romans wird jedoch zunehmend unklar, warum die Erzählerin (und die Autorin) sich eigentlich nicht für Johannes interessiert. Einerseits werden die Lesenden dadurch vor den üblichen Rechtfertigungen und Ausreden vieler Väter (und Mütter) verschont, die erklären sollen, warum sie angeblich gar keine andere Wahl haben als sich der Care-Arbeit komplett zu entziehen und warum andere dafür zuständig sein sollen, ihre Kinder zu erziehen. Andererseits entsteht dadurch im Text eine Leerstelle, die im weiteren Geschehen zunehmend von zwei Handlungssträngen gefüllt wird – dem einen um Lola, die sich mit drei Freund:innen zu einem Schläger:innentrupp zusammentut, der Selbstjustiz an gewalttätigen Männern verübt, und dem anderen um Sarah, die versucht, sich sowohl von Leon als auch von Johannes zu lösen, von denen sie ausgenutzt wird. Keine der Männerfiguren bekommt eine Stimme oder ein Gesicht – im schlimmsten Fall sind die Männer in diesem Roman übelste Gewalttäter, im besten Fall ignorant und abwesend.

Für sich genommen werden in den Parallelhandlungen spannende Aspekte beschrieben: die gesellschaftlichen Erwartungen an Beziehungen, internalisierte Frauenfeindlichkeit, der Wandel feministischer Perspektiven und Praktiken, das Ablegen von Rollenerwartungen in der jüngeren Generation, das Ausüben von Kampfsport zur Selbstverteidigung anstatt Anpassung und vieles mehr.

Mit fortschreitender Handlung, in der sich die Frauen emanzipieren, kommt hinter den Schattierungen und Differenzierungen, die der Roman bereithält, allerdings zunehmend ein schwarz-weißes Bild zum Vorschein. Vor dem Hintergrund der durchweg negativen Männerfiguren befreit sich Sarah von ihrem Verantwortungsgefühl und Lola schlägt zu, wenn es sein muss. Während sich die beiden Frauen entwickeln, passiert mit den Männerfiguren überhaupt nichts.

Was wäre die Alternative gewesen? Johannes hätte sich entgegen gesellschaftlicher Erwartungen zum „ausreichend guten Vater“ (frei nach Donald Winnicott, der mit der „good enough mother“ ein Gegenkonzept zur idealisierten Mutter geschaffen hat) entwickeln können. Dieses Ende wird nicht einmal in Aussicht gestellt, denn Sarah stellt sich – siehe Zitat oben – vor, dass Johannes die Kernfamilie übergangsweise schon irgendwie versorgen wird, dann aber sicher bald eine neue Partnerin für eine Patchworkfamilie findet. Selbst wenn das von Sarah zynisch gemeint ist, ist es bezeichnend. Die Vaterfigur entwickelt sich nicht, er ist gefangen in der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft, Veränderung ist nicht in Sicht.

Was ist im Titel mit der Wut gemeint, die bleibt? Die Wut der zurückgelassenen Tochter Lola, die um ihre Mutter trauert und sich zugleich mit struktureller und physischer Gewalt gegen Frauen auseinandersetzen muss? Die Wut der Familien, die während der Corona-Pandemie kaum Unterstützung erfahren haben? Die Wut gegen die Männer und die Gewalt? Die Wut gegen die Kinder, die den der Raum der Mütter nach und nach einnehmen? Alles zusammen?

Der Roman spricht viele wichtige Themen an, erzählt von überforderten Müttern, von abwesenden bzw. ignoranten und gewalttätigen Männern sowie von einer frauenfeindlichen Gesellschaft. Der Plot um die Frage, wer das Vakuum besetzt, das mit dem Tod einer Mutter entsteht, wird jedoch in alle Richtungen geöffnet: Es geht um das Zusammenleben mit Kindern, um Gewalt an Frauen, um die (Un-)Möglichkeit einer romantischen Beziehung in der heteronormativen Gesellschaft, um Kindesmissbrauch, um die Frage, ob Frauen mit Kriminalromanen ihr Geld verdienen sollten, in denen Frauen immer nur die Opfer sind. Mit dieser Überfrachtung kommt es zwangsläufig zu einem erzählerischen Problem, das sich kaum auflösen lässt: der Plot verlangt eigentlich nach einer schlankeren Struktur, die Gesellschaftskritik schreit dagegen nach einer ausschweifenderen Erzählung und nach Figuren, die stärker mit Leben gefüllt und differenzierter gezeichnet sind.  

Während sich Autorinnen wie Anke Stelling oder Rumena Bužarovska direkt in die Widersprüche heteronormativer Strukturen hineinbegeben und von den Verstrickungen und Dynamiken der Beziehungen im Patriarchat erzählen, interessiert sich dieser Roman nur für die Perspektive der Frauen. Die ist zweifellos wichtig. In der Familienkonstellation fehlt dennoch die Perspektive des Ehemannes und Vaters der beiden kleinen Kinder, ebenso die des Vaters der größeren Tochter Lola.

Dadurch, dass die männlichen Figuren überhaupt nicht an Tiefe gewinnen, ergibt sich eine merkwürdige Nähe zwischen den arbeitenden, abwesenden Vätern und den gewalttätigen Männern aus dem anderen Handlungsstrang des Buches. Keine Rolle spielen überraschenderweise die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, die dazu führen, dass solche klassischen Rollenmodelle – auch entgegen der Wünsche sicherlich nicht der Masse, aber doch zumindest einiger Eltern – weiterhin gelebt werden. Die Diskussionen darum, wer in Elternzeit geht, wer mehr Geld verdient oder wer bessere Chancen auf die Karriere hat, ob eine:r oder beide oder keine:r Karriere macht, ob die Familie zugunsten der gerechteren Verteilung vielleicht lieber auf ein Haus verzichten sollte, werden hier nicht geführt. Dagegen lässt sich einwenden, dass in einem Roman, in dem es um die Erschöpfung der Frauen mit Care-Verpflichtungen geht, nicht alle möglichen Dinge verhandelt werden können. Genau. Vielleicht wären die erschöpften Frauen und die abwesenden Väter genug gewesen. 

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Hamburg: Rowohlt Verlag 2022.

Donald W. Winnicott: The Child, the Family, and the Outside World. Harmondsworth: Penguin 1964.