Das Coverbild von Jan Faktors Trottel ist in Grau gehalten, Autor und Titel in großen schwarzen Buchstaben. In der Mitte ist ein geöffnetes Zugfenster zu sehen.

Jan Faktor: Trottel (Shortlist für den Deutschen Buchpreis)

Vielleicht nähert man sich Jan Faktors für den Deutschen Buchpreis nominierten Buch Trottel am besten durch das, was es nicht ist: Der Trottel ist kein Schelm, daher handelt es sich nicht um einen Schelmenroman. Und der autobiografisch geprägte Roman ist keine Autofiktion im Sinne der zurzeit auf die Literatur der Gegenwart angewendeten Definition, daher geht es hier nicht um detailgenaue, die eigenen Beweggründe und Abgründe erforschende Introspektion eines mehr oder weniger mit dem Autor identischen Ich-Erzählers. Jan Faktor legt einen Roman vor, der die Vergangenheit erforscht, sehr akribisch zum Teil. Er arbeitet mit Fußnoten, Kapitälchen, Einschüben in Klammern sowie mit Durchstreichungen. Sprachlich versucht er, sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart in den Griff zu bekommen, was immer wieder auf schönste Art und Weise misslingt.

Der Ich-Erzähler ist in der Gegenwart verankert, versucht sie auch zu antizipieren, es schleicht sich aber stets eine gewisse Unschärfe ein. So wirkt er einerseits an vielen Stellen ein bisschen aus der Zeit gefallen, bemüht sich aber immer – ganz im Sinne der Figur des Trottels – den Eindruck zu erwecken, auf der Höhe der Zeit zu sein. So wird in diesem Text an vielen Stellen bewusst auf das generische Maskulinum verzichtet, das Gendern will aber auch nicht recht gelingen.

Im Grunde muss ich mich jeden Tag nur fragen, womit ich konkret Lust hätte – und wie –, diese Geschichte fortzuschreiben, und schon mache ich alles richtig: formal, inhaltlich, tonstimmig oder trockenbodennassständig. Nebenbei ist mir natürlich aber auch klar, wie inhaltslos derartig großspurige Begleitbehauptungen – wie diese gerade losgetutete – sind und wie pathologisch sie auf manche Lesetrinen und Leseterrier wirken dürften.

Trottel, S. 166.

Mit den „Lesetrinen und Leseterrier[n]“ gibt der Erzähler das Gendern nicht der Lächerlichkeit preis, was beim oberflächlichen Lesen vielleicht zunächst so erscheinen mag. Im Gegenteil, er erkennt, dass es unzeitgemäß wäre, nur von „Lesern“ zu sprechen, ein schwungvolles und selbstbewusstes „Leser:innen“ will aber eben auch nicht zu der Figur passen, die sich hier gerade an den Rückblick auf ihr Leben macht. Die Gegenwart ist präsent, ihre volle Antizipation hätte aber wohl dazu geführt, dass die Identifikation mit dem früheren Ich des Erzählers, das in ganz anderen Zeiten und in ganz anderen politischen Systemen verortet werden muss, vielleicht nicht so überzeugend gelungen wäre.   

Das Buch erzählt von einem Menschen, der während des Sozialismus von Prag nach Ostberlin übergesiedelt ist, wo er schließlich seine Frau kennenlernen und einen Sohn bekommen wird. Während, so berichtet der Ich-Erzähler, die Wohnungen in Prag als Treffpunkte für Freunde völlig ungeeignet gewesen seien, da sie fast vollständig von sperrigen Möbeln von Verwandten vollgestellt waren, sei es in Berlin möglich gewesen, einfach so zu leben, wie es am Praktischsten für alle war. Während sich in Prag das Leben in der Öffentlichkeit – vor allem in den Kneipen – abspielte, verlagerte es sich mit dem Umzug nach Berlin in die Wohnungen der Freunde.

Der Roman lässt sich als Zeugnis des Alltags sowohl in Prag als auch in Ostberlin lesen, auch über den zur damaligen Zeit üblichen Proviant während der Pendelei zwischen den beiden Städten lässt sich einiges erfahren, es gibt seitenlange Referate über den Vergleich zwischen der Prager Band The Plastic People of the Universe und Rammstein sowie Schilderungen über verschiedene Berufe, die der Ich-Erzähler ausgeübt hat. Der Stil protzt mit Wortungetümen und Neologismen, diese dienen aber nicht dem Selbstzweck, sondern sind tatsächlich hilfreich, um der Figur des Trottels näher zu kommen.

Bloß dass ich hier strukturell nichts durcheinanderbringe! In die Zeit meiner Brötchenausfahrerkarriere fallen nämlich auch schon meine regelmäßigen Fahrten in die Deutsche Reichsbananenrepublik. Vielleicht könnte ich im folgenden Abschnitt über meine Erlebnisse als ein grenzentgrenzter Hominide auf einer anderen Erzählebene berichten, fällt mir ein, einiges davon zum Beispiel auf transparente Folien tippen und diese dann raumsparend auf die Blätter mit meiner Basiserzählung legen.

Trottel, S. 87.

In einem solcherart mit der Gemachtheit des Textes spielenden Roman ist die Bedeutung der stilistischen Überspitzungen, die immer wieder ganz gewollt ins Lächerliche zielen, auch darin begründet, dass sie auf die Literarizität und Fiktionalität des Textes aufmerksam machen. Darüber hinaus wirkt der Text so, als sei er chronologisch entstanden – die Teile scheinen so angeordnet zu sein, wie sie geschrieben wurden – dabei bleibt es nicht aus, dass in den späteren Kapiteln einige bereits erzählte Ereignisse oder Begebenheiten nochmals aufgenommen werden, um bestimmte Details hinzuzufügen oder auch abzuändern. Der Erzähler ist nicht unbedingt ein unzuverlässiger, sondern eher ein „trotteliger“ oder, so ließe sich mit dem Text selbst sagen, einer mit „mangelhafte[r] Lauterkeit“ (215), da er sowohl auf der Ebene der erzählten Ereignisse (es ergeben sich Wiederholungen und Variationen usw.) als auch auf der Ebene ihrer schriftlichen Darstellung und literarischen Gestaltung (Überfrachtung durch allerlei Paratexte wie zum Beispiel die zahlreichen Fußnoten und ständig eingefügten Metatexte wie Entschuldigungen und Verweise) keine Versuche unternimmt, seinen Text und seine Geschichten nachträglich geradezurücken, umzustrukturieren oder zu glätten.   

Ausgerechnet in diesem Text thematisiert der Autor Jan Faktor den Selbstmord seines Sohnes – ein schweres Thema, das zu dem Stil des Romans nicht so recht zu passen scheint. Andererseits zeigt gerade in Bezug darauf die Figur des Trottels seine Stärke: Indem der Ich-Erzähler die Ereignisse eher sachlich einordnet, indem er die Erlebnisse mit seinem Sohn zwar in liebevollen Worten, aber zugleich aus einer gewissen Distanz beschreibt, schafft der Text Raum für den Sohn, der hier eben nicht nur als Objekt der Trauer des Vaters dargestellt wird.

Insgesamt handelt es sich um einen starken Text, der dem Ich-Erzähler nahekommt, ohne ihn und sein Umfeld der in der Autofiktion verbreiteten Introspektion und psychologisierenden Verurteilung auszusetzen – das Lachen geht hier dann, anders als bei Autor:innen wie Knausgård, auch nicht auf die Kosten der Familie, die der Nabelschau ohne ihr Einverständnis preisgegeben wird. Das Lachen über sich selbst, statt auf die Kosten der anderen, steht in Jan Faktors Trottel im Vordergrund. Darüber hinaus ist der Roman eine willkommene Abwechslung zum häufig behaupteten Trend der immer glatter erzählten und perfektionistisch geplotteten Gegenwartsliteratur.        

Jan Faktor: Trottel. Kiepenheuer&Witsch 2022.

Das Bild zeigt das Cover von Kim de l`Horizons Blutbuch, es ist in den Farben rot und blau gehalten. Vor blauem Hintergrund erscheinen zwei menschliche Figuren, deren Arme in Zweigen aufgehen.

Kim de l’Horizon: Blutbuch (Shortlist für den Deutschen Buchpreis)

Kim de l`Horizons Blutbuch ist 2022 beim Dumont Verlag erschienen, steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, ist bereits mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung 2022 ausgezeichnet worden und erzählt von einer Kindheit in der Schweiz, vom Aufwachsen in und mit der Natur, von komplexen Familienstrukturen und einem Coming-of-Age-Prozess. Ein nicht-binäres Ich schwankt zwischen Zugehörigkeit und Befreiung, die fortschreitende Demenz der Großmutter dient als Motiv, um sich mit der Familiengeschichte auseinanderzusetzten. Die Familienmitglieder werden nicht nur in ihrem Wirken auf das Kind dargestellt, sondern treten auch als vielschichtige Figuren in ihrer eigenen Verletzlichkeit in Erscheinung. Durch den kulturgeschichtlichen Ansatz, der die Thematik des Aufwachsens in einer zumindest nicht im klassisch-großstädtischen Sinne bürgerlichen Familie mit der Geschichte der Blutbuche verknüpft, gelingt es Kim de l`Horizon von einer Kindheit inmitten der Natur zu schreiben, die von dem Einkochen von Früchten, ländlichen Gerichten, dem Schlachten von Hühnern und dem Sitzen unter Bäumen geprägt ist, ohne in Naturromantik oder zynische Idyllenverachtung zu verfallen. 

Kim de l`Horizons Erzählperspektive wechselt immer wieder, bleibt aber deutlich an das erzählende Ich gebunden. Einmal ist es näher bei dem Kind, das es sich aus Erinnerungen, Erzählungen und Fiktionen zusammensetzt und bei dem früheren Kindeskörper, der in seiner Umgebung nach einem Ausdruck sucht, der nicht bereits von Herrschaftsdiskursen, Verboten oder schamhaften Abwehrmechanismen durchdrungen ist. Dann ist es wieder bei sich selbst, sechsundzwanzigjährig, schreibend, an einem Schreibtisch in Zürich sitzend, die Besuche bei der dementen Großmutter planend, die einen selbstgestrickten pinken Pullover bestellt hat, für den die Wolle aber viel zu hell ist. Ein Grund, die Besuche immer wieder hinauszuzögern. Nach den ersten beiden Kapiteln, die vor allem von der Kindheit erzählen, ringt das Erzähl-Ich im dritten Kapitel mit der Struktur der weiteren Kapitel, und findet dann zu einer zynisch-ironischen Stimme, die vom Coming-of-Age-Prozess in der Hipster:innen- und Schwulenkultur zwischen Zürich und Berlin erzählt, eine Zeit, die noch zu nah zu sein scheint, um nicht über sich selbst lachen zu müssen. Es geht um die „Crème de la Crème der Gen-Y-Hipsterei […], koschere Zimtschnecke[n], […], Leif-Randt-life-Clowns [… und um] wohlstandsverwahrlostes Weisssein, in dem es nur um Distinktion geht“ (Blutbuch, S. 122).

Und ich weiss, ich werfe jetzt all die Schwuletten in einen Topf und Verallgemeinerung gähn, und es ist eine zynische, aufgekratzte Erzählstimme, die ganz plötzlich und angestrengt popliterarisch über diesen Teil schwubuliert, und dafür entschuldige ich mich auch, echt, entsorrygung.

Blutbuch, S. 124

In den beiden folgenden Kapiteln verschiebt sich der Fokus nochmals, im vierten Teil werden von der Mutter gesammelte Lebensläufe von Frauen eingefügt, darunter Heiler:innen und Hexer:innen, der fünfte Teil wird in Briefen an die Großmutter erzählt, die auf Englisch wiedergegeben werden.

Anhand der Kulturgeschichte der Blutbuche, die nicht nur titelgebend und eine der prägendsten Erinnerungen an die Kindheit ist, wird eine Aufstiegsgeschichte anhand von kleineren Ungereimtheiten in der Familiengeschichten erzählt, die nicht zu dem an der Oberfläche stimmigen Narrativ zu passen scheinen. Warum hat der Urgroßvater eine Blutbuche in den Garten gesetzt, der eigentlich als Nutzgarten konzipiert war, dessen Ernte der Deckung des Familienunterhalts dienen sollte? Der Baum nahm nicht nur Platz für andere, nützlichere Pflanzen weg, sondern spendete auch viel zu viel Schatten. Während der Recherche nach diesem Detail, den das schreibende Ich unternimmt, als es im dritten Teil nicht so recht weiterkommt mit dem Erzählen und als das Gespräch mit der Großmutter aufgrund der Wolle in der falschen Farbe immer weiter hinausgezögert wird, entspinnt sich eine kulturgeschichtliche Annäherung an die Familiengeschichte, die sich an der Frage entzündet, warum sich der Großvater einen so teuren Baum in seinen Garten gesetzt hat.

… wie ich der Spur der Blutbuche gefolgt bin, wie ich das Netz durchforstet habe, die botanischen Gärten des deutschsprachigen Raumes abgegrast habe, die Deutsche Dendrologische Gesellschaft und die Gesellschaft Deutsches Arboretum geschröpft habe, Fachmenschen ausfindig gemacht und ihnen jede Unze Blutbuchenwissen ausgepresst habe und sogar mal zu Meer bin, um alles Material zum Garten zu durchforsten (seit sie unser altes Haus vermietet, hat sie alles von Urgrosspeer zu sich genommen, all die alten Werkzeuge, Quittungen, Fotos, Verzeichnisse).

Blutbuch, S. 134f.

Letztlich führt die Spur der Blutbuche – die sich als „cheapeste Rolex des 19. Jahrhunderts“ (S. 135) entpuppt – zu einer selbstkritischen Einordnung des erzählenden Ichs, das sich am Anfang klassenbewusst präsentiert („Wir sprachen nie über Politik oder Literatur oder die Klassengesellschaft oder Foucault oder darüber, dass Mutter die Matur auf dem zweiten Bildungsweg abbrach, als ich auf die Welt kam.“ S. 9f.), dann aber nach und nach über die eigene Distinktionsperformanz nachdenkt, die einerseits von einer Queerness geprägt ist, die auch „cool und edgy“ (139) ist, und andererseits durch den Bildungsaufstieg à la Eribon.

Was ich nicht checkte und was mein mit haufenweise Bourdieu & Eribon angefuttertes Ich jetzt checkt: Natürlich protzte ich mit anderen Dingen rum in dieser Zeit – meiner Bildung […]. Meine Ego-Aufspritzung waren die Meter an Foucault, Bourdieu und Butler, die ich in meinem Büchergestell präsentierte. Wir spuckten auf das ökonomische Kapital, aber leckten das kulturelle Kapital umso gieriger auf.

Blutbuch, S. 142f.

Das Protzen mit Zitaten und Referenzen an Autor:innen, die sich mit Klassismus, Gender und Queerness, aber auch mit Dekonstruktion und gesellschaftlich repressiven Diskursen auseinandergesetzt haben, wirkt in diesem Buch nie aufdringlich oder bildungsbürgerlich distinktiv, wahrscheinlich aufgrund des durchgängig selbstkritisch-reflexiven Zugangs. Auch sprachlich ist das Buch unangestrengt innovativ und anregend – so wird zum Beispiel „mensch“ statt „man“ benutzt, es werden unglaublich viele Anglizismen verwendet, es gibt in jedem Kapitel neue stilistische Annäherungen an die zu erzählende Geschichte. Eine sehr erfreuliche Nominierung für den Deutschen Buchpreis.    

Kim de l’Horizon: Blutbuch. Dumont 2022.