von Diana Hitzke
Die beiden Autor:innen Duygu Ağal und Lejla Kalamujić erzählen auf ganz unterschiedliche Art und Weise von dem Coming-of-Age zweier weiblich gelesener lesbischer Personen. In beiden Texten steht die Beziehung der Protagonist:innen zu ihren Müttern im Vordergrund und beide Mütter sind während des Prozesses des Erwachsenwerdens abwesend. Die Mütter können aus verschiedenen Gründen nicht direkt adressiert werden, wodurch die Literatur zum Ort der Auseinandersetzung wird. Beide Mütter wirken darüber hinaus wie aus einer anderen Zeit. Dies kommt in der Anfangszene bei Kalamujić besonders deutlich zum Ausdruck.

In diesen ersten Zeilen steckt einiges: Wir erfahren vom Ende eines Mediums, nicht irgendeines Mediums, sondern der Schreibmaschine – Symbol für das Schreiben in einer Übergangsperiode, die nun zu Ende zu sein scheint. Zugleich klingt mit dem Schließen der Schreibmaschinenfabrik auch das Ende des 20. Jahrhunderts an, der Epochenwechsel wird als deutlicher Bruch im Leben der Protagonistin markiert. Weiterhin erfahren wir, dass die Mutter Stenotypistin war, also einen Beruf ausgeübt hat, der nun nicht mehr gefragt ist. Gleich danach wird klar, dass die Mutter nicht mehr lebt, den Untergang ihres Berufes hat sie wie den größten Teil des Lebens ihres Kindes nicht erlebt. Das Kind, die Ich-Erzählerin, war zwei Jahre alt, als die Mutter starb und hat daher auch keine Erinnerungen an sie. Referenzen an den Mutter-Text von Albert Camus, Der Fremde, sowie an den Erinnerungstext Mamac von David Albahari, in dem der Ich-Erzähler versucht, die auf Tonband gesprochenen Worte seiner Mutter einem ebenfalls veralteten Medium zu entnehmen und in ein Buch zu retten, klingen an; die Leichtigkeit und Tragik aus den Almodovar-Filmen (Esteban im Titel legt die Spur dahin) ist mit der 22-jährigen jungen Mutter und Stenotypistin ebenfalls sofort präsent.
Kalamujićs Protagonistin muss sich eine Mutter vorstellen, sie kann sich – anders als Albaharis Erzähler, für den sich die Tonbandaufnahmen mit der Stimme der Mutter mit seinen eigenen Erinnerungen vermischen – nicht an die Mutter erinnern. Die Gespräche mit ihr über die erste Liebe, über die Schwierigkeiten der Teenagerzeit, führt sie in ihrer Vorstellung; sie sitzen zusammen, rauchen und plaudern. Auch Derins Mutter in Yeni Yeşerenler von Duygu Ağal ist abwesend. Während es in diesem Text liebevolle Kindheitserinnerungen an schöne gemeinsam verbrachte Familienzeit und Momente mit der Mutter gibt, bringt die sexuelle Orientierung der Tochter eine unüberbrückbare Distanz zwischen sie und ihre Familie. In Dialogen mit der Mutter imaginiert sie eine Annäherung, die in der Realität niemals stattfinden wird, da offene Gespräche über die sexuelle Identität von Derin in dem familiär-gemeinschaftlichen Gefüge undenkbar erscheinen.
Bei Kalamujić ist der zeithistorische Wandel sehr präsent – das Aussterben des Berufs der Stenotypistin steht für den Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert, deutet aber auch den Wechsel vom sozialistischen zum kapitalistischen System an; der Kriegsausbruch wird leise im Hintergrund sichtbar, als Einschnitt für Kinder und Jugendliche, die sich eigentlich mit Musik und Popkultur beschäftigen sollten, stattdessen aber entsetzlichem Leid ausgesetzt sind; weiterhin skizziert Kalamujić auch die Zeit nach dem Ende des Krieges als Übergangszustand, dafür findet sie das Bild einer Bahnfahrt, für die mehrere Stunden Wartezeit einkalkuliert werden müssen, da es aufgrund der vielen Grenzen ständiger Kontrollen bedarf.
Bei Ağal sind die äußeren Umstände und zeitgeschichtlichen Kontexte – hier ergänzen sich beide Bücher in ihrer unterschiedlichen Ausrichtung – kaum präsent, sie werden nicht zu literarischen Bildern verdichtet, sondern, dort wo es nötig ist, einfach benannt und auf den Tisch geknallt. Das Verbundensein der Protagonistin mit ihrer Familie macht Ağal auf wenigen Seiten sehr deutlich: die unhinterfragte Präsenz der Großfamilie, die Rolle des:der Einzelnen in einem nicht nur als Kernfamilie gedachten Gefüge, die Nähe zu den Eltern und Geschwistern durch die räumliche Enge; all das macht den hohen Stellenwert der Familie deutlich und begreifbar, warum die Ablehnung Derin so stark trifft. Das Erwachsenwerden geht in diesem Kontext eben nicht automatisch einher mit einer Ablösung von der Familie, sondern ist ganz im Gegenteil geprägt von dem Erreichen eines bestimmten Status innerhalb dieses Gefüges und auch innerhalb der türkischen Community.
Zovite me Esteban (Nennt mich Esteban) von Lejla Kalamujić
Lejla Kalamujić erzählt in ihrem 2015 in Sarajevo auf Bosnisch erschienenen Buch Zovite me Esteban (Nennt mich Esteban), einem Erzählband, der sich allerdings fast wie ein kurzer Roman liest, von der Adoleszenz einer jungen Frau während der Zeit der Belagerung von Sarajevo. Dabei stehen die Belagerung und der Krieg nicht im Vordergrund, vielmehr bilden sie den Hintergrund dieser Erzählungen über die Gefühle der Protagonistin Snežana, die bereits als kleines Kind ihre Mutter verloren hat und deswegen mit ihrem abwesenden Vater bei ihren Großeltern aufwächst. Das Aufwachsen ohne Mutter, der Krieg und die Identitätsfindung sind miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Das Imaginieren-Erinnern an die Mutter und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Erwachsenwerden inszeniert Kalamujić mit stets bewusst und klug gesetzten literarischen Referenzen – zugleich wird mit dem Verweis auf das Schließen der letzten Schreibmaschinenfabrik in der ersten Szene auch auf das Ende einer bestimmten Schreibpraxis (mit Manuskripten, Kopien und Überarbeitungen) verwiesen, wodurch auch die Grenzen literarischen Schreibens bewusst gemacht werden. Da die Spuren der Mutter aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden, weil ihre Berufsbezeichnung bald niemandem mehr etwas sagen wird, versucht Snežana ihre Mutter in den Erinnerungen der anderen Familienmitglieder, in alten Fotos und Videos aufzuspüren, was sich nicht einfach gestaltet.
Während die Nachricht über den Tod der Mutter die ersten Seiten von Camus‘ Der Fremde prägt, spielt bei Kalamujić auch Der erste Mensch eine Rolle. Das Motiv des Protagonisten, der am Grabstein seines Vaters steht und entdeckt, dass er nun älter ist, als der Vater im Jahr seines Todes war, wird hier mit der Tochter, die ebenfalls älter ist, als die Mutter jemals geworden ist, varriert. Während es bei Camus um die Erinnerung an den im ersten Weltkrieg gefallenen Vater geht, steht hier die Mutter im Vordergrund, die den Ausbruch des Krieges nicht mehr erleben musste. Die bereits im Titel präsente Referenz auf Pedro Almodóvars Film Alles über meine Mutter führt weitere Themen ein: Esteban, die Hauptfigur des Films, verunglückt, weswegen sich seine Mutter auf die Suche nach dessen Vater macht, der:die mittlerweile als Transfrau lebt. Dadurch werden Referenzen miteinander verwoben, die nicht nur auf die Kriege des 20. Jahrhunderts und auf prägende Vaterfiguren verweisen, sondern auch die Mütter, Geschlechtlichkeit und sexuelle Identität sichtbar machen.
Yeni Yeşerenler von Duygu Ağal
Während sich Kalamujićs Erzählungen fast als kleiner Roman lesen lassen, ist Duygu Ağals Buchdebüt stärker fragmentarisch angelegt. Ağal erzählt in Yeni Yeşerenler in kleinen, prägnanten Szenen, sprachgewaltig und mit großer Wachheit die Geschichte von Derin. Motivisch zwischen Coming-of-Age und Coming-out angesiedelt, werden deutsch-türkische Familienstrukturen, deutscher Klassismus und Rassismus sowie die Ausgrenzungen, die eine türkisch-queere Person auch in privaten Beziehungen und im zunächst als safe space erscheinenden Frauenfußball erlebt, beschrieben. Derin führt einen fiktiven Dialog mit ihrer Anne, ihrer Mutter. Die imaginierten Gespräche stehen für eine Auseinandersetzung mit ihrer türkischen Familie, die auf diese Art und Weise nicht stattfinden können und vielleicht nie stattfinden werden. Zu stark sind die Erwartungen an eine Frau, als die sie in der binären Wahrnehmung gelesen wird, sich den heterosexuellen, patriarchalen Strukturen zu unterwerfen – Homosexualität ist in der Familie nur in Form von homophoben Sprüchen und Abwehrmechanismen präsent.
Die Anordnung einzelner Szenen, die sich einer chronologischen Einordnung versperren und sich auch in der Erzählweise unterscheiden, da sie manchmal eher wie Tagebucheinträge wirken, ein anderes Mal stärker narrativ strukturiert sind und dann wieder essayistisch werden, passen zu dem Motiv des Heranwachsens, das auch titelgebend ist.
Täglich erzähltest du mir, wie wichtig es sei, mit den Heranwachsenden, mit den Blühenden zu sprechen, weil auch sie uns wahrnehmen und unserer Liebe und Aufmerksamkeit bedürfen. Damit sie uns überraschen, über ihre fest geglaubten Größen hinauswachsen und für immer neue Wurzeln schlagen. […] Den Heranwachsenden, den Kindern, sagtest du, müsse man stets mit wohlwollendem, zugewandtem Ohr zuhören. Wer glaubt, dass die Kinder sich ausschließlich über das Welken und Gedeihen zu verstehen geben, der irre sich gewaltig. Dieses Denken werde nicht einem Bruchteil ihrer integren Komplexität gerecht. Es sind die Zwischenfrequenzen, die es zu erhaschen gilt und das bedürfe Zeit und aufrichtiges Umsorgen.
Duygu Ağal: Yeni Yeşerenler. Berlin 2022, 76.
Der Wechsel der Ich-Erzählerinnen zwischen den ersten beiden Teilen, in denen zunächst aus der Perspektive Canans und direkt daran anschließend aus der Derins erzählt wird, führt zusammen mit kleineren Uneindeutigkeiten im Text dazu, dass sich ständig die Frage danach stellt, wer hier eigentlich spricht[1].
Beim genauen Lesen wird durchaus deutlich, dass nach dem ersten Abschnitt nicht mehr Canan, sondern Derin erzählt, die Leser:in bleibt durch den Perspektivwechsel jedoch auf der Hut. Es ergeben sich Widersprüche bzw. Fragen: Studiert die Ich-Erzählerin nun Lehramt oder Rechtswissenschaften? Lebt und studiert sie in Lüneburg oder in Berlin? Sind das verschiedene Abschnitte in der Lebensgeschichte einer Person oder handelt es sich um unterschiedliche Protagonist:innen? Einzelne Uneindeutigkeiten erwecken zunächst den Eindruck, es handele sich vielleicht um Überblendungen verschiedener Erlebnisse, manchmal scheint es auch, dass die Leser:innen durchaus gewollt ein wenig ins Schwimmen geraten sollen, da die unterschiedlichen Szenen nicht in eine zeitliche Chronologie gebracht werden. Schade jedoch, wenn die Leser:in sich zunehmend als Detektiv:in fühlt und Ağals Anordnung der Abschnitte, in denen es mindestens zwei verschiedene Ich-Erzähler:innen gibt, in der Lektüre letztlich zu einer Vereindeutigung führt, die der Text gerade vermeiden will.[2]
Zweifellos lohnt es sich, Ağals Buch zu lesen. Es geht unter anderem darum, dass es nicht für alle ein filmreifes Coming-out mit Luftballons und Anerkennung gibt, sondern dass viele für das Ausleben ihrer sexuellen Identität einen hohen Preis zahlen müssen. Die Ablehnung von Homosexualität durch die eigene Familie – Ağal thematisiert auch die Rolle der Religion und die Ähnlichkeit der Haltungen dazu in muslimischen und christlichen Familien –, wird hier nicht weggewischt, sondern in ihrem Schmerz und den nicht artikulierbaren Dialogen mit der Mutter geschildert.
Die Wahlfamilie ist für sie da:
Ich feiere Weihnachten mit zwölf wundervollen Menschen und keiner davon ist familienangehörig. Niemand an diesem Tisch lobt mich dafür, wie akzentfrei mein Deutsch klingt oder fragt mich, ob ich auch Schwein esse, weil ich schließlich Alkohol trinke. Ganz abgesehen davon, dass Fleisch generell wegen Greta Abla abgesagt ist. Es gibt dutzende bunte Salate und köstliches Gemüse und Antipasti und Tintenfisch und Scampi. Bouillabaisse, ein französisches Gericht aus Marseille, steht auf der Karte. Mit anschließendem Dessert. Ich unterhalte mich auf Deutsch, Englisch, nach drei Gläsern Wein sogar auf Französisch mit meiner Wahlfamilie. Die Altersspanne liegt zwischen zweiundzwanzig und Mitte sechzig. Die Gespräche rangieren zwischen Frauenfußball-Verbandsliga und Monopol Magazin, postkolonialer Diskurs darf natürlich nicht fehlen, vor der Wende, nach der Wende, Studium und was der Herr Kühnert oder die Giffey und andere Politiker*innen, dessen Namen ich nicht kenne, so zu melden haben.
Duygu Ağal: Yeni Yeşerenler. Berlin 2022, 73.
Obwohl sich diese Gemeinschaft echt anfühlt, fühlt Derin sich trotzdem leer und allein. Als sie Hilfe bei einer Psychologin sucht, wird die klassistische Struktur zum Problem: Wie stehen die Chancen, dass eine Frau mit einer Praxis in einer Altbauwohnung Derin versteht und wirklich etwas für sie tun kann? Zuvor hat sie schlechte Erfahrungen mit einer Freundin aus dem bürgerlichen Umfeld gemacht. Obwohl diese Freundin sehr gut verdient, muss sie Miete in der gemeinsamen Wohnung zahlen und da sie kaum Geld hat, bietet die wohlhabende Mutter der Freundin ihr einen Putzjob an. Beim Frauenfußball wird deutlich, dass Solidarität oder Gemeinschaft oft nur auf einer Ebene gelebt wird: So erlebt sie in Hamburg keinen Rassismus, dafür wird aber ihr Lesbischsein in Frage gestellt; in Berlin ist es umgekehrt.
Queere Coming-of-Age-Narrative in Abgrenzung zum Familien-, Generationen- und Bildungsroman. Perspektiven jenseits des weißen, männlichen, bürgerlichen Helden
Um die Verschiebungen im literarischen Diskurs deutlich zu machen, die in der Arbeit der beiden Autor:innen sichtbar wird, lohnt sich ein Blick auf das Genre Coming-of-Age in Abgrenzung zum Familien-, Generationen- und Bildungsroman. Ein klassisches Beispiel für den Generationenroman ist Thomas Manns Buddenbrooks (1901, dafür Literaturnobelpreis 1929), in der Literatur der Gegenwart zum Beispiel Jonathan Franzens The Corrections (2001). Als historische Vorläufer lassen sich die Abstammungsgeschichten aus den klassischen Sagen des Altertums oder aus dem Alten Testament nennen. Traditionell definiert wird der Generationenroman durch folgende Merkmale: er erzählt von mindestens drei Generationen, aus unterschiedlichen Perspektiven und die Chronologie geht über einen einzelnen Zeitpunkt hinaus. Die Themen umfassen die Familie (Modelle und Strukturen), die Repräsentation von Gesellschaft und Geschichte und nicht zuletzt die Erinnerung – ob auf individueller Ebene wie prominent bei Marcel Proust oder auf kollektiver Ebene wie etwa in der Verbindung von Generationen- und Erinnerungsdiskurs nach 1945 und seit den 90-er Jahren (vgl. Grugger/Holzner 2021).
Der Bildungsroman wie auch das Genre Coming-of-Age legen dagegen den Fokus auf das Individuum:
This […] genre often strives to teach readers to understand their current and past feelings, processes of becoming and belonging, and in its most traditional iteration, what it means to be a model ‘citizen and worker’ (Buckley 1974, 18). Coming-of-age novels are relevant to young readers because they show how characters experiment with identity and inspire their journeys into adulthood.
Ricardo Quintana-Vallejo: Children of Globalization. Diasporic Coming-of-Age Novels in Germany, England, and the United States. New York/London 2021, 1.
Die traditionellen Bildungsromane, in denen das bürgerliche Modell dominiert – etwa Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) oder Charles Dickens‘ David Copperfield (1850) – werden in der globalen Literatur der Gegenwart abgelöst von lateinamerikanischen und Schwarzen Perspektiven, zum Beispiel Sandra Cisneros‘ The House on Mango Street (1984) oder Toni Morrisons The Bluest Eye (1970). In der engen Definition des Bildungsromans seit 1800 steht nicht die ganze Biografie, sondern vor allem das Erwachsenwerden, „the making of the hero“ (Jost 1983, 132) im Vordergrund. Coming-of-Age ist dagegen ein breiterer Schirmbegriff, der unterschiedliche zeitliche und geografische Kontexte abdeckt, thematisch stehen das Innenleben und der Antrieb der Protagonist:innen im Prozess des Erwachsenwerdens im Vordergrund (vgl. Quintana-Vallejo 2021, 4).
However, traditional Bildungsromane illustrate middle-class, European, ‚enlightened‘, and overwhelmingly male protagonists who become accommodated citizens, workers, husbands, and fathers whom the readers should imitate. Conversely, Diasporic Coming-of-age Novels have manifold ways of defining youth and adulthood. The culturally-hybrid protagonists, often experiencing intersectional oppression due to their identities of race, gender, class, or sexuality, must negotiate what it means to become adults in their own families and social contexts, […] thus enabling complex […] formative processes […] in increasingly globalized and multicultural societies worldwide.
Ricardo Quintana-Vallejo: Children of Globalization. Diasporic Coming-of-Age Novels in Germany, England, and the United States. New York/London 2021, 4.
Die beiden Autor:innen Duygu Ağal und Lejla Kalamujić zeigen sehr deutlich, dass nicht nur in globaler, sondern auch auf europäischer Ebene, das bürgerliche Modell des Bildungsromans vielleicht noch nicht ganz ausgedient hat, aber von starken Gegenerzählungen hinterfragt wird: Coming-of-Age ist ein Genre, das durch Grenzüberschreitungen kulturelle, gesellschaftliche und historische Kontexte sichtbar macht. Es geht längst nicht mehr nur um die Frage, wie sich männliche Helden als Individuen in der Gesellschaft und in Abgrenzung zu den vorausgehenden Generationen entfalten können. Familie und Gesellschaft, die weiterhin als Anerkennungs- und Abgrenzungsfläche wichtig bleiben, können in einer transkulturellen und globalen Dimension immer nur multiperspektivisch und als potentiell konflikthaft gedacht werden. Um die Perspektive der Anderen zu verstehen und in ihrer jeweiligen Situiertheit anzuerkennen, lohnt eine Lektüre der Texte von Duygu Ağal und Lejla Kalamujić.
Literatur
Duygu Ağal: Yeni Yeşerenler. Berlin 2022.
Lejla Kalamujić: Zovite me Esteban. Sarajevo 2015; dt.: Nennt mich Esteban. Berlin 2020.
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Jerome Hamilton Buckley: Season of Youth. The Bildungsroman from Dickens to Golding. Cambridge, MA 1974.
Paul de Man: Autobiography as De-facement, in: MLN Comparative Literature 94/5 (1979), 919–930. Dt.: Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel, in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. v. Christoph Menke. Frankfurt/M. 1993, 131–146.
Michel Foucault: Was ist ein Autor? [Vortrag], in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, hrsg. von Daniel Defert und Francois Ewald, Band I 1954–1969. Frankfurt/M. 2001, 1003–1041.
Helmut Grugger und Johann Holzner (Hg.): Der Generationenroman. Berlin 2021.
François Jost [1983]: Variations of a Species: The Bildungsroman, in: Symposium: A Quarterly Journal in Modern Literatures, 37:2, 125-146.
Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 1991.
Ricardo Quintana-Vallejo: Children of Globalization. Diasporic Coming-of-Age Novels in Germany, England, and the United States. New York/London 2021.
[1] Die Frage „Wer spricht?“ ist sowohl für Paul de Man als auch für Michel Foucault bei der Auseinandersetzung mit der Autobiografie, die auch für die heutzutage präsenteren Formen der Autofiktion noch relevant sind, äußerst wichtig. Foucault bezieht sich auf folgende Formulierung Samuel Becketts: „Was liegt daran wer spricht, hat jemand gesagt, was liegt daran wer spricht?“ (Beckett, zitiert nach: Michel Foucault: Was ist ein Autor? [Vortrag], in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften in vier Banden, hrsg. von Daniel Defert und Francois Ewald, Band I 1954-1969. Frankfurt/M. 2001, 1003-1041, 1007.
[2] Vgl. zu der Problematik des „Ich“ in (quasi-)autobiografischen Texten zum Beispiel Paul de Mans Ausführungen in „Autobiography as De-facement“ oder auch Philippe Lejeunes Der autobiographische Pakt. Hätte der Verlag hier nicht – wenn er denn nicht in den Text eingreifen wollte – dem Buch eine Rahmung, etwa im Klappentext, voranstellen können, die auf einer Metaebene gewisse Uneindeutigkeiten klärt? Denn diese tragen eher zur Verwirrung bei, was schade ist, weil der Text auch ohne das Rätseln über die Uneindeutigkeiten in Bezug auf die Erzählperspektive sehr viel zu sagen hat.
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