Whale von Cheon Myeong-kwan

Ein wunderbarer Roman aus Südkorea von 2004, der zurzeit auf der Shortlist des International Booker Prize 2023 steht und sich zwischen Postmoderne, Groteske und magischem Realismus bewegt. An diesem Buch – anders kann man es nicht sagen – ist alles gut gelungen: der Plot, die Charaktere, die Erzählweise, die subtile Gesellschaftskritik und die Darstellung historischer Umbrüche.

Der Autor beherrscht sein Handwerk bestens, er hat es nicht nötig, mit experimentellen Erzähltechniken Eindruck zu schinden oder mit Taschenspielertricks Spannung zu erzeugen. Der Erzähler überblickt alle seine Figuren, auch wenn er immer mal wieder damit kokettiert, dieses oder jenes nicht zu wissen. Anstatt die Leser: innen unnötig im Unklaren zu lassen, positioniert er die Figuren immer klar innerhalb der Geschichte und in ihrem Verhältnis zur Welt. Das Buch verzichtet auf oberflächlichen Drive und beeindruckt stattdessen mit Charakteren, auf die es vertraut und deren Entwicklungen und Verwicklungen miteinander im Mittelpunkt stehen.

Myeong-Kwans Roman setzt sich immer wieder über die Realität hinweg – so gibt es zum Beispiel ein Mädchen, Chunhui, das bereits bei der Geburt sieben Kilo wiegt und deren Vater ein Riese ist, der vier Jahre vor ihrer Geburt gestorben ist. Durch solche Details, die den fiktiven Charakter der erzählten Welt immer wieder vor Augen führen und den Lesenden das immersive Eintauchen in das Buch leicht machen, ergibt sich eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz, Teilnahme und Beobachtung.

Wenn ein Roman ins Englische übersetzt wird und auf der Shortlist für den International Booker Prize landet, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass es in der Art und Weise, wie er von einer anderen Weltregion erzählt, eine gewisse Anschlussfähigkeit an die westliche Welt (und an ihre Erzähltraditionen) gibt. Whale erzählt vom Übergang von traditionellen Lebensformen in die Moderne und Postmoderne. Wir entdecken zusammen mit den Figuren das Kino, die Veränderungen durch die Eisenbahn, das Entstehen der Kaffeekultur und andere Entwicklungen.

In any case, that was how the construction of the railroad began. Soon, people started to come into Pyeongdae from other places for work. First came the railroad workers and the construction company staff members and the site manager, then came the bars and restaurants that sprouted up to serve them and the women who serviced them, then the vendors and peddlers selling things the women needed, and then finally a year later, when the train began to rumble through the village, there came doctors treating injured workers and pastors and missionaries and priests and monks who treated the soul, then the chapels and churches and temples were built, which brought in the workers who would build them, then came the women who would service those workers, and in that way peo ple came from faraway cities and nearby villages, looking for work, looking for things to see, looking for opportunities, looking for the faithful, looking for a mate, and later the local historians of Pyeongdae referred to this era’s sudden popula tion growth as the town’s first big boom.

CHEON MYEONG-KWAN, Whale, 134

Der Autor vermeidet es geschickt (vielleicht liegt hierin auch die Stärke der Übersetzung), zu sehr auf die Vermittlung oder die Erklärung kultureller Unterschiede zu setzen, wie wir es von vielen der  von Rebecca Walkowitz als „born translated“ bezeichneten international erfolgreichen Bücher kennen. Gleich auf der dritten Seite wird Hundesuppe gekocht, beschrieben als ein von Wärme geprägtes Gemeinschaftserlebnis. Eine der Protagonistinnen kehrt aus dem Gefängnis zurück und muss an dem verlassenen Ort ihrer Kindheit mit dem vorlieb nehmen, was da ist. So kommt es, dass unter anderem eine rohe Schlange gegessen wird. Zugleich vermeidet er Exotisierung und Othering, an Stellen, wo dies seinen Figuren passiert (zum Beispiel bei den Zwillingen, die im Zirkus auftreten) werden diese Mechanismen in einen reflexiven Zusammenhang eingebettet.

Das Lebensgefühl der Figuren ist geprägt von einer pragmatischen Haltung: sie haben Ambitionen und wollen etwas vom Leben, wenn sie scheitern, klagen sie nicht, sondern machen weiter. Dabei fehlt keineswegs das Pathos: es gibt mehrere Tode aus Liebe. Geumbok wird zunächst sehr reich, verliert das Geld wieder und findet neue Einnahmequellen. Es ist ein Auf und Ab zwischen einmaligen Gelegenheiten und Momenten des Scheiterns, dem Mut, Chancen zu ergreifen und der Fähigkeit, auch in den schlechtesten Zeiten nicht zu aufzugeben. Zugleich sind die Figuren komplex. Auch eine Person, die fähig ist, mit vielen Menschen tiefe und unterstützende Beziehungen aufzubauen, kann eine schlechte Mutter sein. Ein Gangster kann dagegen ein unterstützender Partner sein.  Es kommt es immer auf die Umstände und auf die Perspektive an. So heißt es an einer Stelle ganz am Anfang:

Life is sweeping away the dust that keeps piling up. That was what one of her cellmates, the one with freckles scattered across her face, always said. Everyone called her Cyanide – she had been sentenced to death for killing her two daughters and her husband with a cyanide-laced meal. Until the day she was executed, she was the one who swept and cleaned their cell. Any time the other prisoners grumbled, What’s the point of cleaning when your days are numbered? she would say, Life is sweeping away the dust that keeps piling up, as she mopped the floor with a rag, and sometimes she would add, Death is nothing more than dust piling up. Chunhui never quite understood what that meant, but that first day she was back, those riddles popped into her head as she walked toward the remnants of the house.

CHEON MYEONG-KWAN, Whale, 12

Das Buch ist weder moralisierend, noch zynisch – diese Perspektive auf die Welt ist sehr erfrischend. Dazu gibt es einmalige Charaktere – eine ambitionierte Frau namens Geumbok, die in jungen Jahren einen Wal gesehen hat und davon zutiefst beeindruckt war; ihre Tochter Chunhui, die in ihrer eigenen Welt lebt und mit einem Elefanten kommuniziert sowie eine ganze Reihe origineller Nebenfiguren. Definitiv ein Mustread und ein wohlverdienter Platz auf der Shortlist!

CHEON MYEONG-KWAN: Whale, aus dem Koreanischen von Chi-Young Kim, Europa Editions 2023 (2004). Auf Deutsch ist der Roman bei Weissbooks erschienen.