Katerina Poladjan beschreibt in Zukunftsmusik das sowjetische Lebensgefühl der 1980er Jahre. Zu Beginn erklingt Chopins Trauermarsch, ein Zeichen dafür, dass ein wichtiger Parteifunktionär gestorben ist. Einen Tag nach dem Tod des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, am 11. März 1985, beginnt die Ära Gorbatschow. Poladjan erzählt vom Leben in der Kommunalka. Leser:innen, die mit der russischen Literatur vertraut sind, werden daran nicht viel Neues finden, für das deutsche Publikum mag es jedoch durchaus interessant sein, sich mit einer Lebensform auseinanderzusetzen, die sich in einem kleinen Zimmer mit geteiltem Bad und geteilter Küche inmitten fremder Menschen abspielt. Erzählt wird – und das ist durchaus eine Perspektive, die noch zu wenig gehört wird – vom Leben von Frauen aus vier Generationen, die alle mehr oder weniger allein ihre Töchter durchgebracht haben und nun zusammen in der Kommunalka leben, wo sie sich zwar gegenseitig unterstützen, aber einander auch auf die Nerven gehen. Die einundzwanzigjährige Janka hat eine kleine Tochter namens Kroschka, ihre Mutter Maria Nikolajewna und ihre Großmutter Warwara Michailowna leben mit ihr in der Wohnung, die sie sich darüber hinaus noch mit Matwej Alexandrowitsch, mit einem Professor und einem Ehepaar teilen.

Janka plant für den Abend ein kleines Konzert, ein Kwartirnik, und hat dazu in die Küche der Kommunalka eingeladen – sie wartet auf eine Gitarre, die ihr Freund Pawel für sie besorgen soll.
Janka, ich verspreche dir, zu deinem Konzert hast du eine neue Gitarre. Pawel behauptet sogar, der berühmte B.G. sei aus Leningrad angereist und wolle ihr Konzert besuchen. Andrej hielt nichts von B.G., nannte ihn käuflich und einen Verräter wegen seiner Freundin aus dem Westen, die angeblich seine Aufnahmen nach Amerika schmuggelte und die ihm von dort eine rote Stratocaster mitgebracht habe. Mit der dürfe er nun im Leningrader Rockklub auftreten – unter den Augen des KGB, aber vor Publikum und auf einer richtigen Bühne. Aber wahrscheinlich war alles erlogen.
Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. S. Fischer: Frankfurt a. M. 2022, S. 24.
Damit wird auf die Leningrader Musikszene um Boris Grebenschtschikow aus der Band Aquarium angespielt. Janka hört später auch eine Aufnahme von Alexander Baschlatschow. Es wird nicht ganz klar, ob sich Janka dieses musikalische Umfeld vor allem imaginiert und auch nicht weiter ausgeführt, auf welche Art und Weise sie und ihre Freunde daran teilhaben. Als Janka in ihrem Zimmer Musik hört, denkt sie an eine Nacht am Fluss, die sie mit ihren beiden Freunden Pawel und Andrej erlebt hat. Diese Szene erinnert stark an den Film Leto um den Sänger Viktor Tsoi, der ebenfalls der Leningrader Szene angehörte.
Poladjan erweist sich allerdings wenig souverän im Umgang mit intermedialen Referenzen – kennt man den Film, hat man das Gefühl, Janka imaginiere Szenen aus dem Film. Dies ist zeitlich natürlich nicht möglich, da die Handlung in den 80er Jahren spielt, der Film von Kirill Serebrennikov ist aus dem Jahr 2018. Für bewusst gesetzte intermediale Bezüge eignet sich die Erzählstruktur, die nah am Alltag der Figuren ist, allerdings auch nicht. Es entsteht der Eindruck, dass die Autorin mit Bezügen und Bildern spielt, die aus der russischen Literatur und Kultur bekannt sind und diese für deutschsprachige Leser:innen zusammenträgt, ohne dass jedoch eine eigene künstlerische Aneignung dieser Refererenzen stattfindet. Es bleibt eine Herausforderung, einem transkulturellen Publikum gerecht zu werden. Wie ein Blick in die deutschsprachigen Rezensionen zeigt, wird das Buch hierzulande durchweg positiv wahrgenommen.
Spannend ist, dass hier die Perspektive von vier Frauen eingenommen wird und dass mit Janka eine weibliche Protagonistin im Vordergrund steht. Damit hält Poladjan eigentlich einen interessanten Plot bereit: Wie sind die Bedingungen für eine weibliche Musikerin, die mit Kind, Mutter und Großmutter in einer Kommunalka lebt? Welchen Platz kann sie einnehmen? Stark ist auch, wie Poladjan es in der Schwebe hält, ob es Janka genügt, in ihrem privaten Umfeld Konzerte zu geben oder ob sie doch größere Ambitionen hat. In diesem Setting wird überhaupt erst sichtbar, wie schwierig es unter diesen Umständen bereits ist, überhaupt ein Konzert in einer Küche abzuhalten.
Wer sich beim Schauen des Films Leto von Serebrennikov vielleicht darüber geärgert hat, wie selbstverständlich unhinterfragt eine künstlerische Tätigkeit als Musiker und die damit verbundene Freiheit und Möglichkeit zur Selbstverwirklichung den männlichen Protagonisten vorbehalten bleibt, während an den Frauen die Kindererziehung und die Bewunderung der Männer hängen bleibt, findet in Zukunftsmusik eine neue Perspektive. Diese wird aber – Spoiler-Alarm! – leider nicht wirklich entfaltet. Poladjan lässt die Leser:innen mit dem Versuch eines Romans zurück, der den Eindruck erweckt, die Autorin hätte den Text mittendrin abgebrochen.
Poladjans Zukunftsmusik lädt dazu ein, sich noch einmal Serebrennikovs Leto anzusehen. Bei denjenigen, die sich schon ganz auf Poladjans weibliche Perspektive eingelassen haben und für die sich die Hoffnung auf ein Gegenwicht zu der männlichen Künstlerfigur in Leto mit Zukunftsmusik leider nicht erfüllt, kommt vielleicht ganz leise die Erinnerung an ein anderes Buch hoch, das sich zur erneuten Lektüre aus dem Bücherregal holen lässt: Nedelja kak Nedelja (1969, 1979 auf Deutsch bei Luchterhand unter dem Titel Woche um Woche erschienen) von Natalja Baranskaja. Im Stil der Alltagsprosa beschreibt Baranskaja den Lebensalltag von Frauen in Moskau in den Sechziger Jahren. Dabei zeigt sie sehr präzise und aus kritischer Perspektive, wie schwierig es für die Frauen in der Sowjetunion war, die Doppelbelastung von Beruf, Haushalt und Kindererziehung zu stemmen. Ihre Arbeit fordert die Protagonistin heraus, danach und in den Pausen muss sie Einkäufe erledigen, die Kinder sind häufig krank, die Betreuungseinrichtungen überfüllt. In Erinnerung bleiben Szenen wie die, in der beschrieben wird, wie sich die Kolleginnen in den Arbeitspausen mit den Einkäufen abwechseln, da sie es in der kurzen Zeit nicht schaffen, in den langen Schlangen die Besorgungen zu erledigen. Für wirkliche Pausen ist keine Zeit, neben der Arbeit, den Kindern und dem Haushalt bleibt kein Raum für die Protagonistin – sie atmet schon auf, wenn die Kinder einmal nicht krank sind, die Schlange beim Einkaufen kurz ist und sie nicht zu spät zur Arbeit kommt.
Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. S. Fischer: Frankfurt a. M. 2022.
Kirill Serebrennikov: Leto. 2018.
Natalja Baranskaja: Nedelja kak Nedelja (1969, 1979 auf Deutsch bei Luchterhand unter dem Titel Woche um Woche erschienen).
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