Julio Cortázar und Carol Dunlop verbringen den Mai und Juni 1982 auf der Autobahn zwischen Paris und Marseille. Unter dem Titel Los autonautas de la cosmopista o Un viaje atemporal París-Marsella erschien 1983 ihr Buch über ihre gemeinsame Reise mit einem roten VW-Bus, den sie Fafnir nannten. Ihr Vorhaben beschreiben sie als
… die Möglichkeit einer etwas verrückten und ziemlich surrealistischen ‚Expedition‘, die darin bestehen soll, auf der Autobahn an Bord unseres mit allem Notwendigsten ausgestatteten VW-Busses von Paris nach Marseille zu fahren und dabei auf allen 65 Rastplätzen der Autobahn haltzumachen, und zwar auf jeweils zweien pro Tag, das heißt, wir würden für die Überwindung der Strecke Paris-Marseille etwas mehr als einen Monat benötigen und die Autobahn nicht ein einziges Mal verlassen.
Julio Cortázar und Carol Dunlop: Die Autonauten auf der Kosmobahn, aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2020, S. 9.
Sie benutzen die Autobahn damit in einem ihrem Zweck ganz entgegengesetzten Sinne und leben auf der, wie sie es nennen, „anderen“ bzw. „parallelen“ Autobahn, auf der sie anders als vorgesehen, nicht nur eine kurze Rast einlegen, sondern ihre Tage verbringen. So geht es auf der Fahrt vor allem darum, ein schönes schattiges Plätzchen für den Bus zu finden, den besten Tisch zu ergattern, die Schreibmaschine aufzubauen, zu schreiben, zu essen und die Mücken zu verscheuchen. Proviant haben sie ausreichend dabei, sie werden jedoch auch von Freunden unterstützt, die sie auf der Autobahn besuchen und mit neuem Essen und Getränken versorgen. Die Reisebeschreibungen machen das Experiment, eine Art Alltags-Performance, anschaulich, die darin besteht, einen Ort, den die meisten nur ganz kurz und eher widerwillig besuchen, zu einem angenehmen Aufenthaltsort zu machen.
In diesem Sinne gibt das Buch nicht nur Einblicke in das Alltagsleben von Julio Cortázar und Carol Dunlop und dessen Ästhetisierung, sondern ist auch ein Beispiel für experimentelles Reisen, wie es etwa in dem Lonely Planet Reiseführer mit dem Titel Experimental Travel beschrieben wird.
In der Art und Weise, wie es hier auch darum geht, die Perspektive und die Wahrnehmung zu ändern, erinnert es auch an die von Lucius Burckhardt geprägte Spaziergangswissenschaft.
Alle drei Bücher eignen sich nicht nur zur Sommerzeit, sie sind nicht so sehr Reiseführer, sondern eher Anleitungen dazu, den Alltag von seiner selbstverständlichen, dumpfen Wahrnehmung zu befreien und die Dinge einmal ganz anders zu betrachten, als sie eigentlich gemeint sind.
Julio Cortázar und Carol Dunlop: Die Autonauten auf der Kosmobahn, aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2020 (1983).
Rachael Antony und Joël Henry: The Lonely Planet Guide to Experimental Travel. Melbourne u.a. 2005.
Lucius Burckhardt: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. Berlin: Martin Schmitz Verlag 2011 (2006).
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