Flexen in Miami, Allegro Pastell, Pixeltänzer

Digitalisierung bei Berit Glanz, Joshua Groß und Leif Randt

Drei Romane der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – Pixeltänzer (2019) von Berit Glanz (*1982), Flexen in Miami (2020) von Joshua Groß (*1989) und Allegro Pastell (2020) von Leif Randt (*1983) – beschreiben eine fiktive Welt, deren Alltag von digitalen und sozialen Medien durchdrungen ist, die Protagonist:innen sind auch allerlei technischen Tools gegenüber aufgeschlossen. Die Texte thematisieren die Digitalisierung nicht als neu und gefährlich, sondern als bereits normalisierte Realität. Daher lassen sich an ihnen gesellschaftliche Veränderungen in Bezug auf Arbeit und Freizeit, Kunst und Kreativität, Beziehungen sowie die grundsätzliche Bedeutung der Digitalisierung besonders gut beobachten. Die literarischen Texte lassen sich als Auseinandersetzung mit Entwicklungen lesen, die derzeit gesellschaftlich ausgehandelt werden.  

Arbeit und Freizeit

In Leif Randts Allegro Pastell (2020) sind Arbeit und Freizeit weder räumlich noch zeitlich begrenzt: Jerome und Tanja haben keine festen Arbeitszeiten, sie arbeiten mobil und gern auch an den Wochenenden, an denen sie einander sehen. Dennoch gibt es Zeit für Ausflüge mit dem Tesla oder Spaziergänge ins Naturschutzgebiet[1] und Zeitfenster für intensives Ausgehen, wobei die Regeneration nach den von Schlafmangel und Drogenkonsum geprägten Tagen stets mit eingeplant wird. Jerome ist selbständiger Webdesigner, Tanja ist Schriftstellerin. Da beide mobil arbeiten, sind sie an Orte nicht gebunden – Jerome lebt in seinem Elternhaus in Maintal, Tanja in Berlin. Wie der Titel bereits suggeriert, wird das Lebensmodell der beiden weder glorifiziert, noch kritisch beleuchtet. Randt verleiht seiner Erzählung Ambivalenz, indem er vorwiegend ohne Wertungen erzählt. Dadurch bleibt es den Lesenden überlassen, ob sie den Roman als Abbild des Status quo einer Gesellschaft lesen, als Utopie für Beziehungen ohne Konflikte oder als Kritik an Lebensmodellen, die darauf basieren, alles Störende auszuschließen bzw. dies aufgrund ihrer privilegierten Position überhaupt zu können.

Während Randt die Arbeitswelt von Freischaffenden und Selbständigen beschreibt, geht es in Berit Glanz‘ ebenfalls gefeiertem Roman Pixeltänzer (2019) um die Tech-Arbeitswelt. Die Protagonistin Beta arbeitet in einem Start-Up-Unternehmen im Bereich der Software-Qualitätskontrolle. Technik, Internet und neue Arbeitsformen prägen jedoch auch ihren Alltag jenseits der Lohnarbeit. Die durch verschiedene Apps ermöglichten Vernetzungsmöglichkeiten, ihre eigenen Programmierfähigkeiten und das ständige Recherchieren im Internet sind für Beta essentiell: morgens wird sie von einer Weck-App geweckt, in ihrer Freizeit fertigt sie Tiermodelle für ihren 3D-Drucker an und nach Informationen oder Erklärungen sucht sie stets nur online.

Die Tech-Arbeitswelt wird bei Glanz fast durchweg positiv beschrieben. Betas Arbeitsplatz wird kaum als solcher bezeichnet, sondern immer nur als Ort für Kreativschaffende dargestellt: Das Team wird ständig motiviert und mit konzentrationsfördernden Snacks versorgt, montags gibt es Sushi zum Mittagessen und natürlich geht es auch für eine Woche in den (so nicht bezeichneten) Arbeitsurlaub nach Barcelona. Die Arbeits- und Verhaltensweisen der Tech-Branche werden zwar teils mit leichter Ironie beschrieben, Kehrseiten gibt es aber kaum – wenn überhaupt, dann erweist sich die Realität hinter den Versprechen als nicht ganz so rosig wie erwartet: Die Teamreise geht beispielsweise nicht wie auf den Fotos angekündigt nach Bali, sondern nach Barcelona, wo es anders als auf der indonesischen Insel keine Palmen am Arbeitsplatz gibt und wo die Sitzkissen zwar gut aussehen, aber unbequem sind. Die zunächst als innovativ angepriesene Fahrt im Tech-Bus, die Beta in ihrem Urlaub unternimmt, hebt sich nicht wirklich von Klassen- oder Seniorenfahrten ab, im Bus herrscht ein mit Kaffee aus großen Thermoskannen getränktes Arbeitsklima, das von durchwachten Nächten im Hotel begleitet wird, in denen die Teams an ihren Apps arbeiten.

Die Begriffe der Tech-Welt, die Arbeitsmethoden der Start-Up-Szene sowie die Funktionsweise des Codens und verschiedener Apps werden in lexikonähnlichen Einträgen erklärt: so etwa der „Monkey-Test“ (ebd.: 48), der „Black-Box-Test“ (ebd.: 58), das „Fuzzing“ (ebd.: 64), der „Gorilla-Test“ (ebd.: 76), das „Visual Testing“ (ebd.: 81), „Scrum“ (ebd.: 144, 149, 153, 158, 162), das „Impediment Backlog“ (ebd.: 171), „Planungspoker“ (ebd.: 173), die „Kanban-Tafel“ (ebd.: 177), „Open Source“ (ebd.: 235, 247) und die „Definition of Done“ (ebd.: 251). Damit führt der Text auch ein technisch nicht affines Publikum fast didaktisch in die Welt der Start Ups und in die Arbeitsweise des New Work ein.

Themen wie die Überwachung und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche werden angedeutet, stören aber weder das System noch die Protagonistin. Jede angedeutete Kritik erweist sich im Laufe der Geschichte höchstens als kleine Irritation oder sie läuft von vornherein ins Leere. Beta stiehlt – zum Spaß – einen Roboterfisch aus dem Aquarium des Ruheraums, der, so deutet die Ich-Erzählerin an, auch zur Überwachung der Mitarbeitenden dienen könnte. Dessen Verschwinden – er wird von Beta in der Spree versenkt und sendet daher für eine gewisse Zeit weiterhin Unterwasserbilder – bemerkt aber letztlich niemand. Der Versuch, mit ihren beiden Kolleg:innen den Wettbewerb, der auf der Fahrt im Tech-Bus ausgetragen wird, durch die Programmierung einer unverkäuflichen App zu stören, erweist sich als unmöglich – denn in der gewinnorientierten und warenförmigen Wahrnehmung der Jury lässt sich auch die Unverkäuflichkeit zum Verkaufsargument stilisieren. Die Ausweitung der Arbeit auf das gesamte Leben – Beta verbringt ihre Freizeit mit ihren Arbeitskolleg:innen und ihren Urlaub im Tech-Bus – wird an keiner Stelle kritisch gesehen; schließlich entspricht sie dem Ideal einer Verbindung von Arbeit und Leben (Work-Life-Blending im Gegensatz zu Work-Life-Balance, d.h. einer Verschmelzung im Gegensatz zu einer Ausbalancierung von Arbeit und Freizeit) in der Kreativbranche. 

In Joshua Groß‘ Flexen in Miami (2020) spielt Arbeit gar keine Rolle. Der Ich-Erzähler Joshua hat ein „einjähriges Aufenthaltsstipendium der Rhoxus Foundation“ (ebd.: 8) in Miami und verbringt seine Zeit hauptsächlich in seinem smart ausgestatteten Apartment, in dem er von einer Drohne mit Astronautennahrung versorgt wird. Neben Social Media und Suchmaschinen interessieren ihn vor allem NBA-Spiele und Sportwetten. Bald wird der Protagonist fast vollständig von einem Computerspiel namens Cloud Control in den Bann gezogen. Dieses Spiel prägt dann auch seine Interaktion mit den beiden Personen, die er in Miami kennenlernt – die Meeresbiologin Claire und deren Ex-Partner, den Rapper Jellyfish P. Obwohl zu Beginn des Textes durch das Stipendium und Hinweise auf das Schreiben angedeutet wird, dass der Protagonist Schriftsteller ist, wird während der gesamten Handlung nicht nur nicht geschrieben (was nicht ganz untypisch für Texte über Schriftsteller:innenresidenzen ist), sondern es wird nicht einmal beklagt, dass nichts geschrieben wird. Eine einzige Textstelle widmet sich dem Zwiespalt zwischen Schreiben und Lohnarbeit:

„Bevor ich nach Miami gekommen war, hatte ich halbtags gearbeitet, um unabhängig zu sein. Ich hatte mich komplett aufgerieben. Ich war immer noch ausgelaugt. Ich war darauf hingewiesen worden, dass auch Kafka seine Klassiker nebenberuflich geschrieben habe, nur für sich selbst, in der Brache des nächtlichen Burnouts. (…) Ein Ausweg hatte sich eröffnet, als mir das Stipendium der Rhoxus Foundation angeboten wurde und ich meinen Job kündigen konnte. Kein unbefristeter Vertrag mehr, nur neue Zukunftsangst.“ (ebd.: 25)

Von der Anlage erinnert Groß‘ Text stark an Ben Lerners Leaving the Atochia Station (2011), eine Erzählung, die auch im Diskurs um Literatur und Digitalisierung immer wieder genannt wird und insofern durchaus auch für Groß ein Vorbild gewesen sein könnte. Bei Lerner geht es um einen Autor, der durch ein Stipendium aus den USA nach Madrid gekommen ist und seinen Alltag dort zwischen dem Schreiben von Gedichten, dem Ausgehen mit seinen neuen Freund:innen aus einer Galerie und in nicht weiter definierten Beziehungen zu den beiden Frauen Isabel und Teresa verbringt. Während bei Groß das Schreiben gar keine Rolle spielt, da sein Ich-Erzähler fast vollständig von digitalen Medien und der von dem Computerspiel ausgehenden Interaktion vereinnahmt ist, steht bei Lerner das Schreiben, aber auch das Leben als Künstler im Mittelpunkt. Lerners Protagonist Adán gelingt es jedoch – ganz im Gegenteil zu Joshua – sich während seines Spanienaufenthaltes von Medien, zumindest in Bezug auf die damit zusammenhängenden sozialen Verpflichtungen, weitgehend fern zu halten:   

„Although I had internet access in my apartment, I claimed in my e-mails to be writing from an internet café and that my time was very limited. I tried my best not to respond to most of the e-mails I received as I thought this would create the impression I was offline, busy accumulating experience, while in fact I spent a good amount of time online, especially in the late afternoon and early evening, looking at videos of terrible things.“ (ebd.: 18f.)

Seinen Freunden in den USA erzählt er, er habe in seinem Apartment keinen Internetzugang. Seine neuen Freunde in Madrid können ihn telefonisch nicht erreichen, ebenso wenig die Stiftung.[2]

Während bei Lerner die Arbeit des Ich-Erzählers an seinen Gedichten und die Auseinandersetzung mit seiner Position als Künstler thematisiert wird, ist bei Groß von Kunst keine Rede (abgesehen von dem Rapper Jellyfish P, der unter massivem Drogeneinfluss an seinem neuen Album arbeitet). Lerner thematisiert darüber hinaus auch das Verhältnis von Kunst zu Arbeit, indem er ein Milieu beschreibt, in dem nicht gearbeitet werden muss. Teresa übersetzt Gedichte, Arturo und Rafa betreiben eine Galerie, alle drei entstammen Familien, die ihr Geld – wie sie selbstironisch reflektieren – nicht mit dem Schreiben von Gedichten verdient haben („Teresa said something about banks. (…) Arturo said they didn’t make (money) by writing poetry and we laughed“ [ebd.: 139]).

In Flexen in Miami wird keines der Themen, die durch die Anlage der Erzählung angedeutet werden, ausgeführt: Das Stipendium wird weder zum Schreiben noch zur Reflektion über Kunst genutzt, es findet keine Auseinandersetzung oder Entwicklung durch die Auslandserfahrung statt und auch der beständig intensiver werdende Drogenkonsum und das Versinken in dem Computerspiel werden nur dargestellt, nicht aber reflektiert. Flexen in Miami lässt sich daher vielleicht als Parodie auf die Erwartungen der Literaturwelt an den Roman über die Digitalisierung lesen, schöpft aber auch dieses Potential nicht aus. Was zunächst als selbstironische Spiegelung des Alltags eines zumindest zeitweise nicht zur Lohnarbeit verpflichten Schriftstellers in Zeiten von Social Media, Computerspielen und allerlei Ablenkungen durch das Internet gelesen werden kann, führt schließlich nicht mehr aus der Welt der Sportwetten, Drogen und aus Cloud Control heraus.   

Kunst, Kreativität, Gamification

In Allegro Pastell wird die Ähnlichkeit der Lebensmodelle von selbständigen Kreativarbeitenden und Autor:innen beschrieben – der Webdesigner Jerome und die Schriftstellerin Tanja arbeiten mobil, benötigen nur ihr Notebook zum Arbeiten und können sich ihre Zeit frei einteilen, was ihnen – in stets gut durchdachter Ausbalancierung von Disziplin und Ausschweifung – mühelos gelingt. Randts Roman ist in Bezug auf die Beschreibung von Social Media fast anachronistisch (und ähnelt in dieser Hinsicht Ben Lerners Text) – im Vordergrund stehen weder die damit verbundene ständige potentielle Erreichbarkeit noch die Ablenkung durch zahlreiche Apps. Die Nachrichten, die Tanja und Jerome einander schreiben, sind immer wohl durchdacht und ausformuliert. Mails werden genutzt, um mit Abstand noch einmal in aller notwendigen Komplexität und Länge über Dinge zu reflektieren, die in der direkten Kommunikation zu kurz gekommen sind.

In Flexen in Miami erlebt der Protagonist das Gegenteil von Reflektiertheit und Selbstbestimmung: er ist dem Internet und der Welt von Cloud Control völlig ausgeliefert und steigert diesen Zustand noch durch zunehmenden Drogenkonsum. Die suchtauslösenden Wirkungen von Drogen, Spiel und dem interaktiven Medium Internet werden bei Groß enggeführt – soweit, dass schon kurz nach Beginn des Romans das Ziel des Stipendiums nicht einmal mehr erwähnt wird. Weder Kreativität noch Kunst kommen bei Groß gegen die gamification des Alltags und die damit verbundenen Versprechen der ständigen Unterhaltung an.

Bei Berit Glanz werden Kunst, Kreativität und gamification gezielt miteinander verwoben. Beta interessiert sich für Kunst, besucht Museen und verfolgt die Geschichte um das Hamburger Künstler:innenpaar Lavinia Schulz und Walter Holdt. Sowohl ihre Arbeit als auch ihre Freizeit sind stark vom Spielcharakter aller Tätigkeiten geprägt – nicht jedoch im Sinne des Abdriftens wie bei Groß, sondern als kreativitätsfördernd und strukturgebend zugleich. Sowohl die Hauptfigur Beta als auch der Plot, der auf die Gegenüberstellung von avantgardistischen Künstler:innenzirkeln und der Welt der Start-ups setzt, entsprechen den von Andreas Reckwitz beschriebenen Entwicklungen der Gegenwart:

„In der Gegenwartsgesellschaft haben sich die Anforderung und der Wunsch, kreativ zu sein und schöpferisch Neues hervorzubringen, in ungewöhnlichem Maße verbreitet. Was ehemals subkulturellen Künstlerzirkeln vorbehalten war, ist zu einem allgemeingültigen kulturellen Modell, ja zu einem Imperativ geworden.“ (Reckwitz 2012, Klappentext)

Dieser Imperativ wird von Berit Glanz in Pixeltänzer nicht nur in einem fiktionalen Text umgesetzt, sondern geradezu idyllisch verklärt: Die Start-up-Szene wird als ständig gut gelaunt, kreativ und produktiv beschrieben. Betas Freizeit wird von Tiermodellen, Eisdielen und Ausflügen dominiert.  

Zugleich nutzt der Roman selbst auch Elemente der gamification (oder traditioneller formuliert: der Interaktion), indem er die Lesenden einbindet. Einerseits werden sie, wie bereits beschrieben, in Bezug auf neue Arbeitsformen und das Programmieren didaktisch geschult und andererseits – zusammen mit der Hauptfigur Beta – zum Entschlüsseln von (versteckten) Informationen aufgefordert. Dazu tragen nicht nur die im Text eingebundenen Links bei, die auf existierende Internetseiten verweisen und die Lesenden zu einem Medienwechsel anregen sollen, sondern auch die wahre Geschichte um Lavinia Schulz und Walter Holdt, die recherchiert werden kann. Darüber hinaus enthält der Text viel Symbolik, die sich entschlüsseln und interpretieren lässt. So verweist etwa der Vorname der Protagonistin Beta nicht nur auf die Testversion, sondern lässt sich auch als Abkürzung von Elisabeth (ein Name, der wiederum etymologisch „Gott“ und „Fülle“ in sich trägt) mit Bezug auf die digitalisierte Welt deuten. Neue Entwicklungen werden darüber hinaus oft mit Traditionen verbunden, etwa wenn Bezüge zwischen Avataren und Masken hergestellt werden.

Darüber hinaus wird das Programmieren/Coden anhand der Tiermodelle, die Beta in ihrer Freizeit gestaltet, als kreative, handwerkliche und autonome Tätigkeit dargestellt. Für Beta besteht kein Unterschied darin, ob sie in ihrer Arbeit oder Freizeit programmiert, ebenso wenig scheint sie Wert darauf zu legen, welchen kommerziellen Zwecken die Apps, die sie nutzt oder mit ihren Arbeitskolleg:innen programmiert, dienen. Einerseits wird in Pixeltänzer der Spielcharakter der Arbeitswelt beschrieben, andererseits wird implizit aber auch der Arbeitscharakter der Freizeit deutlich. 

Beziehungen

Beta nutzt das Internet und ihre Programmierfähigkeiten auch, um ihre romantischen Bedürfnisse zu erfüllen: Durch eine Weck-App, deren Nutzer:innen jeden Morgen durch ein dreiminütiges Gespräch mit Menschen aus aller Welt geweckt werden, lernt sie Toboggan kennen. Sie ist von seinem Avatar begeistert und beginnt, sich mit ihm zu beschäftigen. Dadurch entdeckt sie die Toboggan-Maske des Tänzerpaares Lavinia Schulz und Walter Holdt. Mit dem Ziel, mit Toboggan in Kontakt zu treten, setzt sie ein Blog auf. Dies gelingt ihr auch und fortan wartet sie auf versteckte Zeichen von ihm, die sie entschlüsseln muss. Auf diese Weise erhält sie von Toboggan in sich abgeschlossene Texte, die von Lavinia Schulz erzählen und als Binnenerzählungen in den Roman eingefügt sind. Beta recherchiert ihrerseits zu dieser Geschichte und verfasst auf ihrem Blog Briefe an Toboggan, in denen sie von ihrem Leben und ihrer Leidenschaft für Insekten erzählt. Auf diese Weise fügt Glanz in die vom Internet dominierte Romanwelt eine naturalistisch-romantische, sehr schlicht erzählte Geschichte ein, die von den persönlichen und künstlerischen Ausbruchsversuchen der expressionistischen Künstlerin erzählt. Diese Geschichte und die Briefe von Beta an Toboggan bilden den Kontrapunkt zu Betas technik- und internetdominiertem Alltag. Toboggan erweist sich als informierter Geschichtenerzähler, der schließlich bei der Präsentation des Tech-Bus-Startups erscheint, um einen letzten Text zu hinterlassen und schließlich, als Beta – wie im Blog angekündigt – am darauffolgenden Vormittag die Masken im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe besichtigt, am Ende der Ausstellung auf sie wartet.

Während Beta Toboggan über digitale Medien kennenlernt und darüber auch mit ihm kommuniziert, sind in Allegro Pastell Medien in Bezug auf die Beziehungsebene der Protagonist:innen kaum relevant. Die Personen, mit denen Jerome Kontakt hat, kennt er aus dem sogenannten echten Leben – die Medien, vor allem Messenger und E-Mails, dienen hauptsächlich der Kommunikation. Bei Groß findet am ehesten eine Vermischung statt – sein Protagonist kommuniziert über das Spieleforum mit Personen, die er persönlich nicht getroffen hat, Claire trifft er allerdings bei einem NBA-Spiel. Vergleichend lässt sich festhalten, dass bei Glanz alle beschriebenen Beziehungen durch digitale Medien geprägt sind, bei Randt Medien selbstbestimmt zur stets reflektierten Kommunikation genutzt werden und bei Groß eine Vermischung zwischen der Interaktion mit Personen aus der realen Welt und den Avataren in Cloud Control stattfindet. In allen drei beschriebenen Romanen ist der Einfluss von Medien auf Beziehungen jedoch nicht das eigentliche Thema: bei Glanz scheint er selbstverständlich, bei Randt ist er Teil der Reflexion über Beziehungen im 21. Jahrhundert, bei Groß fehlt die reflexive Ebene größtenteils ganz.  

Der Text ist ein Auszug aus dem folgenden Aufsatz: Diana Hitzke: „Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur.“ Andreas Langenohl, Katrin Lehnen und Nicole Zillien (Hg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt/New York: Campus 2021, 243-267.

Literatur

Glanz, Berit (2019), Pixeltänzer, Frankfurt a.M.

Groß, Joshua (2020), Flexen in Miami, Berlin.

Lerner, Ben (2011), Leaving the Atochia Station, London.

Randt, Leif (2020), Allegro Pastell, Köln.

Reckwitz, Andreas (2012), Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin.


[1] Während bei Leif Randt die Natur – wenn auch immer leicht ironisch – durchaus eine Rolle im Leben der Protagonist:innen spielt (Jerome lebt am Rande eines Naturschutzgebiets, sie machen Ausflüge an den Rhein usw.), wird sie bei Glanz und Groß zum Fluchtpunkt – in beiden Texten werden Roboter in die Freiheit entlassen: bei Glanz ein Fischroboter in die Spree, bei Groß ein Staubsaugroboter in den Ozean. In Sudjics Sympathy werden das Notebook und das Smartphone von Mizuko im Wasser versenkt – hier werden die technischen Geräte jedoch nicht in die Freiheit „entlassen“, sondern die Medien sollen endgültig stumm gestellt werden. 

[2] „I didn’t have a phone, and they didn’t know exactly where I lived“ (ebd.: 21).

 

Ben Lerners Trilogie: Metafiktion, Kunstreflexion und die Poesie der Analogie

Ben Lerner – Lyriker, Essayist und Professor für Englische Literatur am Brooklyn College in New York – machte zunächst mit drei Gedichtbänden (The Lichtenberg Figures 2004, Angle of Yaw 2006, Mean Free Path 2010) auf sich aufmerksam; 2016 legte er dann den Band The Hatred of Poetry vor, in dem er über den Status von Dichtung nachdenkt. Die reflektive Auseinandersetzung mit Literatur und ihrem Einfluss auf die Person des_der Dichter:in, mit deren Status in der Gesellschaft und innerhalb der Ökonomie der Gegenwart spielt auch in den drei Romanen Leaving the Atocha Station (2011), 10:04 (2014) und The Topeka School (2019) eine große Rolle. Die autofiktiven Erzählungen, die immer wieder auf das Leben des Autors, aber auch auf einander verweisen, brechen mit dem Anspruch auf Authentizität, der von Autor:innen wie Karl Ove Knausgård, Édouard Louis oder Annie Ernaux (und anderen bzw. ihren Leser:innen) an dieses Genre herangetragen wurde. Sie erinnern auch daran, dass ohnehin fraglich ist, was ein echtes Leben mit einem zu einer Erzählung verdichteten überhaupt zu tun haben soll. Stilistisch findet sich keine bekenntnishafte Nabelschau à la Knausgård, kein Vorwurfston wie bei Louis und auch kein Versuch eines erzählerischen Panoramas einer Epoche wie bei Ernaux. Ben Lerner ist stets nah an der Gegenwart – damit erinnert er eher an Essayist:innen wie Leslie Jamison, Maggie Nelson, oder Rebecca Solnit; aber auch an Schriftsteller:innen wie Jonathan Franzen oder Sally Rooney.

Parallelen zwischen den Figuren und ihrem Schöpfer gibt es natürlich dennoch zu entdecken: So hat der Autor – wie der Erzähler des ersten Romans Adam Gordon – einen durch ein Fulbright-Stipendium finanzierten Aufenthalt in Madrid verbracht; er ist – wie der Protagonist des dritten Romans – in Topeka, einer Stadt in Kansas, geboren und seine Eltern sind (wie im ersten und zweiten Roman schon angedeutet und im dritten dann ausgeführt wird) Psycholog:innen; auch die Profession – als Dozent am Brooklyn College, wo er Englische Literatur unterrichtet – teilt der Autor mit dem Protagonisten seines zweiten Romans. Viele Facetten der Figuren lassen sich demnach auf den Autor beziehen; die Poetik Lerners – so machen alle drei Texte deutlich – zielt jedoch genau auf das Gegenteil: das Ausweiten, Verdichten und Erzählen des Lebens in der Gegenwart in einem Maße, in dem sie sich nur in der Fiktion zeigen kann.

Stories in der Story

Die Spannung wird nicht dadurch erzeugt, dass die Stories, die innerhalb der Romane erzählt werden, besonders wahr und authentisch sind oder gerade ein Momentum haben; es geht eher darum, besonders gute Geschichten zu erzählen. Das Verhältnis zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Narrativierung eines Ereignisses wird – der Metaebene sei Dank – innerhalb des fiktiven Textes verhandelt und nicht in Bezug auf außertextuelle Wirklichkeit. So wird in 10:04 immer wieder das Schreiben und Plotten ebendieses Buches beschrieben: wir lesen mögliche Geschichten, die dann nicht oder anders erzählt werden. Auf das erste Kapitel, in dem alle Subplots ausgelegt werden, folgt im zweiten eine Story, die im ersten mit der Agentin des Autor-Protagonisten durchgesprochen worden war und tatsächlich auch im New Yorker erschienen ist.

„The story would involve a series of transpositions: I would shift my medical problem to another part of the body; replace astereognosis with another disorder, displace Alex’s oral surgery. I would change names: Alex would become Liza, which she’d told me once had been her mother’s second choice; Alena would become Hannah; Sharon I’d change to Mary, Jon to Josh; Dr. Andrews to Dr. Roberts, etc.“

10:04, 54f.

Verfechter:inenn der Authentizität in der Autofiktion könnten dies für einen Verweis auf die Wirklichkeit hinter der Erzählung halten, denn schließlich wurde den Lesenden bereits die Geschichte hinter der Geschichte erzählt und sie wissen auch um die Ähnlichkeit zwischen den Erzählern in Lerners Romanen und dem Autor selbst. Stärker ist hier aber der Punkt, dass alle Geschichten nicht nur gemacht, sondern auch auf eine ganz bestimmte Art und Weise erzählt (oder eben nicht erzählt) werden. Die Lesenden kennen die Personen und die dazugehörigen Geschichten aus dem ersten Kapitel, darüber hinaus erzählt der Autor-Protagonist seiner Agentin von seinen Ideen. Geht es hier um ein Original, das dann umgeschrieben wird? Um die vielleicht zugrunde liegenden Ereignisse, die sich in der Wirklichkeit ereignet haben? Oder darum zu zeigen, dass der Protagonist tatsächlich mit dem Autor zu tun hat und dass von diesem Autor im New Yorker eine Story veröffentlicht wurde (es handelt sich um The Golden Vanity), die sich mit dem Kapitel des Buches abgleichen lässt?

Leaving the Atocha Station (2011)

Lerners erster Roman erzählt von einem Dichter, Adán/Adam, der durch ein Stipendium aus den USA nach Madrid gekommen ist und seinen Alltag dort mit dem Schreiben von Gedichten, mit seinen neuen Freund:innen aus einer Galerie und in Beziehungen zu zwei Frauen, Isabel und Teresa, verbringt. Hier geht es darum, auszuloten, wie und unter welchen Umständen man Künstler:in werden und bleiben kann, aber auch darum, dass es immer wieder kleinere und größere Entscheidungen sind (in Spanien bleiben oder nicht, professionell Gedichte schreiben oder nicht?), die den Prozesse in Gang setzen, der nötig ist, um aus Schreibenden auch Schriftsteller:innen zu machen. Adán versucht sich während seines Aufenthaltes in Madrid von sozialen Verpflichtungen weitgehend fern zu halten.   

„Although I had internet access in my apartment, I claimed in my e-mails to be writing from an internet café and that my time was very limited. I tried my best not to respond to most of the e-mails I received as I thought this would create the impression I was offline, busy accumulating experience, while in fact I spent a good amount of time online, especially in the late afternoon and early evening, looking at videos of terrible things.“

Leaving the Atocha Station (2011), 18f.

Beschrieben wird ein Leben, welches zwar fast klischeehaft der Idealvorstellung eines Künstler:innenlebens entspricht, aber nie klischeehaft wird, da Lerner einfach gut erzählt und auf selbstironisches Versteckspiel, gar Zynismus – ganz Kind von Therapeut:innen – fast durchgehend verzichtet. Die ökonomische Situation des Künstlers ist, wenn auch auf Zeit, durch ein Stipendium sichergestellt. Adán muss sich durch seinen Status als amerikanischer Stipendiat in Madrid darüber hinaus weder gesellschaftlich-ökonomisch verorten noch künstlerisch etablieren. Er kann sich ganz auf den Zustand – in dem er sich auf das Schreiben, die Kunst, das Ausgehen sowie auf Teresa und Isabell fokussiert – einlassen, weil er weiß, dass dieser nicht von Dauer sein wird. Er umgibt sich mit einem Milieu, in dem Kunst – ob bei den beiden Freunden Arturo und Rafa, die eine Galerie betreiben, oder bei Teresa, die als Übersetzerin für Lyrik tätig ist – das Leben prägt. Zugleich wird thematisiert, dass dies nur möglich ist, weil alle drei aus Familien kommen, die ihr Geld – wie sie selbstironisch reflektieren – nicht mit dem Schreiben von Gedichten verdient haben.

„When we finally arrived at Rafa’s expensive house I asked how Rafa made his money. They laughed. I said I meant how did his family make its money. Teresa said something about banks. And your own family, I asked, tentatively. Arturo said they didn’t make it by writing poetry and we laughed.“

Leaving the Atocha Station (2011), 139

Welche Rolle Kunst in der Gesellschaft spielt oder spielen kann, wird auch in Hinsicht auf die politische Haltung der Gruppe reflektiert: Auf Demonstrationen treten sie für linke Belange ein; ihren privilegierten Status reflektieren sie zwar, sind aber nicht bereit (oder denken gar nicht daran), daran etwas zu ändern. Lerner gelingt es, immer wieder auf die komplexen Widersprüche der westlichen Gesellschaft hinzuweisen, ohne dabei in zynisch oder selbstgerecht zu werden. Dabei gibt es eine ganze Reihe von Geschichten, die ein ähnliches Milieu mit ähnlicher politischer Haltung beschreiben, allein mit dem Ziel allerdings, die eigenen Privilegien ironisch wegzulächeln. Das hat der Erzähler allerdings nicht im Sinn – statt Ironie und Distanzierung wählt Lerner die klug komponierte Verwobenheit von Geschichten, das Spiel mit Reflexionen und Perspektiven, die Selbstgenügsamkeit von Kunst.

10:04 (2014)

10:04, das zweite Buch der Trilogie, erzählt nun von dem bereits 33-Jährigen Schriftsteller, der im Erwachsenenleben angekommen ist: er sieht sich mit einer ärztlichen Diagnose konfrontiert, wird vielleicht Vater des Kindes seiner besten Freundin und übernimmt Verantwortung für den Schüler Roberto, den er bei einem Projekt über Dinosaurier begleitet. Zugleich geht es um Kunst in allen ihren Facetten, um die Möglichkeit eines verantwortungsvollen Lebens in der gegenwärtigen Gesellschaft, um Reflektionen über Zeit, aber auch um die Auseinandersetzung mit katastrophischen Naturereignissen. Lerner schreibt Metafiktion im besten Sinne des Wortes, zusammengehalten wird dieser Roman vor allem durch die subjektive Perspektive des Schriftsteller-Ich-Erzählers. Zum Teil liest sich der Roman wie eine Reihe von Short Stories, die sich ineinanderfügen und einander teilweise spiegeln, ergänzt durch eher essayistische Reflexionen und perspektiviert durch psychologische Nähe zu den Figuren. Der Erzähler – und dahinter natürlich auch der Autor – erscheint dabei als äußerst präsente Figur, der wir dabei zusehen, wie sie alles arrangiert, kuratiert und zusammenhält und dafür sorgt, dass an keiner Stelle der Eindruck postmoderner Hermetik entsteht.

Bei Lerner ist das Leben nicht absurd, es gibt zwischen den Figuren kein Drama und keine Respektlosigkeiten, die Handlung speist sich weder aus Konflikten noch aus psychologischen Entwicklungslinien. Lerners Schreiben erschöpft sich aber auch nicht in den essayistischen Passagen und Referenzen auf Literatur und Kunst. Dazwischen geschoben sind Erzählungen über Beziehungen zwischen ganz unterschiedlichen Menschen sowie fein komponierte und auf einander abgestimmte Subplots. Titelgebend ist 10:04, die Zeit, die in dem Film Back to the Future angezeigt wird, als der Held des Films zurück in die Zukunft geschickt wird. Den Film sehen sich der Ich-Erzähler und seine beste Freundin Alex an, als die Bewohner:innen New Yorks wegen starker Hurrikane dazu angehalten sind, zuhause zu bleiben und sich auf den Katastrophenfall vorzubereiten. Zurück in die Zukunft kann als Anspielung für die verschiedenen Zeitebenen der unterschiedlichen Geschichten gelesen werden, aber auch für die Aufteilung von Lebensereignissen in eine narrative Form mit einem Anfang, einem Höhepunkt und einem Ende stehen, die sich erst durch das Erzählen einstellt. Auf einer anderen Ebene des Textes – der Protagonist arbeitet im Rahmen eines Projekts mit dem Schüler Roberto an einem Panorama – geht es um den Brontosaurus, einen Saurier, der im Grunde eine Erfindung ist. Der Forscher, der ihn erstmals beschrieben hat, hatte ein Skelett ohne Kopf gefunden und dachte, er habe eine neue Art entdeckt. Der Brontosaurus führt seitdem ein Eigenleben in Museen und in Büchern und zählt zu den beliebtesten Dinosauriern.

Lerners Protagonist:innen sind Menschen, die ein gutes Leben in westlichen Metropolen führen, sich – finanziell mehr oder weniger stabil – selbst verwirklichen können und sich respektvoll und verantwortlich anderen gegenüber verhalten. Sie sind aber komplex genug, um nicht – wie zum Beispiel in Leif Randts Allegro Pastell – wie Kippfiguren zu wirken, bei denen unklar bleibt, ob und wie ernst sie zu nehmen sind. Dort, wo die Figuren einander helfen, sich gegenseitig unterstützen, gibt es meist auch eine Rahmung. Im letzten Kapitel ist der Ich-Erzähler, der wie Lerner selbst auch als Dozent arbeitet, mit einem Studenten verabredet, der sich große Sorgen um seine Zukunft macht und vermutlich psychische Probleme hat. Im Gespräch sagt er zu ihm:

„’I agree it’s a crazy time,‘ I said. ‚But I think in times like these we have to try to stay connected to people. And we have to try to make our own days, despite all the chaos. We have to focus on feeling comfortable in our own skin, and we need to be open to getting help with that.‘ I was desperately trying to channel my parents.“

10:04 (2014), 218

An dieser Passage wird deutlich, wie es Lerner gelingt, das Gleichgewicht zu halten – Fürsorge und Verantwortung werden als Themen ernst genommen, dann aber zugleich gerahmt: einmal als Figurenrede und darüber hinaus auch intertextuell. So verweist der Hinweis auf die Eltern des Erzählers auf die anderen beiden Bücher der Trilogie: aus dem ersten Teil wissen wir bereits, dass seine Eltern als Psycholog:innen arbeiten, im dritten Teil wird die Arbeit von Lerners Eltern und dessen Kindheit in Topeka schließlich im Vordergrund stehen.

In Lerners Welt gibt es dennoch Zweifel. Nach dem Gespräch mit dem Studenten denkt er:

„I did not say that our society could not, in its present form, go on, or that I believed the storms were in part man-made, or that poison was coming at us from a million points, or that the FBI fucks with citizen’s phones, although all of that was to my mind plainly true. And that my mood was regulated by drugs. And that sometimes the language was a jumble of marks.“

10:04 (2014), 220

Als das Projekt über die Dinosaurier fertig ist, lässt der Erzähler den Text, den Roberto geschrieben hat, zusammen mit einigen farbigen Abbildungen als hochwertiges Buch drucken. Als er Roberto die Bücher zeigen will, ist dieser wenig angetan: das nächste Mal würde er lieber einen Film mit seinem I-Phone machen. Die Enttäuschung über die mangelnde Anerkennung des Aufwands trübt jedoch nicht den Blick auf die gemeinsam erlebte Zeit. In einer anderen Szene denkt der Erzähler darüber nach, dass Alex ihn vielleicht gar nicht wegen seiner guten Qualitäten als möglicher Vater ihres Kindes ausgesucht hat – er zieht ganz im Gegenteil in Erwägung, dass es womöglich gerade sein fehlendes Verantwortungsbewusstsein in dieser Hinsicht ist, das sie schätzt, weil sie dann sicher sein kann, dass er sich nicht ständig in die Erziehung des Kindes einmischen würde. Diese Ambivalenz hält er jedoch aus – und das ist es, was die Prosa Lerners ausmacht: das Ausloten und das Anderserzählen, die Verdichtung und die Wiederholung sowie die Komplexität der einzelnen Figuren und Geschichten sowie deren Kuratierung, auch über ein einzelnes Buch hinaus.  


The Topeka School (2019)

Lerners The Topeka School ist schwerer zugänglich als die ersten beiden Bücher, kapitelweise wechselt sowohl die Fokalisierung als auch der oder die Erzähler:in, der Zusammenhang zwischen den Abschnitten wird erzählerisch kaum hergestellt, zugleich gibt es unterschiedliche Darstellungsmodi und Sprachregister. Erzählt wird von Adam Gordon (der Name ist schon aus Leaving the Atochia Station bekannt und wir erleben das Alter Ego des Autors hier in seiner Teenagerzeit) und auch von Adams Vater Jonathan und seiner Mutter Jane, die aus der Ich-Perspektive erzählen. Der Autor ist wie Adam in Topeka aufgewachsen, er hat wie der Protagonist an Debattierwettbewerben teilgenommen. Seine Mutter – Harriet Lerner – ist eine Psychologin, die familienbezogene und feministische psychoanalytische Konzepte auch einem breiten Publikum nahegebracht hat.

Zu Beginn täuscht uns der Roman, indem er eine Story erzählt, die von Sally Rooney stammen könnte: Wir sind ganz nah bei dem Teenager Adam Gordon, der mit seiner Freundin Amber auf einem Boot mitten im See treibt. Sie trinken Southern Comfort und als er zu seiner Freundin herüberschaut, um zu sehen, wie seine Worte auf sie gewirkt haben, ist sie weg. Sie ist nicht mehr im Boot und er kann sie auf dem dunklen See auch nirgends sehen. In der Bedienung von Booten ungeübt, steuert er nach einigen Bemühungen auf das Ufer zu und schleicht sich schließlich in Ambers Haus – an ihrem schlafenden Bruder vorbei, hinauf zu ihrem Zimmer. Dort bemerkt er, dass er sich im Haus geirrt hat. Als er später wieder auf Amber trifft – was dazwischen passiert, sei hier jetzt nicht verraten – erzählt sie ihm, wie sie an einem Abend, an dem ihr Stiefvater beim Abendbrot wieder einmal endlos monologisiert hat, einfach leise und ganz langsam von ihrem Stuhl geglitten ist, um sich anschließend unbemerkt zu ihrer Mutter auf den Balkon zu schleichen. Als der Stiefvater dann in einem Moment, noch immer mitten in seiner Rede, zu ihr herüberblickte, war sie nicht mehr da und beobachtete ihn stattdessen von außen. Lerner beschreibt die „analogy between her slipping from the chair and from the boat“ als „poetry“ (The Topeka School, 2020 [2019], 15) und bezieht sich damit auf eine Art und Weise des Schreibens, die vor allem in 10:04 prägend und dort tatsächlich auch poetisch ist. In diesem dritten Roman überlagern Diskurse der Psychoanalyse, der Rhetorik und gesellschaftlicher Machtdynamiken das, was am Anfang als Geschichte beginnt. Die sich zum Teil durchaus in einander spiegelnden, auch mit einander zusammenhängenden Erzählungen, Berichte und essayistischen Passagen um die Kleinfamilie Gordon in Topeka bilden ganz sicher keinen Familienroman.

Adam wird einerseits als Teenager beschrieben, der Zeit mit seiner Freundin Amber und auf Partys verbringt, der sich aber andererseits sehr intensiv auf Debattierwettbewerbe vorbereitet, in denen er sehr gut abschneidet. Seine Position wird wie folgt beschrieben:

„The problem for him in high school was that debate made you a nerd and poetry made you a pussy – even if both could help you get to the vaguely imagined East Coast city from which your experiences in Topeka would be recounted with great irony.“

The Topeka School

Das folgende Jonathan-Kapitel dehnt die erzählte Zeit aus – es ist 1969, Adams Vater trifft dessen Mutter Jane, befreundet ist er mit Klaus, der ebenfalls Therapeut in Topeka ist. Klaus kommt ursprünglich aus Berlin, war zuvor in Zürich und ist viel älter als Jonathan. Die beiden unternehmen gemeinsame Spaziergänge, auf denen sie sich über Jonathans Patienten – die „lost boys of privilege“ (The Topeka School, 2020 [2019], 55) unterhalten. Klaus‘ Perspektive, die Jonathan nur bedingt teilt, ist folgende:

„On the one hand, Klaus … could not take this kids seriously; what could be more obvious than the fact that they did not know what suffering was, that if they suffered of anything it was precisly this lack of suffering, a kind of neuropathy that came from too much ease, too much sugar, a kind of existential gout? And then, on the other hand, Klaus took them very seriously indeed; they are told constantly … that they are individuals, rugged even, but in fact they are emptied out, isolate, mass men without a mass, although they’re not men, obviously, but boys.“

The Topeka School, 60f.

In dem Kapitel über Jane, deren Geschichte an Lerners Mutter Harriet Lerner, eine feministische Psychologin, angelehnt ist, thematisiert der Roman einerseits die toxische Männlichkeit, die sich damals gegen ihr Buch und ihre daraus resultierende Berühmtheit richtete; und andererseits auch die Unfähigkeit der damaligen Kolleg:innen in anderen als in patriarchalen und sexistischen Mustern zu denken. Es geht nicht nur um die Dynamik von Familienstrukturen, sondern auch um die Verstrickungen, die aus dem professionellen Umfeld der Topeka-Stiftung durch vielfältige Arbeits-, Freundschafts- und Analysebeziehungen hervorgingen. So verwandelte sich Janes Beziehung zu ihrer Freundin Sama zunehmend zu einer zwischen Klientin und Analytikerin. Sama war wiederum in Analyse bei Klaus, der mit Janes Ehemann Jonathan befreundet ist.

Die Erzählperspektive steht konsequent in Frage: nicht nur, dass sie in den jeweiligen Kapiteln wechselt (Jane und Jonathan erzählen jeweils aus der Ich-Perspektive, über Adam wird erzählt), auch innerhalb dieser Abschnitte wird sie jedoch nicht konsequent durchgehalten, zum Teil sogar widersprüchlich gestaltet. Die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug der Fiktion tritt in diesem dritten Roman durch die ständigen Zeit- und Perspektivwechsel zunächst in den Hintergrund, später drängt sie sich durch die Thematisierung von heiklen Themen wie Missbrauch und Demütigungen jedoch umso stärker auf; dann jedoch mit dem Beigeschmack, dass der Autor, der mit Fragen der Exponiertheit stets geschickt und ironisch spielt und die Schwierigkeiten des Berühmtwerdens am Beispiel von Jane auch thematisiert, solche Themen in seinen Text einfließen lässt, ohne dass sich die Figuren oder die Erzähler:innen darum kümmern.

Die Lektüre versetzt die Leser:innen zwischen lauter Figuren, die ihre eigene Situation, Gefühlslage und Familiendynamik ständig reflektieren, die alle möglichen Geheimnisse und Spiegelungen entdecken, zahlreiche Beziehungen aufrechterhalten, aber handeln, als ob sie nichts voneinander wüssten (ein Resultat der Darstellung der jeweiligen Einzelperspektiven der Figuren). Jede Interaktion erscheint nur als das Vorspiel der anschließenden Analyse oder Fiktionalisierung. Während es Lerner in 10:04 gelingt, Figuren zu zeichnen, die auf jegliche Dramatik verzichten, weil sie ihr Leben im Griff haben und genug Zeit und Geld haben, sich ausgiebig mit Kunst und schönen Dingen zu beschäftigen, gibt es hier zwar dramatischen Stoff – Affären, Familienkonflikte, Mobbing – erzählt wird aber, als befinde sich alles in einem nebligen Schleier und hätte miteinander überhaupt nichts zu tun. Nicht zuletzt stört der Synkretismus der Stile – an einigen Stellen wünscht man sich eine Entscheidung hin zur Essayistik oder dann doch zum Familienroman. Lerner geht es aber genau um die Vermischung zwischen analytischer und erzählter Wirklichkeit so wie sie sich dem/der Intellektuellen auf der Metaebene des Denkens tagtäglich bietet.