Flexen in Miami, Allegro Pastell, Pixeltänzer

Digitalisierung bei Berit Glanz, Joshua Groß und Leif Randt

Drei Romane der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – Pixeltänzer (2019) von Berit Glanz (*1982), Flexen in Miami (2020) von Joshua Groß (*1989) und Allegro Pastell (2020) von Leif Randt (*1983) – beschreiben eine fiktive Welt, deren Alltag von digitalen und sozialen Medien durchdrungen ist, die Protagonist:innen sind auch allerlei technischen Tools gegenüber aufgeschlossen. Die Texte thematisieren die Digitalisierung nicht als neu und gefährlich, sondern als bereits normalisierte Realität. Daher lassen sich an ihnen gesellschaftliche Veränderungen in Bezug auf Arbeit und Freizeit, Kunst und Kreativität, Beziehungen sowie die grundsätzliche Bedeutung der Digitalisierung besonders gut beobachten. Die literarischen Texte lassen sich als Auseinandersetzung mit Entwicklungen lesen, die derzeit gesellschaftlich ausgehandelt werden.  

Arbeit und Freizeit

In Leif Randts Allegro Pastell (2020) sind Arbeit und Freizeit weder räumlich noch zeitlich begrenzt: Jerome und Tanja haben keine festen Arbeitszeiten, sie arbeiten mobil und gern auch an den Wochenenden, an denen sie einander sehen. Dennoch gibt es Zeit für Ausflüge mit dem Tesla oder Spaziergänge ins Naturschutzgebiet[1] und Zeitfenster für intensives Ausgehen, wobei die Regeneration nach den von Schlafmangel und Drogenkonsum geprägten Tagen stets mit eingeplant wird. Jerome ist selbständiger Webdesigner, Tanja ist Schriftstellerin. Da beide mobil arbeiten, sind sie an Orte nicht gebunden – Jerome lebt in seinem Elternhaus in Maintal, Tanja in Berlin. Wie der Titel bereits suggeriert, wird das Lebensmodell der beiden weder glorifiziert, noch kritisch beleuchtet. Randt verleiht seiner Erzählung Ambivalenz, indem er vorwiegend ohne Wertungen erzählt. Dadurch bleibt es den Lesenden überlassen, ob sie den Roman als Abbild des Status quo einer Gesellschaft lesen, als Utopie für Beziehungen ohne Konflikte oder als Kritik an Lebensmodellen, die darauf basieren, alles Störende auszuschließen bzw. dies aufgrund ihrer privilegierten Position überhaupt zu können.

Während Randt die Arbeitswelt von Freischaffenden und Selbständigen beschreibt, geht es in Berit Glanz‘ ebenfalls gefeiertem Roman Pixeltänzer (2019) um die Tech-Arbeitswelt. Die Protagonistin Beta arbeitet in einem Start-Up-Unternehmen im Bereich der Software-Qualitätskontrolle. Technik, Internet und neue Arbeitsformen prägen jedoch auch ihren Alltag jenseits der Lohnarbeit. Die durch verschiedene Apps ermöglichten Vernetzungsmöglichkeiten, ihre eigenen Programmierfähigkeiten und das ständige Recherchieren im Internet sind für Beta essentiell: morgens wird sie von einer Weck-App geweckt, in ihrer Freizeit fertigt sie Tiermodelle für ihren 3D-Drucker an und nach Informationen oder Erklärungen sucht sie stets nur online.

Die Tech-Arbeitswelt wird bei Glanz fast durchweg positiv beschrieben. Betas Arbeitsplatz wird kaum als solcher bezeichnet, sondern immer nur als Ort für Kreativschaffende dargestellt: Das Team wird ständig motiviert und mit konzentrationsfördernden Snacks versorgt, montags gibt es Sushi zum Mittagessen und natürlich geht es auch für eine Woche in den (so nicht bezeichneten) Arbeitsurlaub nach Barcelona. Die Arbeits- und Verhaltensweisen der Tech-Branche werden zwar teils mit leichter Ironie beschrieben, Kehrseiten gibt es aber kaum – wenn überhaupt, dann erweist sich die Realität hinter den Versprechen als nicht ganz so rosig wie erwartet: Die Teamreise geht beispielsweise nicht wie auf den Fotos angekündigt nach Bali, sondern nach Barcelona, wo es anders als auf der indonesischen Insel keine Palmen am Arbeitsplatz gibt und wo die Sitzkissen zwar gut aussehen, aber unbequem sind. Die zunächst als innovativ angepriesene Fahrt im Tech-Bus, die Beta in ihrem Urlaub unternimmt, hebt sich nicht wirklich von Klassen- oder Seniorenfahrten ab, im Bus herrscht ein mit Kaffee aus großen Thermoskannen getränktes Arbeitsklima, das von durchwachten Nächten im Hotel begleitet wird, in denen die Teams an ihren Apps arbeiten.

Die Begriffe der Tech-Welt, die Arbeitsmethoden der Start-Up-Szene sowie die Funktionsweise des Codens und verschiedener Apps werden in lexikonähnlichen Einträgen erklärt: so etwa der „Monkey-Test“ (ebd.: 48), der „Black-Box-Test“ (ebd.: 58), das „Fuzzing“ (ebd.: 64), der „Gorilla-Test“ (ebd.: 76), das „Visual Testing“ (ebd.: 81), „Scrum“ (ebd.: 144, 149, 153, 158, 162), das „Impediment Backlog“ (ebd.: 171), „Planungspoker“ (ebd.: 173), die „Kanban-Tafel“ (ebd.: 177), „Open Source“ (ebd.: 235, 247) und die „Definition of Done“ (ebd.: 251). Damit führt der Text auch ein technisch nicht affines Publikum fast didaktisch in die Welt der Start Ups und in die Arbeitsweise des New Work ein.

Themen wie die Überwachung und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche werden angedeutet, stören aber weder das System noch die Protagonistin. Jede angedeutete Kritik erweist sich im Laufe der Geschichte höchstens als kleine Irritation oder sie läuft von vornherein ins Leere. Beta stiehlt – zum Spaß – einen Roboterfisch aus dem Aquarium des Ruheraums, der, so deutet die Ich-Erzählerin an, auch zur Überwachung der Mitarbeitenden dienen könnte. Dessen Verschwinden – er wird von Beta in der Spree versenkt und sendet daher für eine gewisse Zeit weiterhin Unterwasserbilder – bemerkt aber letztlich niemand. Der Versuch, mit ihren beiden Kolleg:innen den Wettbewerb, der auf der Fahrt im Tech-Bus ausgetragen wird, durch die Programmierung einer unverkäuflichen App zu stören, erweist sich als unmöglich – denn in der gewinnorientierten und warenförmigen Wahrnehmung der Jury lässt sich auch die Unverkäuflichkeit zum Verkaufsargument stilisieren. Die Ausweitung der Arbeit auf das gesamte Leben – Beta verbringt ihre Freizeit mit ihren Arbeitskolleg:innen und ihren Urlaub im Tech-Bus – wird an keiner Stelle kritisch gesehen; schließlich entspricht sie dem Ideal einer Verbindung von Arbeit und Leben (Work-Life-Blending im Gegensatz zu Work-Life-Balance, d.h. einer Verschmelzung im Gegensatz zu einer Ausbalancierung von Arbeit und Freizeit) in der Kreativbranche. 

In Joshua Groß‘ Flexen in Miami (2020) spielt Arbeit gar keine Rolle. Der Ich-Erzähler Joshua hat ein „einjähriges Aufenthaltsstipendium der Rhoxus Foundation“ (ebd.: 8) in Miami und verbringt seine Zeit hauptsächlich in seinem smart ausgestatteten Apartment, in dem er von einer Drohne mit Astronautennahrung versorgt wird. Neben Social Media und Suchmaschinen interessieren ihn vor allem NBA-Spiele und Sportwetten. Bald wird der Protagonist fast vollständig von einem Computerspiel namens Cloud Control in den Bann gezogen. Dieses Spiel prägt dann auch seine Interaktion mit den beiden Personen, die er in Miami kennenlernt – die Meeresbiologin Claire und deren Ex-Partner, den Rapper Jellyfish P. Obwohl zu Beginn des Textes durch das Stipendium und Hinweise auf das Schreiben angedeutet wird, dass der Protagonist Schriftsteller ist, wird während der gesamten Handlung nicht nur nicht geschrieben (was nicht ganz untypisch für Texte über Schriftsteller:innenresidenzen ist), sondern es wird nicht einmal beklagt, dass nichts geschrieben wird. Eine einzige Textstelle widmet sich dem Zwiespalt zwischen Schreiben und Lohnarbeit:

„Bevor ich nach Miami gekommen war, hatte ich halbtags gearbeitet, um unabhängig zu sein. Ich hatte mich komplett aufgerieben. Ich war immer noch ausgelaugt. Ich war darauf hingewiesen worden, dass auch Kafka seine Klassiker nebenberuflich geschrieben habe, nur für sich selbst, in der Brache des nächtlichen Burnouts. (…) Ein Ausweg hatte sich eröffnet, als mir das Stipendium der Rhoxus Foundation angeboten wurde und ich meinen Job kündigen konnte. Kein unbefristeter Vertrag mehr, nur neue Zukunftsangst.“ (ebd.: 25)

Von der Anlage erinnert Groß‘ Text stark an Ben Lerners Leaving the Atochia Station (2011), eine Erzählung, die auch im Diskurs um Literatur und Digitalisierung immer wieder genannt wird und insofern durchaus auch für Groß ein Vorbild gewesen sein könnte. Bei Lerner geht es um einen Autor, der durch ein Stipendium aus den USA nach Madrid gekommen ist und seinen Alltag dort zwischen dem Schreiben von Gedichten, dem Ausgehen mit seinen neuen Freund:innen aus einer Galerie und in nicht weiter definierten Beziehungen zu den beiden Frauen Isabel und Teresa verbringt. Während bei Groß das Schreiben gar keine Rolle spielt, da sein Ich-Erzähler fast vollständig von digitalen Medien und der von dem Computerspiel ausgehenden Interaktion vereinnahmt ist, steht bei Lerner das Schreiben, aber auch das Leben als Künstler im Mittelpunkt. Lerners Protagonist Adán gelingt es jedoch – ganz im Gegenteil zu Joshua – sich während seines Spanienaufenthaltes von Medien, zumindest in Bezug auf die damit zusammenhängenden sozialen Verpflichtungen, weitgehend fern zu halten:   

„Although I had internet access in my apartment, I claimed in my e-mails to be writing from an internet café and that my time was very limited. I tried my best not to respond to most of the e-mails I received as I thought this would create the impression I was offline, busy accumulating experience, while in fact I spent a good amount of time online, especially in the late afternoon and early evening, looking at videos of terrible things.“ (ebd.: 18f.)

Seinen Freunden in den USA erzählt er, er habe in seinem Apartment keinen Internetzugang. Seine neuen Freunde in Madrid können ihn telefonisch nicht erreichen, ebenso wenig die Stiftung.[2]

Während bei Lerner die Arbeit des Ich-Erzählers an seinen Gedichten und die Auseinandersetzung mit seiner Position als Künstler thematisiert wird, ist bei Groß von Kunst keine Rede (abgesehen von dem Rapper Jellyfish P, der unter massivem Drogeneinfluss an seinem neuen Album arbeitet). Lerner thematisiert darüber hinaus auch das Verhältnis von Kunst zu Arbeit, indem er ein Milieu beschreibt, in dem nicht gearbeitet werden muss. Teresa übersetzt Gedichte, Arturo und Rafa betreiben eine Galerie, alle drei entstammen Familien, die ihr Geld – wie sie selbstironisch reflektieren – nicht mit dem Schreiben von Gedichten verdient haben („Teresa said something about banks. (…) Arturo said they didn’t make (money) by writing poetry and we laughed“ [ebd.: 139]).

In Flexen in Miami wird keines der Themen, die durch die Anlage der Erzählung angedeutet werden, ausgeführt: Das Stipendium wird weder zum Schreiben noch zur Reflektion über Kunst genutzt, es findet keine Auseinandersetzung oder Entwicklung durch die Auslandserfahrung statt und auch der beständig intensiver werdende Drogenkonsum und das Versinken in dem Computerspiel werden nur dargestellt, nicht aber reflektiert. Flexen in Miami lässt sich daher vielleicht als Parodie auf die Erwartungen der Literaturwelt an den Roman über die Digitalisierung lesen, schöpft aber auch dieses Potential nicht aus. Was zunächst als selbstironische Spiegelung des Alltags eines zumindest zeitweise nicht zur Lohnarbeit verpflichten Schriftstellers in Zeiten von Social Media, Computerspielen und allerlei Ablenkungen durch das Internet gelesen werden kann, führt schließlich nicht mehr aus der Welt der Sportwetten, Drogen und aus Cloud Control heraus.   

Kunst, Kreativität, Gamification

In Allegro Pastell wird die Ähnlichkeit der Lebensmodelle von selbständigen Kreativarbeitenden und Autor:innen beschrieben – der Webdesigner Jerome und die Schriftstellerin Tanja arbeiten mobil, benötigen nur ihr Notebook zum Arbeiten und können sich ihre Zeit frei einteilen, was ihnen – in stets gut durchdachter Ausbalancierung von Disziplin und Ausschweifung – mühelos gelingt. Randts Roman ist in Bezug auf die Beschreibung von Social Media fast anachronistisch (und ähnelt in dieser Hinsicht Ben Lerners Text) – im Vordergrund stehen weder die damit verbundene ständige potentielle Erreichbarkeit noch die Ablenkung durch zahlreiche Apps. Die Nachrichten, die Tanja und Jerome einander schreiben, sind immer wohl durchdacht und ausformuliert. Mails werden genutzt, um mit Abstand noch einmal in aller notwendigen Komplexität und Länge über Dinge zu reflektieren, die in der direkten Kommunikation zu kurz gekommen sind.

In Flexen in Miami erlebt der Protagonist das Gegenteil von Reflektiertheit und Selbstbestimmung: er ist dem Internet und der Welt von Cloud Control völlig ausgeliefert und steigert diesen Zustand noch durch zunehmenden Drogenkonsum. Die suchtauslösenden Wirkungen von Drogen, Spiel und dem interaktiven Medium Internet werden bei Groß enggeführt – soweit, dass schon kurz nach Beginn des Romans das Ziel des Stipendiums nicht einmal mehr erwähnt wird. Weder Kreativität noch Kunst kommen bei Groß gegen die gamification des Alltags und die damit verbundenen Versprechen der ständigen Unterhaltung an.

Bei Berit Glanz werden Kunst, Kreativität und gamification gezielt miteinander verwoben. Beta interessiert sich für Kunst, besucht Museen und verfolgt die Geschichte um das Hamburger Künstler:innenpaar Lavinia Schulz und Walter Holdt. Sowohl ihre Arbeit als auch ihre Freizeit sind stark vom Spielcharakter aller Tätigkeiten geprägt – nicht jedoch im Sinne des Abdriftens wie bei Groß, sondern als kreativitätsfördernd und strukturgebend zugleich. Sowohl die Hauptfigur Beta als auch der Plot, der auf die Gegenüberstellung von avantgardistischen Künstler:innenzirkeln und der Welt der Start-ups setzt, entsprechen den von Andreas Reckwitz beschriebenen Entwicklungen der Gegenwart:

„In der Gegenwartsgesellschaft haben sich die Anforderung und der Wunsch, kreativ zu sein und schöpferisch Neues hervorzubringen, in ungewöhnlichem Maße verbreitet. Was ehemals subkulturellen Künstlerzirkeln vorbehalten war, ist zu einem allgemeingültigen kulturellen Modell, ja zu einem Imperativ geworden.“ (Reckwitz 2012, Klappentext)

Dieser Imperativ wird von Berit Glanz in Pixeltänzer nicht nur in einem fiktionalen Text umgesetzt, sondern geradezu idyllisch verklärt: Die Start-up-Szene wird als ständig gut gelaunt, kreativ und produktiv beschrieben. Betas Freizeit wird von Tiermodellen, Eisdielen und Ausflügen dominiert.  

Zugleich nutzt der Roman selbst auch Elemente der gamification (oder traditioneller formuliert: der Interaktion), indem er die Lesenden einbindet. Einerseits werden sie, wie bereits beschrieben, in Bezug auf neue Arbeitsformen und das Programmieren didaktisch geschult und andererseits – zusammen mit der Hauptfigur Beta – zum Entschlüsseln von (versteckten) Informationen aufgefordert. Dazu tragen nicht nur die im Text eingebundenen Links bei, die auf existierende Internetseiten verweisen und die Lesenden zu einem Medienwechsel anregen sollen, sondern auch die wahre Geschichte um Lavinia Schulz und Walter Holdt, die recherchiert werden kann. Darüber hinaus enthält der Text viel Symbolik, die sich entschlüsseln und interpretieren lässt. So verweist etwa der Vorname der Protagonistin Beta nicht nur auf die Testversion, sondern lässt sich auch als Abkürzung von Elisabeth (ein Name, der wiederum etymologisch „Gott“ und „Fülle“ in sich trägt) mit Bezug auf die digitalisierte Welt deuten. Neue Entwicklungen werden darüber hinaus oft mit Traditionen verbunden, etwa wenn Bezüge zwischen Avataren und Masken hergestellt werden.

Darüber hinaus wird das Programmieren/Coden anhand der Tiermodelle, die Beta in ihrer Freizeit gestaltet, als kreative, handwerkliche und autonome Tätigkeit dargestellt. Für Beta besteht kein Unterschied darin, ob sie in ihrer Arbeit oder Freizeit programmiert, ebenso wenig scheint sie Wert darauf zu legen, welchen kommerziellen Zwecken die Apps, die sie nutzt oder mit ihren Arbeitskolleg:innen programmiert, dienen. Einerseits wird in Pixeltänzer der Spielcharakter der Arbeitswelt beschrieben, andererseits wird implizit aber auch der Arbeitscharakter der Freizeit deutlich. 

Beziehungen

Beta nutzt das Internet und ihre Programmierfähigkeiten auch, um ihre romantischen Bedürfnisse zu erfüllen: Durch eine Weck-App, deren Nutzer:innen jeden Morgen durch ein dreiminütiges Gespräch mit Menschen aus aller Welt geweckt werden, lernt sie Toboggan kennen. Sie ist von seinem Avatar begeistert und beginnt, sich mit ihm zu beschäftigen. Dadurch entdeckt sie die Toboggan-Maske des Tänzerpaares Lavinia Schulz und Walter Holdt. Mit dem Ziel, mit Toboggan in Kontakt zu treten, setzt sie ein Blog auf. Dies gelingt ihr auch und fortan wartet sie auf versteckte Zeichen von ihm, die sie entschlüsseln muss. Auf diese Weise erhält sie von Toboggan in sich abgeschlossene Texte, die von Lavinia Schulz erzählen und als Binnenerzählungen in den Roman eingefügt sind. Beta recherchiert ihrerseits zu dieser Geschichte und verfasst auf ihrem Blog Briefe an Toboggan, in denen sie von ihrem Leben und ihrer Leidenschaft für Insekten erzählt. Auf diese Weise fügt Glanz in die vom Internet dominierte Romanwelt eine naturalistisch-romantische, sehr schlicht erzählte Geschichte ein, die von den persönlichen und künstlerischen Ausbruchsversuchen der expressionistischen Künstlerin erzählt. Diese Geschichte und die Briefe von Beta an Toboggan bilden den Kontrapunkt zu Betas technik- und internetdominiertem Alltag. Toboggan erweist sich als informierter Geschichtenerzähler, der schließlich bei der Präsentation des Tech-Bus-Startups erscheint, um einen letzten Text zu hinterlassen und schließlich, als Beta – wie im Blog angekündigt – am darauffolgenden Vormittag die Masken im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe besichtigt, am Ende der Ausstellung auf sie wartet.

Während Beta Toboggan über digitale Medien kennenlernt und darüber auch mit ihm kommuniziert, sind in Allegro Pastell Medien in Bezug auf die Beziehungsebene der Protagonist:innen kaum relevant. Die Personen, mit denen Jerome Kontakt hat, kennt er aus dem sogenannten echten Leben – die Medien, vor allem Messenger und E-Mails, dienen hauptsächlich der Kommunikation. Bei Groß findet am ehesten eine Vermischung statt – sein Protagonist kommuniziert über das Spieleforum mit Personen, die er persönlich nicht getroffen hat, Claire trifft er allerdings bei einem NBA-Spiel. Vergleichend lässt sich festhalten, dass bei Glanz alle beschriebenen Beziehungen durch digitale Medien geprägt sind, bei Randt Medien selbstbestimmt zur stets reflektierten Kommunikation genutzt werden und bei Groß eine Vermischung zwischen der Interaktion mit Personen aus der realen Welt und den Avataren in Cloud Control stattfindet. In allen drei beschriebenen Romanen ist der Einfluss von Medien auf Beziehungen jedoch nicht das eigentliche Thema: bei Glanz scheint er selbstverständlich, bei Randt ist er Teil der Reflexion über Beziehungen im 21. Jahrhundert, bei Groß fehlt die reflexive Ebene größtenteils ganz.  

Der Text ist ein Auszug aus dem folgenden Aufsatz: Diana Hitzke: „Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur.“ Andreas Langenohl, Katrin Lehnen und Nicole Zillien (Hg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt/New York: Campus 2021, 243-267.

Literatur

Glanz, Berit (2019), Pixeltänzer, Frankfurt a.M.

Groß, Joshua (2020), Flexen in Miami, Berlin.

Lerner, Ben (2011), Leaving the Atochia Station, London.

Randt, Leif (2020), Allegro Pastell, Köln.

Reckwitz, Andreas (2012), Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin.


[1] Während bei Leif Randt die Natur – wenn auch immer leicht ironisch – durchaus eine Rolle im Leben der Protagonist:innen spielt (Jerome lebt am Rande eines Naturschutzgebiets, sie machen Ausflüge an den Rhein usw.), wird sie bei Glanz und Groß zum Fluchtpunkt – in beiden Texten werden Roboter in die Freiheit entlassen: bei Glanz ein Fischroboter in die Spree, bei Groß ein Staubsaugroboter in den Ozean. In Sudjics Sympathy werden das Notebook und das Smartphone von Mizuko im Wasser versenkt – hier werden die technischen Geräte jedoch nicht in die Freiheit „entlassen“, sondern die Medien sollen endgültig stumm gestellt werden. 

[2] „I didn’t have a phone, and they didn’t know exactly where I lived“ (ebd.: 21).

 

Verschiedene Cover: Patricia Lockwood, Olivia Sudjic, Sammelband Digitaler Habitus, Leif Randt, Joshua Groß, Berit Glanz

Reflexionen über Digitalisierung in der Literatur

Mir war das Smartphone in die Badewanne gefallen, und als ich begriff, dass ich weder ein Foto davon für Instagram machen noch sofort darüber twittern können würde, war das eine wirklich schräge Erfahrung.

Christiane Frohmann

Es mag zunächst kontraintuitiv erscheinen, ausgerechnet im klassischen Medium Buch nach Reflexionen über Digitalisierung zu suchen. Gerade im traditionellen Medium der Literatur – nämlich in Büchern, die von Verlagen verbreitet werden und durch Literaturkritik bzw. Literaturpreise gesellschaftliche Relevanz erlangen – zeigt sich, wie tief die Transformation durch die Digitalisierung nicht nur diejenigen Bereiche durchdringt, die direkt von ihr beeinflusst werden. Sie wirkt sich auch auf Bereiche aus, die gern als Kontrapunkt bzw. Gegenwelt dazu wahrgenommen werden. Der Erfolg einer ganzen Reihe von Autor:innen und Texten, die sich positiv auf die Digitalisierung beziehen und diese auch strukturell in ihren Poetiken mitdenken, ist insbesondere vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass Handlungen selbst in der Gegenwartsliteratur gern in technikarme Umgebungen verlegt werden, wie Kathrin Passig völlig richtig bemerkt (Passig 2019: 33).

Dass das klassische Medium Buch keinesfalls obsolet wird, um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Literatur zu analysieren, zeigt sich auch daran, dass selbst Texte, die auf ein medienaffines Publikum zielen und auf Twitter veröffentlicht worden sind – so etwa die Tweets von Sarah Berger (Twitteraccount bis 2019: @milch_honig, neuer Account @fem_poet, letzter Zugriff 23.03.2021) oder die Kurzgeschichten in Tweet-Länge des kroatischen Autors Dragan Babić (Twitteraccount: @draganbabic, letzter Zugriff 23.03.2021) – später als Bücher veröffentlicht worden sind. Kathrin Passig beschreibt zutreffend, dass das Medium Buch einem Text Ernsthaftigkeit und Sinn verleihen kann: „Je erklärungsbedürftiger das Projekt, desto nützlicher ist das Buch als Verständnishilfe.“ (Passig 2019: 104).

Die Reflexion über Digitalisierung findet in literarischen Texten auf ganz unterschiedliche Art und Weise statt. Neben Romanen, in denen die Digitalisierung zum Hauptthema gemacht wird, gibt es eine ganze Reihe von Texten, in denen die Beschreibung einer von Technik, Computerspielen und sozialen Medien geprägten Welt im Vordergrund steht. Sie setzen sich mit einer mehr oder weniger in der Gegenwart angesiedelten digitalisierten Welt auseinander und bilden einen von Medien durchdrungenen Alltag ab.

Auch die Erfahrung von Intermedialität wird in den Texten sichtbar gemacht bzw. zum Teil auch direkt in die Texte integriert. Bei Joshua Groß finden sich zwei unterschiedliche Verfahren, um andere Medien in den Text einzuarbeiten: Einerseits werden die Erlebnisse des Protagonisten in der fiktiven Wirklichkeit und in einem Computerspiel so beschrieben, als würden sie auf derselben Ebene stattfinden. Andererseits werden einige Ereignisse – so etwa ein Kinobesuch, der durch die minutiöse, monotone Nacherzählung der Handlung geschildert wird – als in sich abgeschlossen dargestellt, in diesem Fall sogar im Druckbild abgehoben. Auch bei Berit Glanz werden längere in sich geschlossene Textpassagen – Briefe und eigenständige Erzählungen –, aber auch Links und Programmierbefehle in den Text integriert. Auch die Nachrichten (sowohl Textnachrichten als auch E-Mails), die sich Tanja Arnheim und Jerome Daimler in Leif Randts Allegro Pastell (2020) gegenseitig schreiben, sind sichtbar in den Text eingefügt. Neben diesen Elementen der Intermedialität und Interaktivität zeigt sich in einer ganzen Reihe von Texten der Gegenwart, wie die Digitalisierung den Alltag und die Handlungsoptionen von Menschen verändert. Die literarischen Texte reflektieren darüber, wie gewohnte Narrative über zwischenmenschliche Beziehungen, Arbeit und Freizeit, Selbstentfaltung oder Sicherheit sich verändern und wie Literatur darauf zwangsläufig reagieren muss, wenn sie nicht unglaubwürdig, realitätsfern oder eskapistisch wirken möchte.

Leif Randts Allegro Pastell reflektiert auch darüber, wie sich (Fern-)Beziehungen und Kommunikationsstrukturen verändern, wenn der oder die andere prinzipiell ständig erreichbar ist. Das Einfügen der Nachrichten bei Randt lässt sich daher nicht darauf reduzieren, dass lediglich ein veränderter Lebensstil mit neuen technischen Utensilien und den damit einhergehenden Kommunikationsarten abgebildet wird. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich solche Veränderungen im Alltag zwangsläufig auch auf Plots und Handlungsverläufe in fiktionalen Texten auswirken. Eine große Abschiedsszene am Bahnhof verliert an Bedeutung und Glaubwürdigkeit, wenn die Erreichbarkeit des oder der anderen nach dem Einstieg in den Zug weiterhin gewährleistet ist. Im Text müsste eine solche Szene zumindest plausibel gemacht werden – etwa durch nicht vorhandenes W-LAN oder einer Verweigerung von Telefon und/oder Internet –, um nicht völlig anachronistisch zu wirken. Olivia Sudjic führt in ihrem Roman Sympathy (2017) auf komplexe Art und Weise vor, wie sich Internet und Social Media auf die Wahrnehmung von Wirklichkeit auswirken, sie zeigt aber zugleich durch die Einbindung von Personen aus verschiedenen Generationen, dass die Gegenwart durchaus auch andere Perspektiven bereithält und dass auch in der Generation der sogenannten Digital Natives Erfahrungen gemacht werden, die nicht durch digitale Medien vermittelt sind. Sudjics Roman transportiert die Erfahrung, nicht vorhandene Erreichbarkeit und Konnektivität ständig plausibel machen zu müssen – etwa durch die Verweigerung bestimmter Medien durch gewisse Personen, durch die Abwesenheit von W-LAN an bestimmten Orten oder durch leere Akkus in bestimmten Situationen.

Während bei Sudjic die Beschreibungen von Situationen, in denen die Grenze zwischen Online und Offline auch in der Gegenwart weiterhin besteht, großen Raum einnimmt, spielt zum Beispiel bei Berit Glanz die Abgrenzung zwischen Online und Offline kaum eine Rolle, weil die Protagonistin die meiste Zeit online ist. Während Sudjic die (verdeckte) Normalität von Situationen ohne Internet in der Gegenwart (Orte ohne W-LAN, leere Akkus usw.) antizipiert, wird bei Berit Glanz in Pixeltänzer (2019) die Fiktion einer stets vernetzten Welt erzeugt. Situationen ohne Internet stehen dort für die Provinz: So erlebt die Protagonistin bei einem Ausflug in den Spreewald eine Welt mit schlechtem W-LAN, was auch gleich zu einem Streit führt (bezeichnenderweise zum einzigen Streit in dem ganzen Text), da niemand die Scrabble-Regeln online nachschauen kann.

Viele Romane, die sich mit Technologien und Digitalisierung beschäftigen, setzen ein gewisses technisches Wissen sowie praktische Erfahrungen nicht nur mit sozialen Medien, sondern auch im Bereich des Programmierens voraus, um deren Wirklichkeitsbezug angemessen einschätzen zu können. Wenn Handlungen nicht explizit in die Zukunft verlegt oder als utopisch bzw. dystopisch gekennzeichnet werden, dann spielen diese Texte mit der Unsicherheit der Lesenden in Bezug auf die Frage, was in der Gegenwart bereits (theoretisch) möglich ist, was ein Zukunftsszenario sein könnte und was wiederum in den Bereich der Fantasie fällt. Ein gutes Beispiel für einen Text, der mit diesen Grenzbereichen spielt, ist Joshua Groß‘ Roman Flexen in Miami (2020). Der Erzähler lebt in einem Apartment in Miami und bekommt von einer Stiftung, die ihm durch ein Stipendium sein Leben finanziert, täglich mit einer Drohne Astronautennahrung angeliefert – ein unwahrscheinliches, aber durchaus mögliches Szenario. Später bekommt er auch einen „smarten“ Kühlschrank, der zu Beginn vor allem die darin befindlichen Nahrungsmittel aktualisiert oder Bescheid gibt, wenn die Milch abläuft. Zunehmend wird der Kühlschrank aber zu einem Gesprächspartner des Protagonisten, der sich auch emotional an seinem Leben beteiligt und zu einem Freund wird. Parallel dazu entwickelt sich die Erzählung sukzessive zu einer Fiktion, in der sich die Handlungen des Protagonisten in einem Videospiel namens Cloud Control, in das er sich gleich zu Beginn vertieft, kaum noch von denen in der – auch zunehmend von allerlei Drogen beeinflussten – Realität unterscheiden lassen.

Eine ganze Reihe von Texten der Gegenwart (so zum Beispiel die bereits erwähnten Romane, Leif Randts Allegro Pastell oder Olivia Sudjics Sympathy) integrieren jedoch digitale Medien, ohne den Wirklichkeitsbezug der fiktiven Welt in Frage zu stellen und ohne explizit Medien- oder Kapitalismuskritik in Form von Dystopien zu üben. Die Beschäftigung mit Literatur setzt – wenn sie im Sinne von Poetizität/Literarizität, Fiktionalität bzw. Narrativität verstanden wird – grundsätzlich voraus, dass sie nicht an ihrer Referenzbeziehung zur Wirklichkeit gemessen wird und dass diese allein nichts über die Qualität literarischer Texte aussagt. Aus diesem Grund besteht zwischen Texten oder Textstellen, welche die Digitalisierung oder mit der Digitalisierung assoziierte Techniken (nichtlineare Schreib- und Leseprozesse, Zufallsprinzip, Kopieren usw.) imaginieren und solchen, die sie tatsächlich voraussetzen oder als Verfahren verwenden, zunächst kein kategorialer Unterschied. Ob die in Romanen beschriebenen Smart Cities und Technologien oder die Arbeitsweise von Programmierer:innen in fiktionalen Texten der Wirklichkeit entsprechen, ist genauso interessant (oder eben uninteressant) wie die Frage danach, ob die Straßen und Cafés in einem Berlinroman tatsächlich existieren und adäquat beschrieben sind.

Literatur

Der Text ist ein (leicht variierter) Auszug aus dem folgenden Aufsatz: Diana Hitzke: „Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur.“ Andreas Langenohl, Katrin Lehnen und Nicole Zillien (Hg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt/New York: Campus 2021, 243-267.

Frohmann, Christiane (2018), Präraffaelitische Girls erklären das Internet, Berlin.

Glanz, Berit (2019), Pixeltänzer, Frankfurt a.M.

Groß, Joshua (2020), Flexen in Miami, Berlin.

Passig, Kathrin (2019), Vielleicht ist das neu und erfreulich: Technik. Literatur. Kritik, Graz/Wien.

Randt, Leif (2020), Allegro Pastell, Köln.

Sudjic, Olivia (2017), Sympathy, London.