Mir war das Smartphone in die Badewanne gefallen, und als ich begriff, dass ich weder ein Foto davon für Instagram machen noch sofort darüber twittern können würde, war das eine wirklich schräge Erfahrung.
Christiane Frohmann
Es mag zunächst kontraintuitiv erscheinen, ausgerechnet im klassischen Medium Buch nach Reflexionen über Digitalisierung zu suchen. Gerade im traditionellen Medium der Literatur – nämlich in Büchern, die von Verlagen verbreitet werden und durch Literaturkritik bzw. Literaturpreise gesellschaftliche Relevanz erlangen – zeigt sich, wie tief die Transformation durch die Digitalisierung nicht nur diejenigen Bereiche durchdringt, die direkt von ihr beeinflusst werden. Sie wirkt sich auch auf Bereiche aus, die gern als Kontrapunkt bzw. Gegenwelt dazu wahrgenommen werden. Der Erfolg einer ganzen Reihe von Autor:innen und Texten, die sich positiv auf die Digitalisierung beziehen und diese auch strukturell in ihren Poetiken mitdenken, ist insbesondere vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass Handlungen selbst in der Gegenwartsliteratur gern in technikarme Umgebungen verlegt werden, wie Kathrin Passig völlig richtig bemerkt (Passig 2019: 33).
Dass das klassische Medium Buch keinesfalls obsolet wird, um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Literatur zu analysieren, zeigt sich auch daran, dass selbst Texte, die auf ein medienaffines Publikum zielen und auf Twitter veröffentlicht worden sind – so etwa die Tweets von Sarah Berger (Twitteraccount bis 2019: @milch_honig, neuer Account @fem_poet, letzter Zugriff 23.03.2021) oder die Kurzgeschichten in Tweet-Länge des kroatischen Autors Dragan Babić (Twitteraccount: @draganbabic, letzter Zugriff 23.03.2021) – später als Bücher veröffentlicht worden sind. Kathrin Passig beschreibt zutreffend, dass das Medium Buch einem Text Ernsthaftigkeit und Sinn verleihen kann: „Je erklärungsbedürftiger das Projekt, desto nützlicher ist das Buch als Verständnishilfe.“ (Passig 2019: 104).
Die Reflexion über Digitalisierung findet in literarischen Texten auf ganz unterschiedliche Art und Weise statt. Neben Romanen, in denen die Digitalisierung zum Hauptthema gemacht wird, gibt es eine ganze Reihe von Texten, in denen die Beschreibung einer von Technik, Computerspielen und sozialen Medien geprägten Welt im Vordergrund steht. Sie setzen sich mit einer mehr oder weniger in der Gegenwart angesiedelten digitalisierten Welt auseinander und bilden einen von Medien durchdrungenen Alltag ab.
Auch die Erfahrung von Intermedialität wird in den Texten sichtbar gemacht bzw. zum Teil auch direkt in die Texte integriert. Bei Joshua Groß finden sich zwei unterschiedliche Verfahren, um andere Medien in den Text einzuarbeiten: Einerseits werden die Erlebnisse des Protagonisten in der fiktiven Wirklichkeit und in einem Computerspiel so beschrieben, als würden sie auf derselben Ebene stattfinden. Andererseits werden einige Ereignisse – so etwa ein Kinobesuch, der durch die minutiöse, monotone Nacherzählung der Handlung geschildert wird – als in sich abgeschlossen dargestellt, in diesem Fall sogar im Druckbild abgehoben. Auch bei Berit Glanz werden längere in sich geschlossene Textpassagen – Briefe und eigenständige Erzählungen –, aber auch Links und Programmierbefehle in den Text integriert. Auch die Nachrichten (sowohl Textnachrichten als auch E-Mails), die sich Tanja Arnheim und Jerome Daimler in Leif Randts Allegro Pastell (2020) gegenseitig schreiben, sind sichtbar in den Text eingefügt. Neben diesen Elementen der Intermedialität und Interaktivität zeigt sich in einer ganzen Reihe von Texten der Gegenwart, wie die Digitalisierung den Alltag und die Handlungsoptionen von Menschen verändert. Die literarischen Texte reflektieren darüber, wie gewohnte Narrative über zwischenmenschliche Beziehungen, Arbeit und Freizeit, Selbstentfaltung oder Sicherheit sich verändern und wie Literatur darauf zwangsläufig reagieren muss, wenn sie nicht unglaubwürdig, realitätsfern oder eskapistisch wirken möchte.
Leif Randts Allegro Pastell reflektiert auch darüber, wie sich (Fern-)Beziehungen und Kommunikationsstrukturen verändern, wenn der oder die andere prinzipiell ständig erreichbar ist. Das Einfügen der Nachrichten bei Randt lässt sich daher nicht darauf reduzieren, dass lediglich ein veränderter Lebensstil mit neuen technischen Utensilien und den damit einhergehenden Kommunikationsarten abgebildet wird. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich solche Veränderungen im Alltag zwangsläufig auch auf Plots und Handlungsverläufe in fiktionalen Texten auswirken. Eine große Abschiedsszene am Bahnhof verliert an Bedeutung und Glaubwürdigkeit, wenn die Erreichbarkeit des oder der anderen nach dem Einstieg in den Zug weiterhin gewährleistet ist. Im Text müsste eine solche Szene zumindest plausibel gemacht werden – etwa durch nicht vorhandenes W-LAN oder einer Verweigerung von Telefon und/oder Internet –, um nicht völlig anachronistisch zu wirken. Olivia Sudjic führt in ihrem Roman Sympathy (2017) auf komplexe Art und Weise vor, wie sich Internet und Social Media auf die Wahrnehmung von Wirklichkeit auswirken, sie zeigt aber zugleich durch die Einbindung von Personen aus verschiedenen Generationen, dass die Gegenwart durchaus auch andere Perspektiven bereithält und dass auch in der Generation der sogenannten Digital Natives Erfahrungen gemacht werden, die nicht durch digitale Medien vermittelt sind. Sudjics Roman transportiert die Erfahrung, nicht vorhandene Erreichbarkeit und Konnektivität ständig plausibel machen zu müssen – etwa durch die Verweigerung bestimmter Medien durch gewisse Personen, durch die Abwesenheit von W-LAN an bestimmten Orten oder durch leere Akkus in bestimmten Situationen.Während bei Sudjic die Beschreibungen von Situationen, in denen die Grenze zwischen Online und Offline auch in der Gegenwart weiterhin besteht, großen Raum einnimmt, spielt zum Beispiel bei Berit Glanz die Abgrenzung zwischen Online und Offline kaum eine Rolle, weil die Protagonistin die meiste Zeit online ist. Während Sudjic die (verdeckte) Normalität von Situationen ohne Internet in der Gegenwart (Orte ohne W-LAN, leere Akkus usw.) antizipiert, wird bei Berit Glanz in Pixeltänzer (2019) die Fiktion einer stets vernetzten Welt erzeugt. Situationen ohne Internet stehen dort für die Provinz: So erlebt die Protagonistin bei einem Ausflug in den Spreewald eine Welt mit schlechtem W-LAN, was auch gleich zu einem Streit führt (bezeichnenderweise zum einzigen Streit in dem ganzen Text), da niemand die Scrabble-Regeln online nachschauen kann.
Viele Romane, die sich mit Technologien und Digitalisierung beschäftigen, setzen ein gewisses technisches Wissen sowie praktische Erfahrungen nicht nur mit sozialen Medien, sondern auch im Bereich des Programmierens voraus, um deren Wirklichkeitsbezug angemessen einschätzen zu können. Wenn Handlungen nicht explizit in die Zukunft verlegt oder als utopisch bzw. dystopisch gekennzeichnet werden, dann spielen diese Texte mit der Unsicherheit der Lesenden in Bezug auf die Frage, was in der Gegenwart bereits (theoretisch) möglich ist, was ein Zukunftsszenario sein könnte und was wiederum in den Bereich der Fantasie fällt. Ein gutes Beispiel für einen Text, der mit diesen Grenzbereichen spielt, ist Joshua Groß‘ Roman Flexen in Miami (2020). Der Erzähler lebt in einem Apartment in Miami und bekommt von einer Stiftung, die ihm durch ein Stipendium sein Leben finanziert, täglich mit einer Drohne Astronautennahrung angeliefert – ein unwahrscheinliches, aber durchaus mögliches Szenario. Später bekommt er auch einen „smarten“ Kühlschrank, der zu Beginn vor allem die darin befindlichen Nahrungsmittel aktualisiert oder Bescheid gibt, wenn die Milch abläuft. Zunehmend wird der Kühlschrank aber zu einem Gesprächspartner des Protagonisten, der sich auch emotional an seinem Leben beteiligt und zu einem Freund wird. Parallel dazu entwickelt sich die Erzählung sukzessive zu einer Fiktion, in der sich die Handlungen des Protagonisten in einem Videospiel namens Cloud Control, in das er sich gleich zu Beginn vertieft, kaum noch von denen in der – auch zunehmend von allerlei Drogen beeinflussten – Realität unterscheiden lassen.
Eine ganze Reihe von Texten der Gegenwart (so zum Beispiel die bereits erwähnten Romane, Leif Randts Allegro Pastell oder Olivia Sudjics Sympathy) integrieren jedoch digitale Medien, ohne den Wirklichkeitsbezug der fiktiven Welt in Frage zu stellen und ohne explizit Medien- oder Kapitalismuskritik in Form von Dystopien zu üben. Die Beschäftigung mit Literatur setzt – wenn sie im Sinne von Poetizität/Literarizität, Fiktionalität bzw. Narrativität verstanden wird – grundsätzlich voraus, dass sie nicht an ihrer Referenzbeziehung zur Wirklichkeit gemessen wird und dass diese allein nichts über die Qualität literarischer Texte aussagt. Aus diesem Grund besteht zwischen Texten oder Textstellen, welche die Digitalisierung oder mit der Digitalisierung assoziierte Techniken (nichtlineare Schreib- und Leseprozesse, Zufallsprinzip, Kopieren usw.) imaginieren und solchen, die sie tatsächlich voraussetzen oder als Verfahren verwenden, zunächst kein kategorialer Unterschied. Ob die in Romanen beschriebenen Smart Cities und Technologien oder die Arbeitsweise von Programmierer:innen in fiktionalen Texten der Wirklichkeit entsprechen, ist genauso interessant (oder eben uninteressant) wie die Frage danach, ob die Straßen und Cafés in einem Berlinroman tatsächlich existieren und adäquat beschrieben sind.
Literatur
Der Text ist ein (leicht variierter) Auszug aus dem folgenden Aufsatz: Diana Hitzke: „Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur.“ Andreas Langenohl, Katrin Lehnen und Nicole Zillien (Hg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt/New York: Campus 2021, 243-267.
Frohmann, Christiane (2018), Präraffaelitische Girls erklären das Internet, Berlin.
Glanz, Berit (2019), Pixeltänzer, Frankfurt a.M.
Groß, Joshua (2020), Flexen in Miami, Berlin.
Passig, Kathrin (2019), Vielleicht ist das neu und erfreulich: Technik. Literatur. Kritik, Graz/Wien.
Randt, Leif (2020), Allegro Pastell, Köln.
Sudjic, Olivia (2017), Sympathy, London.