Das Coverbild zeigt das Gesicht einer Frau, die ein angezündetes Streichholz im Mund hält.

Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß

von Diana Hitzke

Auch wenn die Unterscheidung zwischen Büchern, die vor allem mit ihrem Plot begeistern und solchen, die sich darüber hinaus oder auch in bewusstem Verzicht auf eine spannungsreiche Handlung durch ein hohes Maß an Literarizität auszeichnen, mittlerweile irgendwie abgegriffen wirkt, so lässt sich für Giulia Caminitos dritten Roman „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ ohne Zweifel sagen: Es handelt sich um ein Buch, in dem jedes Wort wirkt, in dem der Sprache ein Eigenwert zugestanden wird und in dem dennoch die Grenze zu purer Wortspielerei zugunsten einer vom Inhalt abgelösten Ästhetik nicht überschritten wird.

Die Autorin ist 1988 in Rom geboren und in Anguillara aufgewachsen – ein biografisches Detail, das sie mit ihrer Ich-Erzählerin teilt – und hat politische Philosophie studiert. Der hier besprochene Roman ist zweifellos schon ein Erfolg – er wurde in über zwanzig Sprachen übersetzt, für den Premio Strega nominiert und er erhielt den alternativen Premio Strega Off sowie den Publikumspreis Premio Campiello. Ausdrücklich wird im Nachwort darauf hingewiesen, dass es sich weder um Autobiografie, noch um Autofiktion handele – bei diesem Buch, das für sich selbst spricht, erscheinen solche Kategorisierungen ohnehin müßig.

Caminito gelingt es auf eindrückliche Art und Weise von einer Familie zu erzählen, die am Rande der Gesellschaft in äußerster Armut lebt. Die Mutter Antonia putzt die Häuser reicher Familien, der Vater sitzt im Rollstuhl, es gibt einen größeren Bruder und Zwillinge, die jünger sind als die Ich-Erzählerin Gaia. Zu Beginn lebt die Familie in der Peripherie Roms, in einer von Schimmel befallenen, viel zu kleinen Behausung, die sich als ein Zuhause nur mit großer Vorstellungskraft – die Geschwister malen die Buchstaben HAUS auf den Beton – imaginieren lässt. Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens und ihrer Mutter, beide arbeiten hart an dem sozialen Aufstieg, der in diesem Fall nicht nur bedeutet, an Status und Bildung zu gewinnen, sondern einem Leben mit ständigen Geldsorgen und einem Mangel am Notwendigsten zu entkommen. Bei Caminito wird die Familie jedoch nicht mit den zahlreichen Klischees bedacht, die häufig in der Literatur über die Armen und die sogenannten sozial Schwachen grassieren, sondern hier wird genau hingeschaut: Welchen Preis müssen die Mutter und die Tochter zahlen, wenn sie versuchen, dem für sie vorgesehenen Rahmen zu entkommen? Aber auch: Was bleibt ihnen Anderes übrig?

Caminito schildert in gut ausgewählten Szenen, was es bedeutet arm zu sein. Sie beschreibt, welche Schwierigkeiten es mit sich bringt, allein die für die Schule benötigten Dinge zu besorgen. Für einen im Sportunterricht benötigten Tennisschläger muss die Mutter Antonia und damit die ganze Familie wochenlang an Essen, Strom und anderen Notwendigkeiten sparen. Jede zusätzliche Ausgabe, die in die Bildung von Gaia investiert wird, wird dem Rest der Familie abgerungen. Wie wirkt sich auf ein solches Kind die Zerstörung dieses Tennisschlägers durch einen Mitschüler aus, der dies vielleicht als harmlosen Streich einschätzt?

Gaia ist ein Mädchen, das seit frühester Kindheit gewohnt ist, den Abstand zwischen denen, die sich nach einem solchen Streich einfach einen neuen Schläger kaufen können und denen, die zuhause ihrer Mutter beichten müssen, dass dieses Produkt des wochenlangen familiären Verzichts nun dahin ist, zu durchmessen. Wie kann sie sich dagegen wehren? Antonias Tochter wehrt sich mit Gewalt.  

Ich denke an ihn und an die Uhr an seinem Handgelenk, die dreimal so viel kostet wie mein Schläger, an seine gegelten Locken, den Motorroller, den man ihm zu seinem vierzehnten Geburtstag schon versprochen hat, ich denke an die Marken-T-Shirts, an die Designer-Brille, ich denke daran, wie gut die Törtchen mit Zabaione sind, die seine Mutter macht, ich denke an das Konfekt mit rosa Glasur und dann an das karierte Tischtuch bei mir zu Hause, den zerbrochenen Teller, die Karotten, das Waschmittel im Sonderangebot, an Mariano, der mich jetzt hasst, mich nur noch hinter einem Vorhang sieht, denke an die Deutsche, die mir verboten hat, bei den Fischen zu sein, an die von den Faschisten geraubten Tore, an Antonia, die an ihrem Arm eine Spritze andeutet, an die Schachtel, in der die Zwillinge schlafen mussten, meinen Vater ohne Beine auf der Intensivstation – und ich fange an zu schlagen.

Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2022, S. 64.

Gewalt wird hier nicht als persönliche Neigung, als eine Art Charaktereigenschaft der unteren Schichten beschrieben bzw. konstruiert, wie es in der Literatur leider viel zu oft gemacht wird. Im Gegenteil, sie wird strukturell aus Situationen der Demütigung und der Ausgrenzung abgeleitet und fast körperlich erfahrbar gemacht. So beschweren sich die reicheren Bewohner:innen einer Wohnlage, in der es nur wenige Sozialwohnungen gibt, darüber, dass die Kinder der ärmeren Familien in ihren parkartig angelegten Anlagen mit den Fischen im Zierteich spielen. Um zu den besseren Schulen zu gelangen, zu denen andere Kinder zu Fuß gehen können und in denen sie später ihre Gucci-Taschen zur Schau tragen werden, muss Gaia einen Bus und dann noch den Zug nehmen, sie kann sich kein Kino, kein Handy, eigentlich überhaupt nichts leisten und soll auf dem humanistischen Gymnasium Latein und Griechisch lernen, damit sie es später zu etwas bringen kann. In Sätzen wie „Ich ohne Fahrrad und sie am Steuer, bald werden wir uns vom Rand paralleler Universen her ansehen, zwischen uns die Milchstraße“ (ebd., S. 100) bringt Caminito die Gräben auf den Punkt, die von Anfang an bestehen und von Gaia nach und nach in all ihrer Härte erfahren und durchmessen werden. Ihre Mutter Antonia ist den Kindern dabei immer schon einen Schritt voraus und übt entsprechenden Druck auf ihre Familie aus.

Caminito wagt sich auch an die Analyse der Versprechen der Gesellschaft, die sich immer wieder selbst versichert, vielleicht nicht für alle die gleichen Chancen bereit zu halten, aber zumindest doch für alle da zu sein, für jede:n zu sorgen, niemanden von Anfang an auszuschließen und wirklich alle als Menschen mit gleichen Rechten zu behandeln. Diejenigen, an die sich diese Art von Versprechen richtet, haben aber kaum eine Chance, wenn sie sich darauf verlassen.

Antonia hatte aufgehört, darauf zu warten, dass die Dinge geregelt würden, sie hatte das selbst in die Hand genommen. Ihre Kinder würden nicht in den Pfützen dieser verlorengegangenen Vision spielen, wenn es etwas zu putzen gäbe, würde sie putzen, wenn es etwas zu verbieten gäbe, würde sie es verbieten, wenn es Grenzen zu setzen gäbe, würde sie Grenzen setzen.

Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2022, S. 69.

Caminito schreibt keine weitere Aufstiegsgeschichte im Sinne von Édouard Louis oder Didier Eribon, die sich an Bourdieus Theorie der feinen Unterschiede abarbeiten und von ihrer eigenen Geschichte der Ausgrenzung aus der kulturellen Bohème erzählen, wobei sie genau diese Unterschiede ein Stück weit auch wieder reproduzieren. Caminito stellt sich – vielleicht zeigt sich hier auch eine Differenz zwischen der französischen und der italienischen Literatur – eher in die Tradition Elena Ferrantes, mit der sie ein gewisser Realismus in der Beschreibung sozialer Unterschiede verbindet, von der sie sich in Bezug auf die Literarizität ihrer Bücher, aber auch durch die Identifikation mit denjenigen in der Gesellschaft, die keinen Bildungsaufstieg hinlegen, sondern auch mit exzellenten Abschlüssen chancenlos und weiterhin unten bleiben, jedoch jetzt schon deutlich abhebt. Eine unbedingte Empfehlung!

Ein ausdrückliches Lob geht auch an die Übersetzerin Barbara Kleiner, die den Roman aus dem Italienischen übertragen hat – auch wenn kein Vergleich mit der italienischen Originalausgabe vorgenommen wurde, lässt sich sagen, dass die sprachliche Gestaltung der deutschen Übersetzung hervorragend gelungen ist.

Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2022. Italienische Originalausgabe: L’acqua del lago non è mai dolce. Mailand: Bompiani 2021.