Brigitte Reimann – Die Geschwister

Die Geschwister

Durch die Neuausgabe von Die Geschwister ist Brigitte Reimann wieder zum Thema geworden, auch durch die Biografie von Carolin Würfel (Drei Frauen träumten vom Sozialismus. Maxie Wander – Brigitte Reimann – Christa Wolf. Berlin: Hanser Berlin 2022) erfährt die Autorin neue Resonanz. Bei Arbeiten an einem Haus in Hoyerswerda wurde ein Heft der handschriftlichen Urfassung von Die Geschwister gefunden. Der Aufbau-Verlag brachte auf dieser Grundlage eine „ungekürzt[e], politisch ungeschönt[e] Fassung“ heraus. Wenn das Nachwort etwas genauer betrachtet wird, lässt sich leider nicht mehr so leicht rekonstruieren, um welche Version es sich bei der Neuveröffentlichung nun eigentlich handelt – um die von Reimann ursprünglich intendierte Erzählung (vor den Veränderungen durch Verlag und DDR-Ministerium für die Publikation) oder um die nachträglich von Reimann selbst redigierte Version, als sie sich politisch bereits anders positioniert hatte. Im Buch heißt es:

Rückgängig gemacht wurden alle Streichungen bzw. Änderungen, die erkennen lassen, dass politisch Missliebiges geglättet oder der frische Erzählton Reimanns nach damaliger Mode ‚literarisiert‘ werden sollte […]. Die nachträglichen Korrekturen der Autorin von 1969 finden grundsätzlich Berücksichtigung […].

Brigitte Reimann, Die Geschwister, Berlin: Aufbau 2023, Zu dieser Ausgabe, S. 212.

Auch wenn es sich hier um keine kommentierte Studienausgabe handelt, wäre durchaus schön gewesen, zu erfahren, welche Stellen ursprünglich anders gemeint waren und welche nachträglich korrigiert worden sind. Es handelt sich demnach um eine Fassung, die irgendwo zwischen dem liegt, was Reimann im Sinn hatte, als sie das Buch schrieb und dem, was sie zu einem Zeitpunkt, als sie „politisch endgültig desillusioniert“ war und „eine andere, eine differenziertere Sicht auf die DDR gewonnen“ (ebd. 207) hatte, gern aus dem Buch gemacht hätte. Dadurch verliert sich in der Lektüre die Distanz, mit der sich DDR-Literatur sonst wohlwollend lesen lässt – es lässt sich nicht (mehr) einfach annehmen, dass die Autorin das, was sie wirklich schreiben wollte, nicht schreiben durfte oder konnte. Der Text kann vor diesem Hintergrund nicht mehr als Kompromiss gelesen werden, sondern muss beim Wort genommen werden. Dies wird den Lesenden allerdings durch die Entscheidung des Verlags, nicht zu kennzeichnen, welche Korrekturen genau vorgenommen wurden, wiederum erschwert. Reimanns Text wird in dieser Neuausgabe so präsentiert, als ließe er sich kontextlos als eine Geschichte über zwei Geschwister, die sich über das richtige politische System streiten, lesen.

Das im Nachwort stehende Lob, das Buch sei „eine zeitlose Geschichte über Zugehörigkeit und Individualität, über Loyalität und Mut, für die eigene Vorstellung von Freiheit und Glück einzustehen“, ist völlig absurd, wenn es vor dem Hintergrund ausgesprochen wird, dass in dieser Fassung lediglich kleinere Spitzen Reimanns, die herausgestrichen worden sind (so etwa die „männermordende Taille“ auf S. 66), nun wieder im Text stehen dürfen oder wenn gesagt wird, dass die Schwester in dieser Fassung nun mehr Zweifel äußern darf als in der offiziellen. Zweifellos lohnt sich die Lektüre von Brigitte Reimanns Texten auch heute noch aus verschiedenen Gründen, auf die ich weiter unten gern eingehen möchte, dennoch ist es erstaunlich, wie heutzutage ein Buch abgefeiert wird, in dem es darum geht, dass eine Schwester ihren geliebten Bruder Uli (und eben nicht nur den anderen Bruder Konrad, der völlig negativ als oberflächlicher Kapitalist gezeichnet wird) dafür verurteilt, dass er in den Westen gehen möchte.

Gerade in dieser Fassung, die laut Verlag die von Reimann intendierte Wirkung entfaltet, wirkt es umso grotesker, dass Elisabeth die Tatsache, dass der DDR-Staat ihrem Bruder die Ausbildung bezahlt hat oder dass es solche Fachkräfte wie ihn zum Aufbau des sozialistischen Staates braucht, über dessen persönliche Wünsche stellt und dass sie für ihre Ideale die bis dahin liebevolle Beziehung zu ihrem Bruder opfert, dass sie erwägt, ihn nicht nur zu verraten, sondern sogar anzuzeigen. Dadurch, dass sich Elisabeth im achten Kapitel als mutige Kämpferin gegen die Partei und die etablierten Kollegen inszeniert, wird innerhalb der Erzählung der Eindruck erzeugt, sie kämpfe gegen verkrustete Strukturen in der Partei, sei moralisch auf der richtigen Seite. Elisabeth ähnelt in ihrer Haltung der Heldin aus Franziska Linkerhand (1974), die in dem später entstanden gleichnamigen Roman die sozialistischen Ideale gegen die Wirklichkeit verteidigt.

Beide Figuren werden als mutige Kämpferinnen für die gute Sache inszeniert – wenn sie dabei ihre Ideale über die Menschlickheit stellen, mag das bei negativ gezeichneten Figuren (wie Heiners in der Bergemann-Geschichte in Die Geschwister) als kritisch oder subversiv ausgelegt werden, wenn dieselbe versachlichende, objektifizierende Perspektive jedoch auf den eigenen Bruder (und hier kommt es weniger auf den eigenen Bruder als auf den geliebten Bruder an) ausgeweitet wird, wirft das die Frage auf, wie kritisch die idealisierende und moralisierende Haltung von Elisabeth eigentlich ist bzw. warum sie heutzutage auf diese Art und Weise gedeutet wird.

Weiterhin selten: Eine weibliche Stimme, die über Arbeit spricht

Beide Romane – Franziska Linkerhand und Die Geschwister – sind aus heutiger Perspektive dennoch erfrischend zu lesen, sie entfalten ihre kritische Wirkung jedoch auf einer anderen Ebene. Auch heute noch ist eine selbstbewusste weibliche Stimme, die in einer von Männern dominierten Arbeitswelt eine nicht prekäre Arbeit hat und dort auch für sich spricht und für ihre Ideale einsteht, ziemlich selten. Eine Frau, die zur Arbeit kommt und den Männern dort deutliche Ansagen macht, Konflikte austrägt, im Zweifel auch, wenn sich das nachteilig für sie auswirken kann, findet sich doch eher selten in der Gegenwartsliteratur. Wenn Frauen in Texten, die von und in der Arbeitswelt handeln, eine Rolle spielen, dann geht es oft um Konflikte, die sich durch das Vereinbarkeitsproblem von Arbeit und Care-Tätigkeiten ergeben oder um Kritik an Arbeitsverhältnissen im Kapitalismus generell, manchmal auch um Frauen, die als Schreibende und/oder Kreativschaffende tätig sind (auch hier sind die Themen dann oft Prekarität oder Abhängigkeit vom Partriarchat und/oder Kulturbetrieb).

Franziska Schößler schließt ihr Buch Femina Oeconomica: Arbeit, Konsum und Geschlecht in der Literatur. Von Goethe bis Händler (Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2017) mit der Feststellung, dass

Literatur also diejenigen Aspekte von (weiblicher) Arbeit, die beliebten literarischen Darstellungsverfahren, Figurenkonzepten und künstlerischen Selbstverständnissen entgegenkommen – den Schöpfungs- und Kreativitätsmythos, emotionale und ästhetische Arbeit, den Liebesdiskurs, Begehren, weibliche Körperlichkeit und Sexualität –, und zwar in kritischer wie affirmativer Hinsicht, [profiliert]. (S. 288f.)

Dass eine weibliche Protagonistin Karriere macht, dass sie darüber hinaus auch ein reflektiertes Verhältnis zu ihrer Arbeit und einen gewissen Anspruch daran hat, dass sie Konflikte nicht scheut, um ihren Vorstellungen treu zu bleiben, ist auch 60 Jahre nach dem Erscheinen von Die Geschwister eher selten – als Beispiel in der Gegenwartsliteratur ließe sich etwa Lucy Frickes Die Diplomatin nennen. Dominant sind weiterhin andere Themen – sicherlich auch als Spiegel der Gesellschaft, in der wir leben – Kritik am Kapitalismus, Darstellung weiblicher Arbeit als Hausarbeit bzw. Care-Arbeit oder in prekären Arbeitsverhältnissen.

In dem aufgrund des frühen Todes der Autorin Fragment gebliebenen Roman Franziska Linkerhand geht es vor allem um die Diskrepanz zwischen Plänen, Träumen und Idealen und dem Alltag, der sich in der realen Arbeitswelt dann ganz anders gestaltet. In einem Brief schreibt Reimann über die Fabel:

Da kommt ein Mädchen, jung, begabt, voller leidenschaftlicher Pläne, in die Baukastenstadt und träumt von Palästen aus Glas und Stahl – und dann muß sie Bauelemente zählen, (…) sich mit tausend Leuten herumschlagen (…) und die Heldentaten bestehen darin, daß man um ein paar Zentimeter Fensterbreite kämpft, und alles ist so entsetzlich alltäglich, und wo bleiben die großen Entwürfe der Jugend? Schließlich hört man auf zu bocken und macht mit … Eine traurige Geschichte, und sie passiert jeden Tag. Ich kann das Wort ‚enthusiastisch‘ schon nicht mehr hören. Manchmal geht sogar mir der Treibstoff aus, und ich möchte aufhören, mich dauernd zu streiten mit Leuten, die ja doch nie Fehler machen, nie sich irren und Dich behandeln wie Hohepriester einen Laienbruder. Sie sagen ‚Perspektive‘ und ich sage ‚Heute‘. Nun ja, wir haben so unsere Verständigungsschwierigkeiten.

„Briefwechsel mit Annemarie Auer“. In: Was zählt, ist die Wahrheit. Briefe von Schriftstellern der DDR. Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag 1975. S.290–330.

Vielleicht interessiert sich die Gegenwartsliteratur generell nicht für Arbeit – zumindest nicht, wenn es nicht um kreative Selbstverwirklichung oder Aufstiegsversprechen in der Wirtschaft und Finanzindustrie (oder um beides zusammen beim Gründen von Start Ups) geht. Oder um das Gegenteil dessen: die Kritik an prekärer Arbeit und am Kapitalismus generell. Eine Leerstelle bleibt die Beschreibung von Frauen, die professionellen Arbeitsverhältnissen nachgehen und sich damit produktiv und kritisch auseinandersetzen. Auch das wäre ein Grund, Brigitte Reimann zu lesen.

Brigitte Reimann: Die Geschwister, hrsg. von Angela Drescher und Nele Holdack. Berlin: Aufbau 2023,

Bettina Wilpert: Herumtreiberinnen

Bettina Wilpert legt mit Herumtreiberinnen ihren zweiten Roman vor. Oft steht nach einem ersten Erfolg die Frage im Raum, ob das zweite Buch den durch das erste erweckten hohen Erwartungen gerecht werden kann. Für ihr Debüt „nichts, was uns passiert“ wurde die Autorin mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, sie erhielt u.a. den Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, den Melusine-Huss-Preis, den ZDF-„aspekte”-Literaturpreis und Das Debüt 2018 – Bloggerpreis für Literatur.  

Herumtreiberinnen ist ein wichtiges Buch in dreifacher Hinsicht: Bettina Wilpert bringt eine neue, unverbrauchte Perspektive in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ein – sie erzählt in einer eigenwilligen Mischung aus Leichtigkeit und Schwere, die von der ersten bis zur letzten Seite überzeugt. Die Autorin nimmt sich darüber hinaus ein wichtiges historisches Thema vor und findet einen angemessenen erzählerischen Rahmen, der weder zu einfach ist, indem er etwa nur auf die Lebensgeschichten der Figuren setzt, noch durch allzu ausgefallene narrative Experimente die Geschichten überfrachtet.

Wilperts Prosa widmet sich der präzisen, stilsicheren Beschreibung des Alltags – sie skizziert ihre Figuren in konkreten Szenen: inmitten von Fahrgeschäften auf der Kleinmesse, im Schwimmbad, beim Träumen mit der besten Freundin, in unsicheren und aufrührerischen Gedankengängen, beim Schule-Schwänzen. In den Schilderungen der alltäglichen Szenen zeigt sich Wilperts untrügliches Sprachgefühl, kaum erscheint ein Wort zu viel, zu übertrieben oder fehl am Platz. Die Protagonistinnen sind lebendig, reflektiert, auch einmal unsicher, sie wollen etwas vom Leben, sind sich aber auch der Begrenzungen der jeweiligen historischen Umstände, in denen sie sich befinden, bewusst.

Der erste Teil des Romans erzählt von Manja und ihrer Freundin Maxi, beide gehen noch in die Schule und sind seit der 11. Klasse miteinander befreundet. Es geht um den Alltag, um gemeinsam verbrachte Nachmittage, um die Träume der beiden Schülerinnen. Maxi möchte die erste Kosmonautin der DDR werden, beide möchten kein geradliniges, geregeltes Leben führen, sondern haben etwas Besseres vor. Eines Nachmittags sind sie in einer Schrebergartenkolonie auf der Suche nach einem Fernseher unterwegs, die Ich-Erzählerin hat einen klaren Blick darauf:

Viele Gärten gefielen mir nicht: diese Akribie, die zeigte, dass man nichts falsch machte, jeden Tag zum Gießen vorbeikam, alles auf die Reihe kriegte. Eigentlich bestätigte sich für mich nur, dass diese Leute kein Leben hatten. Nur wenige Gärten lebten wirklich: Dort war das Gras kein Gras mehr, sondern Moos und Löwenzahn, von dem nur noch wenige Blüten gelb waren, die meisten hatte der Wind mitgenommen; die Sträucher wucherten in alle Richtungen außer nach oben, vor allem über den Nachbarzaun, und in den Gemüsebeeten gab es interessante Kreuzungen zwischen Blumenkohl und Wirsing.

Bettina Wilpert: Herum­treiberinnen. Verbrecher Verlag, Berlin 2022, S. 20.

In kurzen Szenen wie dieser beschreibt Wilpert im ersten Teil des Romans, der rund 60 Seiten umfasst, das Lebensgefühl der beiden Mädchen in den 80er Jahren in der DDR. Die Autorin findet genau den richtigen Ton, solche Bilder lassen sich an vielen Stellen entdecken und werden nie als Metaphern überstrapaziert; sie lässt uns an der Gedankenwelt ihrer Protagonistinnen teilhaben, ohne dass diese Gefahr laufen in längere Monologe zu verfallen. Der Wechsel zwischen den Gedanken der Figuren, kurzen Dialogen und der Beschreibung charakteristischer Ereignisse lässt das Buch von Anfang an lebendig wirken. Jedes Wort, jede Szene wirkt durchdacht.

Manja und Maxi durchleben einen Sommer zusammen, ihre Erlebnisse sind jedoch geprägt von den Bildungsinstitutionen der DDR, sie sind immer gehalten, ihr Verhalten zu überdenken und anzupassen. Sie wachsen in dem Bewusstsein auf, dass sich ihre Zukunft in engen Bahnen abspielen wird. Im Schwimmbad trifft Manja Manuel, einen Vertragsarbeiter aus Mosambik. In wenigen Sätzen und Szenen gelingt es Wilpert, zu beschreiben, welche Einschränkungen die Vertragsarbeiter in der DDR-Gesellschaft hinnehmen mussten. Bei einer Razzia im Wohnheim wird Manja in Manuels Zimmer von der Volkspolizei erwischt und daraufhin auf die geschlossene Venerologische Station in der Lerchenstraße gebracht. 

Dieses Gebäude in der Lerchenstraße steht fortan im Mittelpunkt des Romans. Der historische Ort, der als Vorlage des Romans diente, befindet sich heute in der Riebeckstraße 63 in Leipzig. Der „Initiativkreis Riebeckstraße 63“ widmet sich der Aufarbeitung der Geschichte eines Gebäudes, das im 19. und 20. Jahrhundert als Ort sozialer Ausgrenzung und Verfolgung fungierte und jetzt als „aktiver Erinnerungsort“ genutzt wird (siehe die Website des Vereins: https://riebeckstrasse63.de/, dort lässt sich auch mehr zur Geschichte des Ortes in Erfahrung bringen).

Während der erste Teil erzählerisch ganz bei Manja und Maxi ist, werden die Zeitebenen der beiden Teile, die auf die Einweisung von Manja in die sogenannte „Tripperburg“ folgen, miteinander verwoben. So gelingt auch erzählerisch der Bruch, der im Leben eines Individuums durch die Überführung an eine staatlich kontrollierte Institution verursacht wird. Die beiden anderen Erzählstränge drehen sich um die Sozialarbeiterin Robin, die 2015 einen Job in einer Unterkunft für Geflüchtete annimmt, die mittlerweile auf dem Gelände angesiedelt ist, und um Lilo, die während der NS-Zeit ihren Vater bei der kommunistischen Widerstandsarbeit unterstützt hat und nachdem der Familie der Prozess gemacht wird, auch in der Lerchenstraße festgehalten wurde.

Wilpert verbindet diese drei Zeitebenen, indem sie in wechselnden Szenen von Manja, Lilo und Robin erzählt. Den Schwerpunkt bildet die Geschichte um Manja, auch weitere Frauenfiguren aus der Zeit der 80er Jahre in der DDR bekommen viel Raum – so etwa Maxi, die in der Punkszene der DDR unterwegs war, oder Marion, die auf die Station eingewiesen wird, „einmal wegen Prostitution und einmal, weil sie keiner Arbeit nachgehe“ (S. 200).

In Wilperts Roman dient das Gebäude in der Lerchenstraße keinesfalls nur als Kulisse, die drei voneinander unabhängige Zeitebenen zusammenhält. So wird das Gebäude in der Lerchenstraße vor allem in seiner Funktion in der DDR beleuchtet, in dieser Zeit wurden Frauen dort festgehalten, weil sie den Moralvorstellungen des Staates und der Gesellschaft nicht entsprachen. Die Geschichte um Lilo macht deutlich, dass der Ort, an dem sie festgehalten wurden und täglichen Misshandlungen ausgesetzt waren, auch zuvor schon als Internierungsanstalt genutzt wurde. Während Manjas und Lilos Geschichte sich darin ähnlich sind, dass beide Frauen in dem Gebäude während einer Diktatur festgehalten wurden, wirkt die Gegenwartsebene zunächst als Störfaktor in der Parallelität der Erzählstränge: Robin ist auf demselben Gelände tätig, sie ist auch eine Frau, wir erfahren etwas über ihre Lebensträume und ihre Sexualität. Sie wird aber anders als Manja oder Lilo nicht in dem Gebäude festgehalten, sondern sie arbeitet dort. Die Geflüchteten befinden sich ebenfalls in einer anderen Situation: sie sind zwar nicht eingesperrt, dürfen sich aber auch nicht frei bewegen; in Robins Anwesenheit findet später aucheine Abschiebung statt. Robin engagiert sich im Arbeitskreis Gedenkort Lerchenstraße, während ihrer Arbeit findet sie im Keller auch Akten, die auf die DDR-Vergangenheit des Ortes hinweisen.

Bettina Wilpert gelingt es, an einem ganz konkreten Ort drei Zeitebenen zusammenzubringen. Sie vermeidet sehr geschickt vorschnelle und einfache Parallelen zwischen der NS-Zeit, der DDR-Diktatur und dem Umgang mit Geflüchteten in der Gegenwart. Durch die Gegenwartsebene, die sich einer einfachen Analogiebeziehung entzieht, macht der Roman auf die Komplexität von Erinnerungsorten und die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Geschichte von institutionalisierter sozialer Ausgrenzung aufmerksam. Der dem Roman vorangestellte Abschnitt regt dazu an, genau hinzuschauen, wenn Ausgrenzung praktiziert wird. Er lautet wie folgt:      

Wir sind immer auf der Flucht. Wir sind der Abschaum, das Unterste, das Letzte. Sie nennen uns HwGs oder Herumtreiberinnen, Arbeitsbummelantinnen, Asoziale. Über der Tür der Lerchenburg kämpft der heilige Georg auf seinem Pferd im Sprung. Mit erhobenem Schwert zielt er auf den Drachen. Hierher bringen sie uns von überall, sagen, wie seien Wahnwitzige und Sinnlose, Liederliche. Wir werden versorgt und verwahrt.

Bettina Wilpert: „Herum­treiberinnen“. Verbrecher Verlag, Berlin 2022, S. 5.

Bettina Wilpert: Herum­treiberinnen. Verbrecher Verlag, Berlin 2022.