Sommerlicher Bücherkauf bei Rotorbooks in Leipzig

Rotorbooks, Gegenwartsliteratur und die (vergangene?) Zeit der Theorie

Der Buchladen Rotorbooks befindet sich in der Leipziger Kolonnadenstraße inmitten sogenannter Altstadt-Plattenbauten, es gibt ein schönes Café nebenan, der Buchladen lockt mit großen Schaufenstern und besten Büchern jenseits des Massengeschmacks. Im Hinterraum des Buchladens befindet sich der Merve-Verlag, draußen vor den Schaufenstern gibt es große Fensterbretter, auf denen sich sitzen und Kaffee trinken lässt. Im Café, das hauptsächlich von jüngeren Menschen besucht wird, werden ein Tagesgericht und leckere Torten serviert. Ins Auge fallen Grünpflanzen, die sich an den Häusern im Plattenbaustil entlang schlängeln und eine Atmosphäre schaffen, die zweierlei zusammenbringt: eine eigentlich verbrauchte Ästhetik, die sich anders als etwa die schönen Industriegebäude der Baumwollspinnerei oder die weiten Flächen und Gebäude in Plagwitz nicht wirklich stilvoll umdeuten lässt, hier jedoch ein kreatives Eigenleben führt, und den Buchladen, der hier angesagteste Literatur und Theorie zusammenbringt. Es ergibt sich ein Bild, das etwas über die Literatur und Theorie der Gegenwart erzählt.

Von draußen kommend bleibt der Anblick der gemütlich im Café sitzenden Studierenden hängen. Es scheint immer noch genug Menschen zu geben, die tagsüber Zeit haben, um im Café zu sitzen und zu lesen oder über Literatur zu sprechen; fast drängt sich das Gefühl auf, dass hier ein Ort ist, an dem Bücher unhinterfragt Bedeutung haben. Der Laden selbst besteht aus zwei Teilen, gegliedert durch die großen Fenster, in der Mitte die Tür, rechts ein Tisch (und natürlich auch Regale drum herum) mit Gegenwartsliteratur, mitsamt einer kleinen Ecke am Fenster für Kinderbücher, links die Theorieabteilung. Hinten die Kasse, die Kaffeemaschine, die Verlagsräume. Die Literaturabteilung ist ausgezeichnet, ich berichte weiter unten von meiner kleinen Auswahl.  

Angesichts des Bestands der Theorieabteilung drängt sich die Frage auf, was eigentlich in den letzten Jahren aus DER Theorie geworden ist. War der Merve-Verlag seinerzeit Metapher und Metonymie für die Theorie – einer meiner Kommiliton:innen lief immer mit einem Merve-Band unter dem Arm herum, jeden Tag eine andere Farbe, ein anderes Theorie-Problem – stellt sich mit fortschreitender Akzeptanz und Sichtbarkeit einer diversen, multiperspektivischen Gesellschaft immer stärker die Frage danach, was Theorie eigentlich noch leisten kann, welcher Begriff von Theorie überhaupt noch zeitgemäß ist, ja, ob sie sich überhaupt als solche noch legitimieren lässt, wenn jedes Denkgebäude in seiner jeweiligen Situiertheit angemessen erfasst und kontextualisiert wird. Welchen Sinn macht es noch, von Theorie zu sprechen, wenn es nicht mehr DIE Theorie, sondern zum Beispiel eine feministische, eine migrantische und eine alte-weiße-Männer-Theorie gibt (wobei letztere sich [von wenigen Ausnahmen abgesehen] ganz selbstverständlich herausnimmt, universal und neutral zu sein, nicht von einem spezifischen Ort aus, sondern generell für alle zu sprechen, und damit den Anspruch legitimiert, DIE Theorie zu repräsentieren)?

Diese Frage ist sicherlich nicht neu, stellt sich aber insbesondere in Bezug auf die großen Player Merve und Suhrkamp, bei denen DIE Theorie fast immer in vermeintlich neutralem Gewand daherkam, aber fast immer [bzw. sehr oft, meistens, gefühlt immer – falls jemandem jetzt wieder die berühmten Gegenbeispiele einfallen] weiß, europäisch und männlich war. Wenn die eigene Position von Denker:innen im System sichtbar gemacht wird, dann handelt es sich fast immer um feministische, marxistische oder postkoloniale Denker:innen, dann aber leider oft zu dem Preis, dass sie bereits als solche markiert im Diskurs erscheinen und sich daher nur schwer als DIE Theorie bezeichnen lassen, sondern von vornherein als Verfechter:innen von Spezialinteressen erscheinen. Das Ende des Merve-Verlags (und weniger den Neuanfang in der Kolonnadenstraße, wo er sich jetzt eben befindet) hat Philipp Felsch in Der Sommer der Theorie beschrieben. Zur Geschichte der Theorie bei Suhrkamp erscheint bald ein Buch von Morten Paul, dessen (vorläufiger) Titel Suhrkamp Theorie. Eine Buchreihe im philosophischen Nachkrieg lautet.

Vor diesem Hintergrund bzw. ganz konkret mit dem Theorieangebot bei Rotorboks zur linken Seite, drängt sich der Gedanke auf, dass die Literatur – mit ihrem Raum für das Individuelle, das Subjektive und angesichts der zunehmenden Begeisterung für Autofiktion – viel besser zur polyphonen, migrantischen und queeren Gegenwart passt, als DIE Theorie (ja, klar, viel zu pauschal, guter Einwand, bleibe aber trotzdem dabei).

Daher folgt jetzt ein Unboxing des sommerlichen Bücherkaufs bei Rotorbooks in Leipzig (Anmerkung für die Kenner:innen der sogenannten Netzkultur: vielleicht wäre Haul hierfür der bessere Begriff; beides wird zudem üblicherweise im Videoformat und nicht in einer Bild-Text-Kombination betrieben und legt genau genommen auch den Konsumbegriff zugrunde, den ich auf die Literatur eigentlich nicht so gern anwenden möchte).     

Unboxing: Bücherkauf bei Rotorbooks

Jenny Hval: Perlenbrauerei. Aus dem Norwegischen von Rahel Schöppenthau und Anna Schiemangk. Berlin: März 2022.

Ein auf gute Art und Weise verstörendes Buch. Die Protagonistin macht einen Auslandsaufenthalt in Australien, lebt dort in einem coolen, aber auch merkwürdigen Gebäude mit durchsichtigen Wänden. Die Beschreibungen changieren zwischen eigenartigen Erlebnissen und einer spezifisch selbstzerstörerischen Wahrnehmung der Protagonistin. Ihre Mitbewohnerin stellt die Grenzen zwischen Nähe und Distanz permanent in Frage und weitet sie nach und nach aus. Erzählt wird von neuen Freundinnen, Einsamkeit, Sex, Partys und schließlich von einem Auszug. Die Autorin, Jenny Hval, hat Kreatives Schreiben und Performance studiert und als Sängerin einige Alben herausgebracht; das Buch ist eine Mischung aus Noise Rock und Literatur.

Jennifer Clement: Auf der Zunge. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Berlin: Suhrkamp 2022.

Eine Frau hat die Scheidung von ihrem Mann besiegelt, wir erfahren weder, was zur Trennung geführt hat noch viel von dem gemeinsam gelebten Leben. Beschrieben wird ein Schwebezustand, ein Zwischenbereich, der die Zeit nach dem Vollzug der Trennung, aber noch vor einem Neubeginn auszeichnet. Allein läuft die Frau durch die Straßen New Yorks. Sie begegnet verschiedenen Männern – u.a. einem Dichter, einem Polizisten, einem Wissenschaftler und einem Musiker. Die Begegnungen ereignen sich zufällig, werden aber dennoch mit großer Bedeutsamkeit aufgeladen. Die Frau spricht mit ihnen, küsst sie manchmal, kommt ihnen auf eigenwillige Art und Weise näher. Ihr Erleben und ihre Wahrnehmung sind gezeichnet von der Abwesenheit ihrer Ehe und dem Unbehagen des Neuanfangs.

Simone de Beauvoir: Die Unzertrennlichen. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Hamburg: Rowohlt 2022.

Hätte Jean-Paul Sartre ihr nicht davon abgeraten, den Roman zu veröffentlichen, da er zu intim sei, gäbe es diesen Sommer nicht eine Neuentdeckung von Simone de Beauvoir auf den Büchertischen. Im französichen Original posthum im Jahr 2020 veröffentlich, fast 70 Jahre nach der Niederschrift in der Zeit zwischen 1954 und 1958, erzählt der autofiktive Roman von der Kindheitsfreundin der feministischen Schriftstellerin und damit auch von ihrer eigenen Kindheit – inmitten und zugleich am Rande der Bourgeoisie. Während die Familie der Freundin sehr viel Geld hat, muss bei den Beauvoirs die Mutter die Hausarbeit bald wieder selbst machen. Die Mädchen lernen zusammen, führen anregende Gespräche, spazieren durch Paris. Als die Freundin sich in einen gemeinsamen Freund verliebt – hinter der Romanfigur verbirgt sich Maurice Merleau-Ponty – wird es zunehmend dramatisch. 

Bernardine Evaristo: Manifesto. On Never Giving Up. London: Hamish Hamilton 2021.

Manifesto liest sich wie eine lange Antwort auf die ebenso müßige wie nicht tot zu kriegende Frage nach dem „echten“ Leben von Autor:innen. Lässt man jedoch den Eindruck hinter sich, dass Evaristo die relativ chronologisch und im Stil einer konventionellen Autobiografie beschriebenen Erfahrungen, Beziehungen und Ereignisse viel poetischer in Girl, Woman, Other verarbeitet hat, bleibt Manifesto. On Never Giving Up eine ziemlich beeindruckende Aufsteiger:innengeschichte, die davon handelt, welche Opfer Bernardine Evaristo bringen musste, um dem Schreiben die Priorität einzuräumen und den unvermeidlich prekären Weg einer nicht-priviligierten Schwarzen Frau zum Booker Prize zu gehen. Der Fokus liegt auch auf den vielen Wendepunkten, an denen Aufgeben der naheliegende Schritt gewesen wäre.

Volha Hapeyeva: Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils. Berlin: Verbrecher Verlag 2022.

Volha Hapeyeva ist eine beeindruckende Stimme inmitten der aus guten Gründen fast dauerpräsenten Beschäftigung der Literatur mit dem Exil, der Migration und der Flucht. Sie legt klar, analytisch, aber auch mit dem Bestehen auf der Bedeutung der Poesie, dar, wie eng verflochten die Mechanismen staatlicher repressiver Systeme mit den Funktionsweisen des Patriarchats sind. Sie ebnet damit einen Weg zur Solidarisierung derjenigen, die überall auf der Welt unter Patriarchat und Gewalt leiden, mit den Künstler:innen, die in politisch repressiven Systemen unter Bedrohung ihres Lebens oder auch aus den Gefängnissen heraus tätig sind und über die politischen Verhältnisse, die sie zum Verstummen bringen wollen, sprechen und dagegen aufbegehren.

Natasha Brown: Assembly. London: Hamish Hamilton 2021.

Das Cover von Natasha Browns Assembly zeigt eine Einfahrt zu einer Villa mit Garten, farblich ist es rot-grün-blau bearbeitet

In Assembly erzählt Natasha Brown eine Aufstiegsgeschichte, die von Rassismus, Klassismus und Sexismus geprägt ist. Ihre Geschichte setzt allerings dort an, wo die anderen meist aufhören – und zwar an dem Punkt, an dem die Protagonistin in der gehobenen Gesellschaft angekommen ist und sich mit Job- und Partnerwahl einen sogenannten erstrebenswerten Status erarbeitet hat. Zu welchem Preis? Anders als bei Evaristo (s.o.), die vor allem von den Opfern (instabile und prekäre Lebensverhältnisse) erzählt, die sie erbringen musste, um ihren Traum vom Schreiben zu verwirklichen, geht es bei Brown um den Preis, den Marginalisierte zahlen, wenn sie dazugehören. Die sexistischen, klassistischen und rassistischen Alltagsbegebenheiten hören nicht auf und kommen fortan aus dem inneren Kreis.

Bettina Wilpert: Herumtreiberinnen

Bettina Wilpert legt mit Herumtreiberinnen ihren zweiten Roman vor. Oft steht nach einem ersten Erfolg die Frage im Raum, ob das zweite Buch den durch das erste erweckten hohen Erwartungen gerecht werden kann. Für ihr Debüt „nichts, was uns passiert“ wurde die Autorin mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, sie erhielt u.a. den Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, den Melusine-Huss-Preis, den ZDF-„aspekte”-Literaturpreis und Das Debüt 2018 – Bloggerpreis für Literatur.  

Herumtreiberinnen ist ein wichtiges Buch in dreifacher Hinsicht: Bettina Wilpert bringt eine neue, unverbrauchte Perspektive in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ein – sie erzählt in einer eigenwilligen Mischung aus Leichtigkeit und Schwere, die von der ersten bis zur letzten Seite überzeugt. Die Autorin nimmt sich darüber hinaus ein wichtiges historisches Thema vor und findet einen angemessenen erzählerischen Rahmen, der weder zu einfach ist, indem er etwa nur auf die Lebensgeschichten der Figuren setzt, noch durch allzu ausgefallene narrative Experimente die Geschichten überfrachtet.

Wilperts Prosa widmet sich der präzisen, stilsicheren Beschreibung des Alltags – sie skizziert ihre Figuren in konkreten Szenen: inmitten von Fahrgeschäften auf der Kleinmesse, im Schwimmbad, beim Träumen mit der besten Freundin, in unsicheren und aufrührerischen Gedankengängen, beim Schule-Schwänzen. In den Schilderungen der alltäglichen Szenen zeigt sich Wilperts untrügliches Sprachgefühl, kaum erscheint ein Wort zu viel, zu übertrieben oder fehl am Platz. Die Protagonistinnen sind lebendig, reflektiert, auch einmal unsicher, sie wollen etwas vom Leben, sind sich aber auch der Begrenzungen der jeweiligen historischen Umstände, in denen sie sich befinden, bewusst.

Der erste Teil des Romans erzählt von Manja und ihrer Freundin Maxi, beide gehen noch in die Schule und sind seit der 11. Klasse miteinander befreundet. Es geht um den Alltag, um gemeinsam verbrachte Nachmittage, um die Träume der beiden Schülerinnen. Maxi möchte die erste Kosmonautin der DDR werden, beide möchten kein geradliniges, geregeltes Leben führen, sondern haben etwas Besseres vor. Eines Nachmittags sind sie in einer Schrebergartenkolonie auf der Suche nach einem Fernseher unterwegs, die Ich-Erzählerin hat einen klaren Blick darauf:

Viele Gärten gefielen mir nicht: diese Akribie, die zeigte, dass man nichts falsch machte, jeden Tag zum Gießen vorbeikam, alles auf die Reihe kriegte. Eigentlich bestätigte sich für mich nur, dass diese Leute kein Leben hatten. Nur wenige Gärten lebten wirklich: Dort war das Gras kein Gras mehr, sondern Moos und Löwenzahn, von dem nur noch wenige Blüten gelb waren, die meisten hatte der Wind mitgenommen; die Sträucher wucherten in alle Richtungen außer nach oben, vor allem über den Nachbarzaun, und in den Gemüsebeeten gab es interessante Kreuzungen zwischen Blumenkohl und Wirsing.

Bettina Wilpert: Herum­treiberinnen. Verbrecher Verlag, Berlin 2022, S. 20.

In kurzen Szenen wie dieser beschreibt Wilpert im ersten Teil des Romans, der rund 60 Seiten umfasst, das Lebensgefühl der beiden Mädchen in den 80er Jahren in der DDR. Die Autorin findet genau den richtigen Ton, solche Bilder lassen sich an vielen Stellen entdecken und werden nie als Metaphern überstrapaziert; sie lässt uns an der Gedankenwelt ihrer Protagonistinnen teilhaben, ohne dass diese Gefahr laufen in längere Monologe zu verfallen. Der Wechsel zwischen den Gedanken der Figuren, kurzen Dialogen und der Beschreibung charakteristischer Ereignisse lässt das Buch von Anfang an lebendig wirken. Jedes Wort, jede Szene wirkt durchdacht.

Manja und Maxi durchleben einen Sommer zusammen, ihre Erlebnisse sind jedoch geprägt von den Bildungsinstitutionen der DDR, sie sind immer gehalten, ihr Verhalten zu überdenken und anzupassen. Sie wachsen in dem Bewusstsein auf, dass sich ihre Zukunft in engen Bahnen abspielen wird. Im Schwimmbad trifft Manja Manuel, einen Vertragsarbeiter aus Mosambik. In wenigen Sätzen und Szenen gelingt es Wilpert, zu beschreiben, welche Einschränkungen die Vertragsarbeiter in der DDR-Gesellschaft hinnehmen mussten. Bei einer Razzia im Wohnheim wird Manja in Manuels Zimmer von der Volkspolizei erwischt und daraufhin auf die geschlossene Venerologische Station in der Lerchenstraße gebracht. 

Dieses Gebäude in der Lerchenstraße steht fortan im Mittelpunkt des Romans. Der historische Ort, der als Vorlage des Romans diente, befindet sich heute in der Riebeckstraße 63 in Leipzig. Der „Initiativkreis Riebeckstraße 63“ widmet sich der Aufarbeitung der Geschichte eines Gebäudes, das im 19. und 20. Jahrhundert als Ort sozialer Ausgrenzung und Verfolgung fungierte und jetzt als „aktiver Erinnerungsort“ genutzt wird (siehe die Website des Vereins: https://riebeckstrasse63.de/, dort lässt sich auch mehr zur Geschichte des Ortes in Erfahrung bringen).

Während der erste Teil erzählerisch ganz bei Manja und Maxi ist, werden die Zeitebenen der beiden Teile, die auf die Einweisung von Manja in die sogenannte „Tripperburg“ folgen, miteinander verwoben. So gelingt auch erzählerisch der Bruch, der im Leben eines Individuums durch die Überführung an eine staatlich kontrollierte Institution verursacht wird. Die beiden anderen Erzählstränge drehen sich um die Sozialarbeiterin Robin, die 2015 einen Job in einer Unterkunft für Geflüchtete annimmt, die mittlerweile auf dem Gelände angesiedelt ist, und um Lilo, die während der NS-Zeit ihren Vater bei der kommunistischen Widerstandsarbeit unterstützt hat und nachdem der Familie der Prozess gemacht wird, auch in der Lerchenstraße festgehalten wurde.

Wilpert verbindet diese drei Zeitebenen, indem sie in wechselnden Szenen von Manja, Lilo und Robin erzählt. Den Schwerpunkt bildet die Geschichte um Manja, auch weitere Frauenfiguren aus der Zeit der 80er Jahre in der DDR bekommen viel Raum – so etwa Maxi, die in der Punkszene der DDR unterwegs war, oder Marion, die auf die Station eingewiesen wird, „einmal wegen Prostitution und einmal, weil sie keiner Arbeit nachgehe“ (S. 200).

In Wilperts Roman dient das Gebäude in der Lerchenstraße keinesfalls nur als Kulisse, die drei voneinander unabhängige Zeitebenen zusammenhält. So wird das Gebäude in der Lerchenstraße vor allem in seiner Funktion in der DDR beleuchtet, in dieser Zeit wurden Frauen dort festgehalten, weil sie den Moralvorstellungen des Staates und der Gesellschaft nicht entsprachen. Die Geschichte um Lilo macht deutlich, dass der Ort, an dem sie festgehalten wurden und täglichen Misshandlungen ausgesetzt waren, auch zuvor schon als Internierungsanstalt genutzt wurde. Während Manjas und Lilos Geschichte sich darin ähnlich sind, dass beide Frauen in dem Gebäude während einer Diktatur festgehalten wurden, wirkt die Gegenwartsebene zunächst als Störfaktor in der Parallelität der Erzählstränge: Robin ist auf demselben Gelände tätig, sie ist auch eine Frau, wir erfahren etwas über ihre Lebensträume und ihre Sexualität. Sie wird aber anders als Manja oder Lilo nicht in dem Gebäude festgehalten, sondern sie arbeitet dort. Die Geflüchteten befinden sich ebenfalls in einer anderen Situation: sie sind zwar nicht eingesperrt, dürfen sich aber auch nicht frei bewegen; in Robins Anwesenheit findet später aucheine Abschiebung statt. Robin engagiert sich im Arbeitskreis Gedenkort Lerchenstraße, während ihrer Arbeit findet sie im Keller auch Akten, die auf die DDR-Vergangenheit des Ortes hinweisen.

Bettina Wilpert gelingt es, an einem ganz konkreten Ort drei Zeitebenen zusammenzubringen. Sie vermeidet sehr geschickt vorschnelle und einfache Parallelen zwischen der NS-Zeit, der DDR-Diktatur und dem Umgang mit Geflüchteten in der Gegenwart. Durch die Gegenwartsebene, die sich einer einfachen Analogiebeziehung entzieht, macht der Roman auf die Komplexität von Erinnerungsorten und die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Geschichte von institutionalisierter sozialer Ausgrenzung aufmerksam. Der dem Roman vorangestellte Abschnitt regt dazu an, genau hinzuschauen, wenn Ausgrenzung praktiziert wird. Er lautet wie folgt:      

Wir sind immer auf der Flucht. Wir sind der Abschaum, das Unterste, das Letzte. Sie nennen uns HwGs oder Herumtreiberinnen, Arbeitsbummelantinnen, Asoziale. Über der Tür der Lerchenburg kämpft der heilige Georg auf seinem Pferd im Sprung. Mit erhobenem Schwert zielt er auf den Drachen. Hierher bringen sie uns von überall, sagen, wie seien Wahnwitzige und Sinnlose, Liederliche. Wir werden versorgt und verwahrt.

Bettina Wilpert: „Herum­treiberinnen“. Verbrecher Verlag, Berlin 2022, S. 5.

Bettina Wilpert: Herum­treiberinnen. Verbrecher Verlag, Berlin 2022.

Domenico Müllensiefens Blick auf das Leipziger Arbeiter:innenmilieu

Domenico Müllensiefen ist – auch im Sinne der in der Anthologie Brotjobs & Literatur verhandelten Frage danach, wie Autor:innen eigentlich ihr Geld verdienen und auf welche Art und Weise ihre Neben- oder auch weitere(n) Haupttätigkeit(en) ihr Schreiben beeinflussen – eine spannende Person. Aus unseren Feuern ist der erste Roman des 1987 in Magdeburg geborenen Autors, der nicht nur Absolvent des Leipziger Literaturinstituts, sondern auch gelernter Systemelektroniker ist, neben dem Schreiben als Bestatter gearbeitet hat und derzeit als Bauleiter tätig ist. Ein Schriftsteller, der auch arbeiten geht – erfrischenderweise in einem anderen Bereich als diejenigen Schreibenden, die ihre Nebenberufe in der Kreativ- oder Medienbranche stets ganz selbstbewusst vor sich hertragen.

Der Roman erzählt überzeugend und realitätsnah aus einer Arbeitswelt, die sich jenseits akademischer Lebenswelten in Leipzig abspielt. Hier gibt es keinen Café Latte, keine Karriereentscheidungen und auch keine bürgerlichen Ehe- oder Familienkrisen. Fernab der etablierten Gesellschaft ist der Plot frei von geldgetränkter Selbstbespiegelung in der Altbauwohnung und den darin geträumten Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Erzählt wird von einer Männerfreundschaft um den Ich-Erzähler Heiko Persberg, der in der Schulzeit mit Thomas, dem Sohn eines Schlachthofbesitzers, und Karsten, dem Sohn einer alleinerziehenden Mutter, befreundet war. Während Karsten sehr schnell nach seiner Ausbildung nicht nur den Osten, sondern auch Deutschland Richtung Amerika verlässt, bleiben Heiko und Thomas in Leipzig. Dort sehen sie zu, wie die meisten aus ihrer Klasse irgendwann in die neuen Bundesländer gehen, während sie selbst perspektivlos in ihrer Stadt verweilen.  

Spannend zu lesen und immer noch selten in der neueren deutschsprachigen Literatur zu finden ist die Schilderung des Arbeitsalltags der Jugendlichen und späteren Erwachsenen, die als Elektriker:innen, Verkäufer:innen, Bestatter:innen oder im Schlachthof arbeiten. Müllensiefen fängt nicht nur ein, wie ein Arbeitstag und eine Arbeitswoche eines Elektrikers aussieht, sondern er zeigt seinem Lesepublikum auch, wie eine Leiche für die Bestattung vorbereitet, ein Grab ausgehoben und ein Schwein geschlachtet wird. Nebenbei beschreibt er die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt seit Ende der Neunziger Jahre, die den auch zuvor schon schlecht bezahlten Arbeitskräften nun auch noch die letzte Würde nehmen: für Elektriker:innen ist der Montagedienst und die damit verbundene Pendelei längst Normalität; Internetbestattungen sorgen dafür, dass die Leichen nun quer durch Deutschland gefahren werden müssen. Das Hierbleiben scheint keine Option mehr zu sein, das Weggehen – wie sich an zwei Nebenfiguren des Buches zeigt – funktioniert aber auch nicht.

Müllensiefen stellt sich der Herausforderung, die die Schilderung des Milieus männlich geprägter Ausbildungsberufe zwangsläufig mit sich bringt. Wie lässt sich der Alltag von Auszubildenden und Angestellten im prekären Niedriglohnsektor realistisch schildern ohne ständig homophobe, sexistische und rassistische Ansichten zu reproduzieren? Der Autor wählt für seinen Protagonisten Heiko die Ich-Perspektive und entscheidet sich damit dafür, die Lesenden ganz nah an dessen Sicht heranzuführen. Damit gelingt es Müllensiefen, zu zeigen, wie Heikos Ansichten und Handlungsspielräume aus der Interaktion mit seinem Umfeld entstehen. Klar wird vor allem, wie schwer es sein kann, sich dem zu entziehen. In der Ausbildung wird bereits morgens Bier getrunken, Heiko wird von Kolleg:innen und Bekannten gerne mal Heike genannt und er ist nur mit Leuten unterwegs, die Frauen vor allem als Sexobjekte wahrnehmen.

Der Roman wirft viele Fragen auf: Werden zu viele Klischees reproduziert oder wird eine Realität beschrieben, die sonst in der Literatur kaum eine Rolle spielt? Ist Müllensiefen zu nachsichtig mit seiner Hauptfigur Heiko und dessen Umfeld, in dem niemand versucht, auszubrechen, etwas zu verändern oder sich wenigstens neben der Arbeit gewisse Freiräume aufzubauen? Es gibt interessante Nebenfiguren wie zum Beispiel Juliane, die zunächst als »Sexmaus« (34) eingeführt wird, sich dann allerdings als selbstbewusste Frau mit eigenem erfolgreichem Wanderblog erweist.

»Juliane Weinhold, diese Wanderbloggerin. Die sieht man doch dauernd im MDR.«  

»Du schaust MDR?«

»Ich sage doch, ich bin Sachse. Und das kann auch Amerika nicht ändern. Ich hatte das mal überlegt, dass wir drei eine Tour bei der buchen. Die zeigt dir die letzten Winkel deiner Heimat.«

»Lass mal sehen«, sagte ich und nahm Karsten das Handy aus der Hand. »Unsinn. Die heißt zwar Juliane, ist aber eine Kollegin meiner Mutter. Die arbeitet im Finanzbüro.«

»Heiko. Es gibt Leute, die nach der Arbeit nicht nur hinter der Glotze hängen oder irgendwelche Autos zusammenkleben. Diese Frau geht gerne wandern und hat einen Blog im Internet.«  

Domenico Müllensiefen: Aus unseren Feuern. Berlin: Kanon Verlag 2022, S. 295.

Die männlichen Figuren scheinen in einer Arbeitswelt, die sich immer weiter zum Schlechteren entwickelt, festzuhängen und verbleiben in einem Umfeld, das vor allem auf Feindseligkeit und gegenseitigen Sticheleien gründet. Die herzliche Seite der Figuren ist vorhanden, kommt aber nur selten in Gesellschaft zur Oberfläche. Damit zeigt Müllensiefen eine Realität im Osten, die weniger das widerspiegelt, was der Journalist Christian Bangel die Baseballschlägerjahre genannt hat, sondern die vielmehr aus Lebenswelten besteht, die zutiefst von rassistischen und sexistischen, aber eben auch klassistischen Strukturen durchdrungen sind. Wer nicht in einem der priviligierten Viertel – etwa der Südvorstadt oder dem Waldstraßenviertel – wohnt und sich nicht in eine Akademiker:innenblase flüchten kann, der oder die wird in seinem oder ihrem Alltag zwangsläufig mit entsprechenden Sprüchen konfrontiert. Da die Figuren im Roman alle weiß, heterosexuell und politisch nicht gerade links sind, sind sie nur indirekt betroffen und die Motivation, sich dem entgegenzustellen, ist entsprechend gering. Gleichzeitig ist es – und das wird durch den Roman deutlich – sehr bequem, diese zwangsläufige gegenseitige Akzeptanz der Arbeiter:innenschaft zu kritisieren, wenn man selbst am Arbeitsplatz oder in der Universität immer nur einer relativ homogenen Schicht akademisch gebildeter und reflektierter Menschen trifft. Es stellt sich auch die Frage nach den Ressourcen, die für eine kritische Haltung nötig wären. Ob keine:r aus Zustimmung etwas dagegen sagt oder schlicht, weil er oder sie während oder nach einem anstrengenden Arbeitstag einfach zu müde ist, lässt sich nicht immer so leicht auseinanderhalten.

Der Teil der Story, die sich als Coming-of-Age-Geschichte lesen lässt, zeigt eine Entwicklung des Protagonisten vom Elektriker zum Pizzaauslieferer und schließlich zum Bestatter – das offene Ende deutet eine Hinwendung zum privaten Glück an. Kombiniert wird dies mit zwei ineinander verschachtelten Roadtrips – einem Ausflug der drei Freunde in der Jugend und Heikos Fahrt quer durch Deutschland, um Leichen für das Bestattungsunternehmen abzuholen. Müllensiefen erzählt von zwei Reisen, in denen zwar viele Kilometer zurückgelegt werden, die aber zu keiner Entwicklung führen. In diesem Sinne entscheidet sich der Autor gegen eine Geschichte der Emanzipation und Selbstentfaltung und für das Erzählen von denen, über die sich das bildungsbürgerliche Establishment sonst kaum Gedanken macht. Dies ist insofern interessant, als dass auch schon eine andere Absolventin des Leipziger Literaturinstituts – Katja Oskamp in Marzahn, mon amour – von einer anderen Welt erzählt. Beide Autor:innen imaginieren sich jedoch keine Arbeiter:innenidylle, sondern schöpfen aus ihren eigenen Erfahrungen. Während Oskamp sich für einen eher dokumentarischen Stil und das Erzählen der Lebensgeschichten der Bewohner:innen in den Plattenbauten entscheidet, wählt Müllensiefen die Ich-Perspektive für seinen Protagonisten.

Nun müssen sich die Lesenden fragen: Wollen sie wirklich die Welt aus Heikos Augen sehen? Und wie können sie besserwisserischen, klassistischen und paternalistischen Impulsen widerstehen? Figuren wie Juliane zeigen einen Ausweg – sie verbleibt zwar in dem Umfeld, schafft sich aber ihre eigenen Räume. Der Autor – um ganz zum Schluss doch noch auf ihn zurückzukommen – zeigt auch, dass ein Arbeiter auch Literatur studieren, im Nebenjob als Bestatter oder Bauleiter arbeiten und ein ausgezeichnetes sowie jetzt schon als erfolgreich zu bezeichnendes Debut vorlegen kann.

Domenico Müllensiefen: Aus unseren Feuern. Berlin: Kanon Verlag 2022.

Katja Oskamp: Marzahn, mon amour. Berlin: Hanser 2019.