Rotorbooks, Gegenwartsliteratur und die (vergangene?) Zeit der Theorie
Der Buchladen Rotorbooks befindet sich in der Leipziger Kolonnadenstraße inmitten sogenannter Altstadt-Plattenbauten, es gibt ein schönes Café nebenan, der Buchladen lockt mit großen Schaufenstern und besten Büchern jenseits des Massengeschmacks. Im Hinterraum des Buchladens befindet sich der Merve-Verlag, draußen vor den Schaufenstern gibt es große Fensterbretter, auf denen sich sitzen und Kaffee trinken lässt. Im Café, das hauptsächlich von jüngeren Menschen besucht wird, werden ein Tagesgericht und leckere Torten serviert. Ins Auge fallen Grünpflanzen, die sich an den Häusern im Plattenbaustil entlang schlängeln und eine Atmosphäre schaffen, die zweierlei zusammenbringt: eine eigentlich verbrauchte Ästhetik, die sich anders als etwa die schönen Industriegebäude der Baumwollspinnerei oder die weiten Flächen und Gebäude in Plagwitz nicht wirklich stilvoll umdeuten lässt, hier jedoch ein kreatives Eigenleben führt, und den Buchladen, der hier angesagteste Literatur und Theorie zusammenbringt. Es ergibt sich ein Bild, das etwas über die Literatur und Theorie der Gegenwart erzählt.
Von draußen kommend bleibt der Anblick der gemütlich im Café sitzenden Studierenden hängen. Es scheint immer noch genug Menschen zu geben, die tagsüber Zeit haben, um im Café zu sitzen und zu lesen oder über Literatur zu sprechen; fast drängt sich das Gefühl auf, dass hier ein Ort ist, an dem Bücher unhinterfragt Bedeutung haben. Der Laden selbst besteht aus zwei Teilen, gegliedert durch die großen Fenster, in der Mitte die Tür, rechts ein Tisch (und natürlich auch Regale drum herum) mit Gegenwartsliteratur, mitsamt einer kleinen Ecke am Fenster für Kinderbücher, links die Theorieabteilung. Hinten die Kasse, die Kaffeemaschine, die Verlagsräume. Die Literaturabteilung ist ausgezeichnet, ich berichte weiter unten von meiner kleinen Auswahl.
Angesichts des Bestands der Theorieabteilung drängt sich die Frage auf, was eigentlich in den letzten Jahren aus DER Theorie geworden ist. War der Merve-Verlag seinerzeit Metapher und Metonymie für die Theorie – einer meiner Kommiliton:innen lief immer mit einem Merve-Band unter dem Arm herum, jeden Tag eine andere Farbe, ein anderes Theorie-Problem – stellt sich mit fortschreitender Akzeptanz und Sichtbarkeit einer diversen, multiperspektivischen Gesellschaft immer stärker die Frage danach, was Theorie eigentlich noch leisten kann, welcher Begriff von Theorie überhaupt noch zeitgemäß ist, ja, ob sie sich überhaupt als solche noch legitimieren lässt, wenn jedes Denkgebäude in seiner jeweiligen Situiertheit angemessen erfasst und kontextualisiert wird. Welchen Sinn macht es noch, von Theorie zu sprechen, wenn es nicht mehr DIE Theorie, sondern zum Beispiel eine feministische, eine migrantische und eine alte-weiße-Männer-Theorie gibt (wobei letztere sich [von wenigen Ausnahmen abgesehen] ganz selbstverständlich herausnimmt, universal und neutral zu sein, nicht von einem spezifischen Ort aus, sondern generell für alle zu sprechen, und damit den Anspruch legitimiert, DIE Theorie zu repräsentieren)?
Diese Frage ist sicherlich nicht neu, stellt sich aber insbesondere in Bezug auf die großen Player Merve und Suhrkamp, bei denen DIE Theorie fast immer in vermeintlich neutralem Gewand daherkam, aber fast immer [bzw. sehr oft, meistens, gefühlt immer – falls jemandem jetzt wieder die berühmten Gegenbeispiele einfallen] weiß, europäisch und männlich war. Wenn die eigene Position von Denker:innen im System sichtbar gemacht wird, dann handelt es sich fast immer um feministische, marxistische oder postkoloniale Denker:innen, dann aber leider oft zu dem Preis, dass sie bereits als solche markiert im Diskurs erscheinen und sich daher nur schwer als DIE Theorie bezeichnen lassen, sondern von vornherein als Verfechter:innen von Spezialinteressen erscheinen. Das Ende des Merve-Verlags (und weniger den Neuanfang in der Kolonnadenstraße, wo er sich jetzt eben befindet) hat Philipp Felsch in Der Sommer der Theorie beschrieben. Zur Geschichte der Theorie bei Suhrkamp erscheint bald ein Buch von Morten Paul, dessen (vorläufiger) Titel Suhrkamp Theorie. Eine Buchreihe im philosophischen Nachkrieg lautet.
Vor diesem Hintergrund bzw. ganz konkret mit dem Theorieangebot bei Rotorboks zur linken Seite, drängt sich der Gedanke auf, dass die Literatur – mit ihrem Raum für das Individuelle, das Subjektive und angesichts der zunehmenden Begeisterung für Autofiktion – viel besser zur polyphonen, migrantischen und queeren Gegenwart passt, als DIE Theorie (ja, klar, viel zu pauschal, guter Einwand, bleibe aber trotzdem dabei).
Daher folgt jetzt ein Unboxing des sommerlichen Bücherkaufs bei Rotorbooks in Leipzig (Anmerkung für die Kenner:innen der sogenannten Netzkultur: vielleicht wäre Haul hierfür der bessere Begriff; beides wird zudem üblicherweise im Videoformat und nicht in einer Bild-Text-Kombination betrieben und legt genau genommen auch den Konsumbegriff zugrunde, den ich auf die Literatur eigentlich nicht so gern anwenden möchte).
Unboxing: Bücherkauf bei Rotorbooks
Jenny Hval: Perlenbrauerei. Aus dem Norwegischen von Rahel Schöppenthau und Anna Schiemangk. Berlin: März 2022.

Ein auf gute Art und Weise verstörendes Buch. Die Protagonistin macht einen Auslandsaufenthalt in Australien, lebt dort in einem coolen, aber auch merkwürdigen Gebäude mit durchsichtigen Wänden. Die Beschreibungen changieren zwischen eigenartigen Erlebnissen und einer spezifisch selbstzerstörerischen Wahrnehmung der Protagonistin. Ihre Mitbewohnerin stellt die Grenzen zwischen Nähe und Distanz permanent in Frage und weitet sie nach und nach aus. Erzählt wird von neuen Freundinnen, Einsamkeit, Sex, Partys und schließlich von einem Auszug. Die Autorin, Jenny Hval, hat Kreatives Schreiben und Performance studiert und als Sängerin einige Alben herausgebracht; das Buch ist eine Mischung aus Noise Rock und Literatur.
Jennifer Clement: Auf der Zunge. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Berlin: Suhrkamp 2022.

Eine Frau hat die Scheidung von ihrem Mann besiegelt, wir erfahren weder, was zur Trennung geführt hat noch viel von dem gemeinsam gelebten Leben. Beschrieben wird ein Schwebezustand, ein Zwischenbereich, der die Zeit nach dem Vollzug der Trennung, aber noch vor einem Neubeginn auszeichnet. Allein läuft die Frau durch die Straßen New Yorks. Sie begegnet verschiedenen Männern – u.a. einem Dichter, einem Polizisten, einem Wissenschaftler und einem Musiker. Die Begegnungen ereignen sich zufällig, werden aber dennoch mit großer Bedeutsamkeit aufgeladen. Die Frau spricht mit ihnen, küsst sie manchmal, kommt ihnen auf eigenwillige Art und Weise näher. Ihr Erleben und ihre Wahrnehmung sind gezeichnet von der Abwesenheit ihrer Ehe und dem Unbehagen des Neuanfangs.
Simone de Beauvoir: Die Unzertrennlichen. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Hamburg: Rowohlt 2022.

Hätte Jean-Paul Sartre ihr nicht davon abgeraten, den Roman zu veröffentlichen, da er zu intim sei, gäbe es diesen Sommer nicht eine Neuentdeckung von Simone de Beauvoir auf den Büchertischen. Im französichen Original posthum im Jahr 2020 veröffentlich, fast 70 Jahre nach der Niederschrift in der Zeit zwischen 1954 und 1958, erzählt der autofiktive Roman von der Kindheitsfreundin der feministischen Schriftstellerin und damit auch von ihrer eigenen Kindheit – inmitten und zugleich am Rande der Bourgeoisie. Während die Familie der Freundin sehr viel Geld hat, muss bei den Beauvoirs die Mutter die Hausarbeit bald wieder selbst machen. Die Mädchen lernen zusammen, führen anregende Gespräche, spazieren durch Paris. Als die Freundin sich in einen gemeinsamen Freund verliebt – hinter der Romanfigur verbirgt sich Maurice Merleau-Ponty – wird es zunehmend dramatisch.
Bernardine Evaristo: Manifesto. On Never Giving Up. London: Hamish Hamilton 2021.

Manifesto liest sich wie eine lange Antwort auf die ebenso müßige wie nicht tot zu kriegende Frage nach dem „echten“ Leben von Autor:innen. Lässt man jedoch den Eindruck hinter sich, dass Evaristo die relativ chronologisch und im Stil einer konventionellen Autobiografie beschriebenen Erfahrungen, Beziehungen und Ereignisse viel poetischer in Girl, Woman, Other verarbeitet hat, bleibt Manifesto. On Never Giving Up eine ziemlich beeindruckende Aufsteiger:innengeschichte, die davon handelt, welche Opfer Bernardine Evaristo bringen musste, um dem Schreiben die Priorität einzuräumen und den unvermeidlich prekären Weg einer nicht-priviligierten Schwarzen Frau zum Booker Prize zu gehen. Der Fokus liegt auch auf den vielen Wendepunkten, an denen Aufgeben der naheliegende Schritt gewesen wäre.
Volha Hapeyeva: Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils. Berlin: Verbrecher Verlag 2022.

Volha Hapeyeva ist eine beeindruckende Stimme inmitten der aus guten Gründen fast dauerpräsenten Beschäftigung der Literatur mit dem Exil, der Migration und der Flucht. Sie legt klar, analytisch, aber auch mit dem Bestehen auf der Bedeutung der Poesie, dar, wie eng verflochten die Mechanismen staatlicher repressiver Systeme mit den Funktionsweisen des Patriarchats sind. Sie ebnet damit einen Weg zur Solidarisierung derjenigen, die überall auf der Welt unter Patriarchat und Gewalt leiden, mit den Künstler:innen, die in politisch repressiven Systemen unter Bedrohung ihres Lebens oder auch aus den Gefängnissen heraus tätig sind und über die politischen Verhältnisse, die sie zum Verstummen bringen wollen, sprechen und dagegen aufbegehren.
Natasha Brown: Assembly. London: Hamish Hamilton 2021.

In Assembly erzählt Natasha Brown eine Aufstiegsgeschichte, die von Rassismus, Klassismus und Sexismus geprägt ist. Ihre Geschichte setzt allerings dort an, wo die anderen meist aufhören – und zwar an dem Punkt, an dem die Protagonistin in der gehobenen Gesellschaft angekommen ist und sich mit Job- und Partnerwahl einen sogenannten erstrebenswerten Status erarbeitet hat. Zu welchem Preis? Anders als bei Evaristo (s.o.), die vor allem von den Opfern (instabile und prekäre Lebensverhältnisse) erzählt, die sie erbringen musste, um ihren Traum vom Schreiben zu verwirklichen, geht es bei Brown um den Preis, den Marginalisierte zahlen, wenn sie dazugehören. Die sexistischen, klassistischen und rassistischen Alltagsbegebenheiten hören nicht auf und kommen fortan aus dem inneren Kreis.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.