Cover von Manja Präkels: Welt im Widerhall oder War das eine Plastiktüte. Essays (blaue Schrift auf schwarzem Hintergrund) und Cover Viktor Funk: Wir verstehen nicht, was geschieht. Roman (weiße Schrift auf blauem Hintergrund)

Neues aus dem Verbrecher Verlag: Essays von Manja Präkels und ein Roman von Viktor Funk

Manja Präkels: Welt im Widerhall oder War das eine Plastiktüte. Essays. Berlin: Verbrecher Verlag 2022

Manja Präkels zeichnet in ihren Essays – die zu unterschiedlichen Zeitpunkten (zwischen 2011 und 2022) bereits in unterschiedlichen Medien erschienen und in diesem Band nicht nur zusammengestellt, sondern dramaturgisch gekonnt angeordnet und überarbeitet worden sind – ein Panorama, das sich von ihren Beobachtungen während der Corona-Pandemie in Berlin-Neukölln über leere und zugleich von No-Go-Areas durchzogene Landschaften in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hin zu Rückblicken auf das Aufwachsen in der DDR entfaltet, deren Kontinuitäten und Transformationen aus der Perspektive einer Fortgegangenen beschrieben werden. Diese kehrt immer wieder zurück, unternimmt Reisen in den noch immer als nahe empfundenen Osten (unter anderem zieht es sie in die Mongolei, nach Usbekistan, Kasachstan und China) und nähert sich im Rahmen verschiedener Schriftsteller:innenresidenzen in Lettland und in der ostdeutschen Provinz sowohl den Menschen und der Atmosphäre dort als auch ihren eigenen Erinnerungen und Ängsten.  

Cover von Manja Präkels: Welt im Widerhall oder War das eine Plastiktüte. Essays (blaue Schrift auf schwarzem Hintergrund)

Manja Präkels schreibt über die zunehmende Radikalisierung in den sogenannten Baseballschlägerjahren, über die Gewaltausschreitungen in Rostock und Hoyerswerda und darüber, dass die Ereignisse damals nicht etwa zu einer Verurteilung oder kritischen Auseinandersetzung mit den Taten in Politik und Gesellschaft geführt haben, sondern zu einer zunehmenden Normalisierung von Gewalt und Hetze, von Alltagsrassismus und rechten Diskursen beigetragen haben. Subtil, im Hintergrund fast, entsteht ein Bild vom Osten, in dem es einerseits auf Menschenjagd gehende Nazis, später dann AfD-Wähler:innen und Pegida-Anhänger:innen gibt und in dem sich andererseits immer mehr Westdeutsche Grundstücke kaufen, auf denen sie abwesend-anwesend ihre Wochenendidylle genießen und Lamas, Emus und Kamele züchten.

Präkels schreibt damit auch ein Buch über (oder für) die, die damals auch dabei waren und weder Täter:innen noch Opfer werden wollten. Die Essays fragen immer wieder nach dem Raum, der sich zwischen der Leere (die durch die Weggezogenen einerseits und die nur am Wochenende anwesenden Zugezogenen andererseits entstanden ist) und der Präsenz des rechten und gewaltbereiten Teils der Bevölkerung ergibt. Die Autorin durchmisst die Möglichkeiten, die sich jenseits des aktiven (und gefährlichen) Widerstands und des resignierten Rückzugs aus dem öffentlichen Raum auftun. Viele scheinen es nicht zu sein. In Präkels Buch gewinnen diejenigen Kontur, die anders als rassifizierte Menschen nicht direkt zur Zielscheibe von Hass und Gewalt werden, die in ihrem von Alltagsrassismus geprägten Umfeld jedoch auch schon herausragen, wenn sie sich dem nicht anschließen wollen.

In diesem Kontext vervollständigen die Neukölln-Passagen, in denen in wenigen Szenen herausgearbeitet wird, dass sich auch dort einige Menschen weniger sicher als andere fühlen, das Bild. Präkels arbeitet in ihren Essays auf subtile Weise heraus, dass es überall auf die große Mehrheit derjenigen ankommt, die weder direkte Täter:innen sind, noch direkt von Hass und Gewalt bedroht werden. Sie sind in der Position, Solidarität zu zeigen.

So erschreckend die immer neuen Wellen von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, antisemitischen Übergriffen und Ausfällen auch sein mögen, so wenig überrascht diese Entwicklung all jene, die lieber von Bevölkerung als von Volk sprechen. Flüchtlinge ermächtigen sich selbst, Willkommensinitiativen wachsen auch und gerade da, wo sie am dringendsten benötigt werden. Abgeordnete lassen sich von zerschlagenen Bürofenstern nicht einschüchtern, Kriegsflüchtlinge und von Zwangsräumungen Betroffene organisieren ihren Widerstand gemeinsam. Das macht Hoffnung.

Präkels, S. 68

Viktor Funks Roman Wir verstehen nicht, was uns geschieht. Berlin: Verbrecher Verlag 2022

Viktor Funks Roman Wir verstehen nicht, was uns geschieht ist ein Versuch, die Geschichte der sowjetischen Straf- und Arbeitslager, der sogenannten Gulags, in fiktionaler Form anhand der Lebensgeschichte von Lew und dessen späterer Frau Swetlana aufzuarbeiten. Den Ausgangspunkt der Geschichte bildet eine Reise, die Alexander List, ein Historiker aus Deutschland, gemeinsam mit Lew nach Petschora unternimmt. Lew, der Protagonist des Buches, gerät 1941 in die Gefangenschaft der Nazis. Nach der Befreiung durch die Amerikaner, die ihm schließlich selbst überlassen, ob er nach Osten oder Westen fliehen will, entscheidet sich Lew für den Osten, da er auf ein Zusammenleben mit Swetlana hofft, die er vor dem Krieg während des Physik-Studiums kennengelernt hat. Er wird dann 1945 jedoch zu neun Jahren Lager in Petschora verurteilt, da man ihn der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt. Swetlana wartet die ganze Zeit auf Lew, besucht ihn sogar – unter abenteuerlichen und gefährlichen Umständen – im Lager. Der Roman erzählt von der Liebe zwischen den beiden, von Freundschaft die in den Lagern entstanden sind und von der Notwendigkeit, diese Geschichten nicht zu vergessen, sondern weiterzuerzählen.

Cover Viktor Funk: Wir verstehen nicht, was geschieht. Roman (weiße Schrift auf blauem Hintergrund)

Der Autor Viktor Funk hat seine Magisterarbeit in Geschichte über Erinnerungen von Gulag-Überlebenden geschrieben, die Briefe zwischen Lew und Swetlana gibt es wirklich, im Roman werden die Briefe jedoch fiktionalisiert. Viktor Funk wählt die Form des Romans wohl auch, um die Geschichten der Lagerinsass:innen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Die Nähe der Romanfiguren zu realen Personen – einerseits Alexander List als Alter Ego des Autors, andererseits Lew Mischenko und der reale Lew Mischtschenko, der hinten im Band sogar abgebildet ist – lässt jedoch die Frage aufkommen, ob der Kurzroman wirklich die richtige Form ist, um diese Geschichte zu erzählen. Einerseits wäre – gerade angesichts der realen Personen, die die Grundlage für den Roman bilden – auch ein journalistischer, dokumentarischer Zugang denkbar gewesen. Andererseits wäre auch eine stärkere Fiktionalisierung und die Konzentration auf die Figur Lew und dessen Geschichte möglich gewesen. Ein Weg, für den sich zum Beispiel Gusel Jachina in ihrem 2015 erschienenen Roman Suleika öffnet die Augen (2015 im russischen Original bei AST in Moskau erschienen, 2018 in deutscher Übersetzung im Aufbau Verlag), entschieden hat. Sie erzählt in ihrem Roman, der auf der Geschichte ihrer Großmutter beruht, von der Deportation einer tatarischen Bäuerin in ein Lager in Sibirien und von deren Leben dort.

Die von Viktor Funk gewählte Form des Romans lenkt jedoch die Aufmerksamkeit auf etwas anderes: nämlich auf diejenigen, die wie die Figur Alexander List Zeit, Mühe und weite Reisen auf sich nehmen, um sich die Geschichten der Überlebenden anzuhören, um die Dokumente der Zeitzeugen zu sichten, zu archivieren, zu sortieren und weiterzugeben. Dies ist durch das Verbot der Organisation Memorial in Russland, die dieses Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, und angesichts des Krieges, nun sehr schwierig geworden.           

Domenico Müllensiefens Blick auf das Leipziger Arbeiter:innenmilieu

Domenico Müllensiefen ist – auch im Sinne der in der Anthologie Brotjobs & Literatur verhandelten Frage danach, wie Autor:innen eigentlich ihr Geld verdienen und auf welche Art und Weise ihre Neben- oder auch weitere(n) Haupttätigkeit(en) ihr Schreiben beeinflussen – eine spannende Person. Aus unseren Feuern ist der erste Roman des 1987 in Magdeburg geborenen Autors, der nicht nur Absolvent des Leipziger Literaturinstituts, sondern auch gelernter Systemelektroniker ist, neben dem Schreiben als Bestatter gearbeitet hat und derzeit als Bauleiter tätig ist. Ein Schriftsteller, der auch arbeiten geht – erfrischenderweise in einem anderen Bereich als diejenigen Schreibenden, die ihre Nebenberufe in der Kreativ- oder Medienbranche stets ganz selbstbewusst vor sich hertragen.

Der Roman erzählt überzeugend und realitätsnah aus einer Arbeitswelt, die sich jenseits akademischer Lebenswelten in Leipzig abspielt. Hier gibt es keinen Café Latte, keine Karriereentscheidungen und auch keine bürgerlichen Ehe- oder Familienkrisen. Fernab der etablierten Gesellschaft ist der Plot frei von geldgetränkter Selbstbespiegelung in der Altbauwohnung und den darin geträumten Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Erzählt wird von einer Männerfreundschaft um den Ich-Erzähler Heiko Persberg, der in der Schulzeit mit Thomas, dem Sohn eines Schlachthofbesitzers, und Karsten, dem Sohn einer alleinerziehenden Mutter, befreundet war. Während Karsten sehr schnell nach seiner Ausbildung nicht nur den Osten, sondern auch Deutschland Richtung Amerika verlässt, bleiben Heiko und Thomas in Leipzig. Dort sehen sie zu, wie die meisten aus ihrer Klasse irgendwann in die neuen Bundesländer gehen, während sie selbst perspektivlos in ihrer Stadt verweilen.  

Spannend zu lesen und immer noch selten in der neueren deutschsprachigen Literatur zu finden ist die Schilderung des Arbeitsalltags der Jugendlichen und späteren Erwachsenen, die als Elektriker:innen, Verkäufer:innen, Bestatter:innen oder im Schlachthof arbeiten. Müllensiefen fängt nicht nur ein, wie ein Arbeitstag und eine Arbeitswoche eines Elektrikers aussieht, sondern er zeigt seinem Lesepublikum auch, wie eine Leiche für die Bestattung vorbereitet, ein Grab ausgehoben und ein Schwein geschlachtet wird. Nebenbei beschreibt er die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt seit Ende der Neunziger Jahre, die den auch zuvor schon schlecht bezahlten Arbeitskräften nun auch noch die letzte Würde nehmen: für Elektriker:innen ist der Montagedienst und die damit verbundene Pendelei längst Normalität; Internetbestattungen sorgen dafür, dass die Leichen nun quer durch Deutschland gefahren werden müssen. Das Hierbleiben scheint keine Option mehr zu sein, das Weggehen – wie sich an zwei Nebenfiguren des Buches zeigt – funktioniert aber auch nicht.

Müllensiefen stellt sich der Herausforderung, die die Schilderung des Milieus männlich geprägter Ausbildungsberufe zwangsläufig mit sich bringt. Wie lässt sich der Alltag von Auszubildenden und Angestellten im prekären Niedriglohnsektor realistisch schildern ohne ständig homophobe, sexistische und rassistische Ansichten zu reproduzieren? Der Autor wählt für seinen Protagonisten Heiko die Ich-Perspektive und entscheidet sich damit dafür, die Lesenden ganz nah an dessen Sicht heranzuführen. Damit gelingt es Müllensiefen, zu zeigen, wie Heikos Ansichten und Handlungsspielräume aus der Interaktion mit seinem Umfeld entstehen. Klar wird vor allem, wie schwer es sein kann, sich dem zu entziehen. In der Ausbildung wird bereits morgens Bier getrunken, Heiko wird von Kolleg:innen und Bekannten gerne mal Heike genannt und er ist nur mit Leuten unterwegs, die Frauen vor allem als Sexobjekte wahrnehmen.

Der Roman wirft viele Fragen auf: Werden zu viele Klischees reproduziert oder wird eine Realität beschrieben, die sonst in der Literatur kaum eine Rolle spielt? Ist Müllensiefen zu nachsichtig mit seiner Hauptfigur Heiko und dessen Umfeld, in dem niemand versucht, auszubrechen, etwas zu verändern oder sich wenigstens neben der Arbeit gewisse Freiräume aufzubauen? Es gibt interessante Nebenfiguren wie zum Beispiel Juliane, die zunächst als »Sexmaus« (34) eingeführt wird, sich dann allerdings als selbstbewusste Frau mit eigenem erfolgreichem Wanderblog erweist.

»Juliane Weinhold, diese Wanderbloggerin. Die sieht man doch dauernd im MDR.«  

»Du schaust MDR?«

»Ich sage doch, ich bin Sachse. Und das kann auch Amerika nicht ändern. Ich hatte das mal überlegt, dass wir drei eine Tour bei der buchen. Die zeigt dir die letzten Winkel deiner Heimat.«

»Lass mal sehen«, sagte ich und nahm Karsten das Handy aus der Hand. »Unsinn. Die heißt zwar Juliane, ist aber eine Kollegin meiner Mutter. Die arbeitet im Finanzbüro.«

»Heiko. Es gibt Leute, die nach der Arbeit nicht nur hinter der Glotze hängen oder irgendwelche Autos zusammenkleben. Diese Frau geht gerne wandern und hat einen Blog im Internet.«  

Domenico Müllensiefen: Aus unseren Feuern. Berlin: Kanon Verlag 2022, S. 295.

Die männlichen Figuren scheinen in einer Arbeitswelt, die sich immer weiter zum Schlechteren entwickelt, festzuhängen und verbleiben in einem Umfeld, das vor allem auf Feindseligkeit und gegenseitigen Sticheleien gründet. Die herzliche Seite der Figuren ist vorhanden, kommt aber nur selten in Gesellschaft zur Oberfläche. Damit zeigt Müllensiefen eine Realität im Osten, die weniger das widerspiegelt, was der Journalist Christian Bangel die Baseballschlägerjahre genannt hat, sondern die vielmehr aus Lebenswelten besteht, die zutiefst von rassistischen und sexistischen, aber eben auch klassistischen Strukturen durchdrungen sind. Wer nicht in einem der priviligierten Viertel – etwa der Südvorstadt oder dem Waldstraßenviertel – wohnt und sich nicht in eine Akademiker:innenblase flüchten kann, der oder die wird in seinem oder ihrem Alltag zwangsläufig mit entsprechenden Sprüchen konfrontiert. Da die Figuren im Roman alle weiß, heterosexuell und politisch nicht gerade links sind, sind sie nur indirekt betroffen und die Motivation, sich dem entgegenzustellen, ist entsprechend gering. Gleichzeitig ist es – und das wird durch den Roman deutlich – sehr bequem, diese zwangsläufige gegenseitige Akzeptanz der Arbeiter:innenschaft zu kritisieren, wenn man selbst am Arbeitsplatz oder in der Universität immer nur einer relativ homogenen Schicht akademisch gebildeter und reflektierter Menschen trifft. Es stellt sich auch die Frage nach den Ressourcen, die für eine kritische Haltung nötig wären. Ob keine:r aus Zustimmung etwas dagegen sagt oder schlicht, weil er oder sie während oder nach einem anstrengenden Arbeitstag einfach zu müde ist, lässt sich nicht immer so leicht auseinanderhalten.

Der Teil der Story, die sich als Coming-of-Age-Geschichte lesen lässt, zeigt eine Entwicklung des Protagonisten vom Elektriker zum Pizzaauslieferer und schließlich zum Bestatter – das offene Ende deutet eine Hinwendung zum privaten Glück an. Kombiniert wird dies mit zwei ineinander verschachtelten Roadtrips – einem Ausflug der drei Freunde in der Jugend und Heikos Fahrt quer durch Deutschland, um Leichen für das Bestattungsunternehmen abzuholen. Müllensiefen erzählt von zwei Reisen, in denen zwar viele Kilometer zurückgelegt werden, die aber zu keiner Entwicklung führen. In diesem Sinne entscheidet sich der Autor gegen eine Geschichte der Emanzipation und Selbstentfaltung und für das Erzählen von denen, über die sich das bildungsbürgerliche Establishment sonst kaum Gedanken macht. Dies ist insofern interessant, als dass auch schon eine andere Absolventin des Leipziger Literaturinstituts – Katja Oskamp in Marzahn, mon amour – von einer anderen Welt erzählt. Beide Autor:innen imaginieren sich jedoch keine Arbeiter:innenidylle, sondern schöpfen aus ihren eigenen Erfahrungen. Während Oskamp sich für einen eher dokumentarischen Stil und das Erzählen der Lebensgeschichten der Bewohner:innen in den Plattenbauten entscheidet, wählt Müllensiefen die Ich-Perspektive für seinen Protagonisten.

Nun müssen sich die Lesenden fragen: Wollen sie wirklich die Welt aus Heikos Augen sehen? Und wie können sie besserwisserischen, klassistischen und paternalistischen Impulsen widerstehen? Figuren wie Juliane zeigen einen Ausweg – sie verbleibt zwar in dem Umfeld, schafft sich aber ihre eigenen Räume. Der Autor – um ganz zum Schluss doch noch auf ihn zurückzukommen – zeigt auch, dass ein Arbeiter auch Literatur studieren, im Nebenjob als Bestatter oder Bauleiter arbeiten und ein ausgezeichnetes sowie jetzt schon als erfolgreich zu bezeichnendes Debut vorlegen kann.

Domenico Müllensiefen: Aus unseren Feuern. Berlin: Kanon Verlag 2022.

Katja Oskamp: Marzahn, mon amour. Berlin: Hanser 2019.