Cover von Patricia Lockwood und Olivia Sudjic

Olivia Sudjics Social-Media-Roman Sympathy und postdigitale Schreibweisen bei Patricia Lockwood

Olivia Sudjics Sympathy (2017) wurde in vielen Besprechungen – sicher nicht zu Unrecht –als „The First Great Instagram Novel“ (Livingstone 2017) angepriesen. Nicht weniger gelobt und bereits vor dem Erscheinen viel diskutiert wurde Patricia Lockwood’s No One Is Talking About This (2021). Der Guardian bewarb das Buch mit der Phrase: „A master of online writing turns her skills to a novel“ (Cummins 2021). Lockwood ist zuvor bereits als Dichterin in Erscheinung getreten. Auf Twitter ist sie ebenfalls sehr präsent (@TriciaLockwood). Sudjic und Lockwood stellen sich der Herausforderung, von der Digitalisierung und von der durch Internet und Smart Phone geprägten Interaktion der Gegenwart in literarischen Texten zu erzählen, auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Während Sudjic die narrativen Möglichkeiten des Romans auslotet, zeichnet sich Lockwoods Schreibweise dadurch aus, dass sie verschiedene „piece[s] of writing“ (Lockwood 2021: 58), die lose durch einen Plot um eine im Internet prominent gewordene Frau zusammengehalten werden, miteinander verknüpft. Ihre Schreibweise wurde zutreffend als „Lockwood‘s infinite scroll“ (McNeil 2021) bezeichnet.

„I sank back, deeper into the parallel universe I had found“

Sudjic beleuchtet in ihrem Roman nicht nur die Spezifik eines bestimmten sozialen Mediums, sondern zeigt auch auf, welche neuen Dynamiken sich durch die Kombination von persönlichen Verbindungen, den Vernetzungen in verschiedenen Apps und den auf sozialen Medien wie Instagram inszenierten persönlichen Profilen ergeben. Diese unterschiedlichen Ebenen werden in der Handlung um die Beziehung zwischen zwei Frauen, der Ich-Erzählerin Alice und der Schriftstellerin Mizuko, enggeführt. Das Erzählverfahren des Textes erinnert an die Funktionsweise sozialer Medien: Verschiedene Ereignisse vom Kennenlernen der beiden Frauen bis zum Zeitpunkt des vollständigen Kontaktabbruchs werden in loser zeitlicher Abfolge erzählt. Damit spiegelt der Text die Wirkungsweise sozialer Medien, deren antichronologischer Zeitstrahl es nur unter Schwierigkeiten zulässt, ein Profil chronologisch in der richtigen Reihenfolge nachzuvollziehen:

„I sank back, deeper into the parallel universe I had found. I’d scrolled back in time three years to Mizuko’s very first picture and was now working my way forwards again so I could follow her footsteps in a more logical sequence rather than randomly clicking on pictures of her.” (Sudjic 2017: 234)

Ich möchte weniger argumentieren, dass Sudjic mit ihrem Narrativ Social Media nachahmt, sondern vielmehr, dass sie bestimmte Aspekte eines Erzählverfahrens der Gegenwart einsetzt, welches auch in den sozialen Medien und anderen kulturellen Produktionen (etwa in Filmen oder Serien) genutzt wird. Die Umsetzung und konkrete Realisierung von zum Beispiel antichronologischen narrativen Strukturen ist jedoch jeweils spezifisch und hängt von der Beschaffenheit des Mediums (visuell, textuell, interaktiv usw.) ab. In Sympathy werden die Ereignisse durch das Ein- und Ausblenden ausgewählter Momente und durch die zeitliche Anordnung mithilfe von Vor- und Rückschauen jeweils unterschiedlich perspektiviert.

Anders als die sozialen Medien, die sich durch interaktive Nutzungsmöglichkeiten auszeichnen, gibt der Roman die zeitliche Abfolge, d.h. eine Chronologie der antichronologisch angeordneten Ereignisse, jedoch vor. Und anders als visuelle Medien, die Ort und Zeit durch bestimmte Bilder evozieren können, nutzen Texte für die raumzeitliche Navigation zumeist die Erzählstimme. Sympathy zeigt aber auch, was die Gattung Roman gerade im Gegensatz zu den fragmentarischen Erzählweisen im Internet leisten kann. So schreibt Dorothee Birke:

„Who knows where the media habits of the ‘millennials’ are tending next and how they will shape future selves and societies? The claim implicit in Sympathy is that for the fullest answer to this question we need to keep reading novels” (Birke 2019: 211). 

„Why were we all writing like this now?”

Dieser ganzheitliche Anspruch – den ein Roman wie Sympathy durch ein Narrativ erfüllt – wird in Patricia Lockwoods No One Is Talking About This durch den Verzicht auf ein konsistentes Narrativ zugunsten des Nacherzählens von Fragmenten aus dem Internet zurückgewiesen. Diese Erzählweise prägt vor allem den ersten Teil des Buches. Darin erzählt Lockwood ohne klassischen Plot, fragmentarisch und teils sarkastisch-anekdotisch, von einer durch Postings im Internet bekannt gewordenen Frau, die im Anschluss an ihren viral gegangenen Post „Can a dog be twins?“ (Lockwood 2021: 13) von ihrer Berühmtheit leben kann. Der Text kombiniert Momentaufnahmen aus ihrem Leben mit Reflektionen über das Internet, die Digitalisierung und die Veränderung des Alltags in Bezug auf Kommunikation, Sozialverhalten und Beziehungen.

„Why were we all writing like this now? Because a new kind of connection had to be made, and blink, synapse, little space-between was the only way to make it. Or because, and this was more frightening, it was the way the portal wrote. […]” (ebd.: 63)

Lockwood deutet hier ironisch die Möglichkeit an, dass das Internet selbst eine spezifische Schreibweise hervorbringt bzw. auf eine bestimmte Art und Weise „schreibt“. Damit bildet ihr Text das Gegenmodell zu Sudjics Roman, in dem versucht wird, aus den neuen Vernetzungs-, Beziehungs- und Kommunikationsmöglichkeiten ein Narrativ zu erzeugen. Lockwood konzentriert sich ganz auf die Unterbrechungen, auf einzelne Fragmente. Sudjics Roman bringt dagegen ein Narrativ, eine Erzählung hervor. Interessanterweise stellt Lockwood den Zusammenhang zwischen ihrer Art des Schreibens, dem Effekt des „page turners“ und der Unvermeidlichkeit eines vorwärtstreibenden Plots auch selbst her:

„That these disconnections were what kept the pages turning, that these blank spaces were what moved the plot forward. The plot! The plot was that she sat motionless in her chair, willing herself to stand up and take the next shower in a series of near-infinite showers, wash all the things that made her herself, all the things that just kept coming, all the things that would just keep coming, until one day they stopped so violently on the sidewalk that the plot tripped over them, stumbled, and lurched forward one more innocent inch.” (ebd.: 63f.)

In der Gegenüberstellung beider Texte wird deutlich, dass der Diskurs der Literatur und die intellektuelle Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen im Medium Buch weiterhin wichtig bleiben. Während sowohl die Schreibweise bzw. die textuellen Verfahren als auch der Inhalt bzw. Plot sich bei Sudjic und Lockwood fundamental unterscheiden, so dienen beide Texte der Auseinandersetzung mit dem digitalen Habitus und dessen Reflexion.

Die Protagonistinnen gehen offline

Im zweiten Teil von No One Is Talking About This behält Lockwood den Erzählstil in kurzen Sinneinheiten bei – die Protagonistin zieht sich nun allerdings aus dem Internet zurück, um einige Monate bei ihrer Familie zu verbringen. Lockwood erzählt im zweiten Teil eines Buches, das im ersten Teil vorwiegend von den Absurditäten des Internets handelt, davon, wie die Protagonistin sich um ihre Schwester und deren neugeborenes Baby kümmert, dem nur wenige Monate Lebenszeit bleiben, weil es mit dem Proteus-Syndrom (einer seltenen genetischen Erkrankung) geboren wurde.

Die beiden Teile des Buches zeigen ganz unterschiedliche Dimensionen der digitalisierten Gegenwart: im ersten Teil das Leben einer Person, die ständig online ist und deren Leben den Lesenden durch ihre Aktivitäten im Netz (sowohl ihre eigenen Beiträge, als auch das, was sie im Internet rezipiert) präsentiert wird, im zweiten Teil dann ein familiäres Schicksal, das zu ihren üblichen Interaktionen und Kommunikationsweisen in den sozialen Medien nicht passt und das sich aus Sicht der Protagonistin in diesem Kontext nur schwer kommunizieren lässt.

Lockwood geht es allerdings nicht darum, den Kontrast zwischen dem Internet und einem vermeintlich „echten“ Leben zu inszenieren oder die Kommunikation in den sozialen Medien als indifferent, ignorant oder irrelevant moralisch abzuwerten. Beides steht bei Lockwood nebeneinander. Während sich Sudjics Sympathy eindeutig dem Genre Roman zuordnen lässt, erweist sich Lockwoods Text in dieser Hinsicht als nicht kategorisierbar – für einen Roman oder eine Erzählung fehlt eine konsistente Handlung, aber auch die Entwicklung von Charakteren; der zweite Teil, der sich eher als Essay, Autofiktion oder Memoir einordnen ließe (und der auch autobiografische Bezüge hat, vgl. McNeil 2021), sperrt sich gegen die letztgenannten Zuordnungen wiederum durch die durchgehende Verwendung der dritten Person.

Während Sudjic eine Synthese aus den Online- und Offline-Handlungen ihrer Charaktere entwickelt, lässt Lockwood die Frage offen, wie die beiden Teile des Buches bzw. die unterschiedlichen Erfahrungswelten der Protagonistin zueinander passen. Im zweiten Teil ist jedenfalls wenig Platz für die ironischen Feinheiten der Kommunikation im Netz. Sowohl bei Sudjic als auch bei Lockwood sind das Krankenhaus und der Tod einer nahestehenden Person diejenigen Sphären, an denen die Protagonistinnen von ihren Endgeräten abgeschnitten sind bzw. in denen diese irrelevant werden.

Als die Protagonistin in Sympathy ihre Großmutter Silvia ins Krankenhaus bringt und dort auf die Untersuchungsergebnisse wartet, geht ihr Smartphone aus. Sie schreibt Dwight an, um mit ihren Gefühlen nicht allein zu sein: „Then my phone died just after I sent the message, so no comfort could come from it anyway.” (Sudjic 2017: 150). An dieser Textstelle wird auch deutlich, dass das Mobiltelefon nicht nur der Kommunikation, sondern auch der Gefühlsregulation dient.  

Der Text ist ein Auszug aus dem folgenden Aufsatz: Diana Hitzke: „Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur.“ Andreas Langenohl, Katrin Lehnen und Nicole Zillien (Hg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt/New York: Campus 2021, 243-267.

Literatur

Birke, Dorothee (2019), „New Media Narratives: Olivia Sudjic’s Sympathy and Identity in the Digital Age“, in: Astrid Erll u. Roy Sommer (Hg.), Narrative in Culture, Berlin/Boston, S. 199-214, https://doi.org/10.1515/9783110654370-012.

Cummins, Anthony (2021), “A Certain Ratio”, in: The Guardian Weekly, 19.02.2021.

Lockwood, Patricia (2021), No One Is Talking About This, London.

McNeil, Joanne (2021), “Can a Dog Be Twins. Patricia Lockwood‘s infinite scroll”, in: Vulture, 12.02.2021, letzter Zugriff: 22.03.2021, https://www.vulture.com/news/can-a-dog-be-twins%3F/.

Sudjic, Olivia (2017), Sympathy, London.

Sommerlicher Bücherkauf bei Rotorbooks in Leipzig

Rotorbooks, Gegenwartsliteratur und die (vergangene?) Zeit der Theorie

Der Buchladen Rotorbooks befindet sich in der Leipziger Kolonnadenstraße inmitten sogenannter Altstadt-Plattenbauten, es gibt ein schönes Café nebenan, der Buchladen lockt mit großen Schaufenstern und besten Büchern jenseits des Massengeschmacks. Im Hinterraum des Buchladens befindet sich der Merve-Verlag, draußen vor den Schaufenstern gibt es große Fensterbretter, auf denen sich sitzen und Kaffee trinken lässt. Im Café, das hauptsächlich von jüngeren Menschen besucht wird, werden ein Tagesgericht und leckere Torten serviert. Ins Auge fallen Grünpflanzen, die sich an den Häusern im Plattenbaustil entlang schlängeln und eine Atmosphäre schaffen, die zweierlei zusammenbringt: eine eigentlich verbrauchte Ästhetik, die sich anders als etwa die schönen Industriegebäude der Baumwollspinnerei oder die weiten Flächen und Gebäude in Plagwitz nicht wirklich stilvoll umdeuten lässt, hier jedoch ein kreatives Eigenleben führt, und den Buchladen, der hier angesagteste Literatur und Theorie zusammenbringt. Es ergibt sich ein Bild, das etwas über die Literatur und Theorie der Gegenwart erzählt.

Von draußen kommend bleibt der Anblick der gemütlich im Café sitzenden Studierenden hängen. Es scheint immer noch genug Menschen zu geben, die tagsüber Zeit haben, um im Café zu sitzen und zu lesen oder über Literatur zu sprechen; fast drängt sich das Gefühl auf, dass hier ein Ort ist, an dem Bücher unhinterfragt Bedeutung haben. Der Laden selbst besteht aus zwei Teilen, gegliedert durch die großen Fenster, in der Mitte die Tür, rechts ein Tisch (und natürlich auch Regale drum herum) mit Gegenwartsliteratur, mitsamt einer kleinen Ecke am Fenster für Kinderbücher, links die Theorieabteilung. Hinten die Kasse, die Kaffeemaschine, die Verlagsräume. Die Literaturabteilung ist ausgezeichnet, ich berichte weiter unten von meiner kleinen Auswahl.  

Angesichts des Bestands der Theorieabteilung drängt sich die Frage auf, was eigentlich in den letzten Jahren aus DER Theorie geworden ist. War der Merve-Verlag seinerzeit Metapher und Metonymie für die Theorie – einer meiner Kommiliton:innen lief immer mit einem Merve-Band unter dem Arm herum, jeden Tag eine andere Farbe, ein anderes Theorie-Problem – stellt sich mit fortschreitender Akzeptanz und Sichtbarkeit einer diversen, multiperspektivischen Gesellschaft immer stärker die Frage danach, was Theorie eigentlich noch leisten kann, welcher Begriff von Theorie überhaupt noch zeitgemäß ist, ja, ob sie sich überhaupt als solche noch legitimieren lässt, wenn jedes Denkgebäude in seiner jeweiligen Situiertheit angemessen erfasst und kontextualisiert wird. Welchen Sinn macht es noch, von Theorie zu sprechen, wenn es nicht mehr DIE Theorie, sondern zum Beispiel eine feministische, eine migrantische und eine alte-weiße-Männer-Theorie gibt (wobei letztere sich [von wenigen Ausnahmen abgesehen] ganz selbstverständlich herausnimmt, universal und neutral zu sein, nicht von einem spezifischen Ort aus, sondern generell für alle zu sprechen, und damit den Anspruch legitimiert, DIE Theorie zu repräsentieren)?

Diese Frage ist sicherlich nicht neu, stellt sich aber insbesondere in Bezug auf die großen Player Merve und Suhrkamp, bei denen DIE Theorie fast immer in vermeintlich neutralem Gewand daherkam, aber fast immer [bzw. sehr oft, meistens, gefühlt immer – falls jemandem jetzt wieder die berühmten Gegenbeispiele einfallen] weiß, europäisch und männlich war. Wenn die eigene Position von Denker:innen im System sichtbar gemacht wird, dann handelt es sich fast immer um feministische, marxistische oder postkoloniale Denker:innen, dann aber leider oft zu dem Preis, dass sie bereits als solche markiert im Diskurs erscheinen und sich daher nur schwer als DIE Theorie bezeichnen lassen, sondern von vornherein als Verfechter:innen von Spezialinteressen erscheinen. Das Ende des Merve-Verlags (und weniger den Neuanfang in der Kolonnadenstraße, wo er sich jetzt eben befindet) hat Philipp Felsch in Der Sommer der Theorie beschrieben. Zur Geschichte der Theorie bei Suhrkamp erscheint bald ein Buch von Morten Paul, dessen (vorläufiger) Titel Suhrkamp Theorie. Eine Buchreihe im philosophischen Nachkrieg lautet.

Vor diesem Hintergrund bzw. ganz konkret mit dem Theorieangebot bei Rotorboks zur linken Seite, drängt sich der Gedanke auf, dass die Literatur – mit ihrem Raum für das Individuelle, das Subjektive und angesichts der zunehmenden Begeisterung für Autofiktion – viel besser zur polyphonen, migrantischen und queeren Gegenwart passt, als DIE Theorie (ja, klar, viel zu pauschal, guter Einwand, bleibe aber trotzdem dabei).

Daher folgt jetzt ein Unboxing des sommerlichen Bücherkaufs bei Rotorbooks in Leipzig (Anmerkung für die Kenner:innen der sogenannten Netzkultur: vielleicht wäre Haul hierfür der bessere Begriff; beides wird zudem üblicherweise im Videoformat und nicht in einer Bild-Text-Kombination betrieben und legt genau genommen auch den Konsumbegriff zugrunde, den ich auf die Literatur eigentlich nicht so gern anwenden möchte).     

Unboxing: Bücherkauf bei Rotorbooks

Jenny Hval: Perlenbrauerei. Aus dem Norwegischen von Rahel Schöppenthau und Anna Schiemangk. Berlin: März 2022.

Ein auf gute Art und Weise verstörendes Buch. Die Protagonistin macht einen Auslandsaufenthalt in Australien, lebt dort in einem coolen, aber auch merkwürdigen Gebäude mit durchsichtigen Wänden. Die Beschreibungen changieren zwischen eigenartigen Erlebnissen und einer spezifisch selbstzerstörerischen Wahrnehmung der Protagonistin. Ihre Mitbewohnerin stellt die Grenzen zwischen Nähe und Distanz permanent in Frage und weitet sie nach und nach aus. Erzählt wird von neuen Freundinnen, Einsamkeit, Sex, Partys und schließlich von einem Auszug. Die Autorin, Jenny Hval, hat Kreatives Schreiben und Performance studiert und als Sängerin einige Alben herausgebracht; das Buch ist eine Mischung aus Noise Rock und Literatur.

Jennifer Clement: Auf der Zunge. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Berlin: Suhrkamp 2022.

Eine Frau hat die Scheidung von ihrem Mann besiegelt, wir erfahren weder, was zur Trennung geführt hat noch viel von dem gemeinsam gelebten Leben. Beschrieben wird ein Schwebezustand, ein Zwischenbereich, der die Zeit nach dem Vollzug der Trennung, aber noch vor einem Neubeginn auszeichnet. Allein läuft die Frau durch die Straßen New Yorks. Sie begegnet verschiedenen Männern – u.a. einem Dichter, einem Polizisten, einem Wissenschaftler und einem Musiker. Die Begegnungen ereignen sich zufällig, werden aber dennoch mit großer Bedeutsamkeit aufgeladen. Die Frau spricht mit ihnen, küsst sie manchmal, kommt ihnen auf eigenwillige Art und Weise näher. Ihr Erleben und ihre Wahrnehmung sind gezeichnet von der Abwesenheit ihrer Ehe und dem Unbehagen des Neuanfangs.

Simone de Beauvoir: Die Unzertrennlichen. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Hamburg: Rowohlt 2022.

Hätte Jean-Paul Sartre ihr nicht davon abgeraten, den Roman zu veröffentlichen, da er zu intim sei, gäbe es diesen Sommer nicht eine Neuentdeckung von Simone de Beauvoir auf den Büchertischen. Im französichen Original posthum im Jahr 2020 veröffentlich, fast 70 Jahre nach der Niederschrift in der Zeit zwischen 1954 und 1958, erzählt der autofiktive Roman von der Kindheitsfreundin der feministischen Schriftstellerin und damit auch von ihrer eigenen Kindheit – inmitten und zugleich am Rande der Bourgeoisie. Während die Familie der Freundin sehr viel Geld hat, muss bei den Beauvoirs die Mutter die Hausarbeit bald wieder selbst machen. Die Mädchen lernen zusammen, führen anregende Gespräche, spazieren durch Paris. Als die Freundin sich in einen gemeinsamen Freund verliebt – hinter der Romanfigur verbirgt sich Maurice Merleau-Ponty – wird es zunehmend dramatisch. 

Bernardine Evaristo: Manifesto. On Never Giving Up. London: Hamish Hamilton 2021.

Manifesto liest sich wie eine lange Antwort auf die ebenso müßige wie nicht tot zu kriegende Frage nach dem „echten“ Leben von Autor:innen. Lässt man jedoch den Eindruck hinter sich, dass Evaristo die relativ chronologisch und im Stil einer konventionellen Autobiografie beschriebenen Erfahrungen, Beziehungen und Ereignisse viel poetischer in Girl, Woman, Other verarbeitet hat, bleibt Manifesto. On Never Giving Up eine ziemlich beeindruckende Aufsteiger:innengeschichte, die davon handelt, welche Opfer Bernardine Evaristo bringen musste, um dem Schreiben die Priorität einzuräumen und den unvermeidlich prekären Weg einer nicht-priviligierten Schwarzen Frau zum Booker Prize zu gehen. Der Fokus liegt auch auf den vielen Wendepunkten, an denen Aufgeben der naheliegende Schritt gewesen wäre.

Volha Hapeyeva: Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils. Berlin: Verbrecher Verlag 2022.

Volha Hapeyeva ist eine beeindruckende Stimme inmitten der aus guten Gründen fast dauerpräsenten Beschäftigung der Literatur mit dem Exil, der Migration und der Flucht. Sie legt klar, analytisch, aber auch mit dem Bestehen auf der Bedeutung der Poesie, dar, wie eng verflochten die Mechanismen staatlicher repressiver Systeme mit den Funktionsweisen des Patriarchats sind. Sie ebnet damit einen Weg zur Solidarisierung derjenigen, die überall auf der Welt unter Patriarchat und Gewalt leiden, mit den Künstler:innen, die in politisch repressiven Systemen unter Bedrohung ihres Lebens oder auch aus den Gefängnissen heraus tätig sind und über die politischen Verhältnisse, die sie zum Verstummen bringen wollen, sprechen und dagegen aufbegehren.

Natasha Brown: Assembly. London: Hamish Hamilton 2021.

Das Cover von Natasha Browns Assembly zeigt eine Einfahrt zu einer Villa mit Garten, farblich ist es rot-grün-blau bearbeitet

In Assembly erzählt Natasha Brown eine Aufstiegsgeschichte, die von Rassismus, Klassismus und Sexismus geprägt ist. Ihre Geschichte setzt allerings dort an, wo die anderen meist aufhören – und zwar an dem Punkt, an dem die Protagonistin in der gehobenen Gesellschaft angekommen ist und sich mit Job- und Partnerwahl einen sogenannten erstrebenswerten Status erarbeitet hat. Zu welchem Preis? Anders als bei Evaristo (s.o.), die vor allem von den Opfern (instabile und prekäre Lebensverhältnisse) erzählt, die sie erbringen musste, um ihren Traum vom Schreiben zu verwirklichen, geht es bei Brown um den Preis, den Marginalisierte zahlen, wenn sie dazugehören. Die sexistischen, klassistischen und rassistischen Alltagsbegebenheiten hören nicht auf und kommen fortan aus dem inneren Kreis.