Das Bild zeigt das Cover von Dincer Gücyeters Unser Deutschlandmärchen, abgebildet sind ein kleiner Junge und seine Mutter

Unser Deutschlandmärchen – der Debütroman des dichtenden Gabelstaplerfahrers und Verlegers Dinçer Güçyeter

Unser Deutschlandmärchen ist der von einigen schon lang erwartete Roman von Dinçer Güçyeter, dem Verleger und Teilzeit-Gabelstaplerfahrer aus Nettetal, der bereits mit dem Elif-Verlag und als Dichter auf sich aufmerksam gemacht hat. Er nimmt Teil an einer in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur neu aufflammenden Auseinandersetzung mit dem Verhältnis nicht nur von (Lohn-)Arbeit und Schreiben, sondern auch mit den als immer noch in Widerspruch zueinander stehenden Berufen von Arbeiter:innen und Schriftsteller:innen. Anders als bei den bekannten französischen Autor:innen, die für dieses Thema stehen, so etwa Édouard Louis oder die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, geht es in der neuen deutschen Arbeiter:innenliteratur allerdings nicht darum, sich aus dem bildungsfernen Milieu, dem vermeintlichen Sumpf, der aus Ausbeutung und körperlicher Erschöpfung besteht, herauszuschreiben, um dieses aus guten Gründen zurückgelassene Umfeld dann entweder in herablassender Distanz oder empathischer Rückschau literarisch oder biografisch zu erkunden.

Dinçer Güçyeter oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen, Domenico Müllensiefen, beschreiben eine Welt, die aus Anweisungen, Alkohol, Sexismus, Machtlosigkeit und Unterdrückung, natürlich aber auch aus Spaß und Gemeinschaftsgefühl, weitaus häufiger jedoch aus Arbeitsunfällen, Krankheit und Ignoranz besteht. Die Protagonist:innen stehen mittendrin in dieser Welt, der Elektriker bei Müllensiefen muss in der Lehre lernen, den Vormittag mit einem Bier zu beginnen und sexistische Witze zu machen, die Ausbildung zum Werkzeugmacher bei Dinçer Güçyeter zwingt seinen gleichnamigen Protagonisten dazu, dem dort üblichen harten Umgang miteinander einen Ausdruck für die zarten Seiten seiner Persönlichkeit abzuringen, die in der Werkhalle keinen Platz zu haben scheinen.

Dinçer Güçyeter ist als Dichter und Verleger des Elfi-Verlags bekannt geworden, sein Alleinstellungsmerkmal ist das Gabelstapelfahren in Teilzeit (er beschreibt dies in dem Band Brotjobs & Literatur) – damit ist er von Anfang an als Arbeiter in Erscheinung getreten. Es hat den Anschein, dass er sich gar nicht erst damit aufhält, den in der Literatur bereits durchexerzierten Weg zu beschreiten, der oft mit dem Verschweigen der eigenen Herkunft beginnt und oft erst nach dem erfolgreichen Ankommen im Bildungsbürger:innentum zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen, oft schambesetzten Aufstiegsgeschichte führt. Im Gegenteil, ähnlich selbstbewusst wie Christian Baron oder der bereits erwähnte Domenico Müllensiefen bricht Güçyeter mit der Übereinkunft, dass die körperliche Arbeit im Literaturbetrieb nichts zu suchen hat, es sei denn als literarisches Motiv.

Dinçer Güçyeter versteift sich aber auch nicht auf den Arbeiter:innenstolz, der bei anderen Autor:innen, die sich diesem Thema widmen, immer wieder durchscheint. Er widersteht der Versuchung, die Arbeit in der Fabrik romantisch zu verklären oder sie gar den zarten Gesprächsrunden, sauberen Denkbewegungen und während künstlerischer Residenzen bei freier Kost und Logis ausgelebten Schreibblockaden der Intellektuellen als vermeintlich authentischere Form des Broterwerbs vorzuziehen. Dinçer Güçyeter verschweigt auch nicht, dass das Gabelstaplerfahren notwendig ist, um den Verlag zu finanzieren, in dem er Gedichte verlegt.

Worum geht es nun in Unser Deutschlandmärchen, Güçyeters Debütroman, den der Mikrotext-Verlag damit anpreist, dass er nichts auslässt? In einer Mischung aus Familiengeschichte und Coming-of-Age-Roman wird von der Arbeit in der Fabrik, auf dem Feld und in der Familie erzählt, von türkischen Dörfern, traditionellen Geschlechterordnungen und der deutschen wie auch der türkischen (sozusagen gesellschaftsübergreifenden) Doppelmoral. Es geht um ein Leben in Lobberich als Teil einer Gemeinschaft von Migrant:innen und Arbeiter:innen, als Teil einer Familie, die zum Arbeiten nach Deutschland gekommen ist und sich im Sommer in einem Dorf in der Türkei versammelt. Den Kern der kurzen (mit der Genrebezeichnung Roman unnötig überfrachteten) Geschichten, Fragmente und Gedichte, die abwechselnd aus der Perspektive von Mutter und Sohn erzählt werden, bilden die Auseinandersetzung mit den Erwartungen der Familie und Gesellschaft sowie das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Erzählt wird von Scham, vom Alltag im Arbeiter:innenmillieu, von Geld und Armut, toxischer Männlichkeit und überkommenen Rollenbildern, von Traditionen und Ausschlussmechanismen. Nicht unwichtig ist die Frage, welchen Raum Theater, Literatur und Kunst in einer solchen Welt haben können.

Zugleich verschränkt sich die Perspektive der Arbeiter:innen mit der migrantischen und – was ziemlich bemerkenswert ist – mit der weiblichen Sicht, der Stimme von Fatma, Dinçers Mutter, die nicht nur unermüdlich arbeitet, um die Familie zu ernähren, sondern sich auch um Mann und Kinder, darüber hinaus auch um die erweiterte Familie und Nachbarschaft kümmert. Güçyeter springt auf den Zug der Autofiktion auf – private Familienbilder zeugen relativ ungebrochen von der Authentizität seiner Geschichte. Es ist ein feministischer, migrantischer und ein Arbeiter:innenroman zugleich. Einen weiteren Reiz des Textes macht die Distanz aus, die ein Gegengewicht zur Authentizitätsbehauptung bildet – alle Kapitel durchzieht ein Abstand zu den verschiedenen Milieus und ihren Diskursen. Dinçer Güçyeter hütet sich vor Idealisierung – und hält dies in alle Richtungen konsequent ein.

Eine Textstelle beschreibt, wie der Ort Lübberich täglich um 14 Uhr vom Schichtwechsel in den Fabriken geprägt war. Die Arbeiter:innen strömten in großen Massen aus und in die Fabriken, dafür nutzten sie die breite Straße, die durch den Park führte. Von dort aus blickten sie auf ein Restaurant, in dem die Bürger:innen der Stadt zu Mittag aßen.

Während die Bankiers, die Kaufmänner der Stadt, auf der Terrasse der Ingenhoven-Burg ihr Rotbarschfilet mit zwei gekochten Kartoffeln, dekoriert mit Schnittlauch, in Speiseglocken serviert bekamen, liefen die Arbeiter mit hängenden Schultern am Efeuzaun vorbei. Viele von ihnen standen immer wieder vor der Speisekarte am Burgtor und schüttelten angesichts der Preise mit dem Kopf. Mit dem Geld für ein Fischfilet mit zwei gekochten Kartoffeln könnte man bei Aldi einen ganzen Einkaufswagen füllen.

Dincer Gücyeter: Unser Deutschlandmärchen. Mikrotext Verlag, Berlin 2022, 154

Es hat den Anschein, als hätte Dinçer Güçyeter eine ähnliche Distanz zum idealisierten Literaturbetrieb, der sich immer noch nicht wirklich von der Genieästhetik verabschiedet hat und weiter am Ideal des nicht arbeitenden Schriftstellers festhält (siehe dazu die Texte verschiedener Autor:innen in Brotjobs & Literatur). Statt sich darüber aufzuregen, schüttelt er lieber den Kopf über den Preis, den er dafür zahlen müsste und schreibt über das, was ihn interessiert.

Damals bis heute war und ist mir bewusst, dass meine Texte in akademischen Kreisen kein Echo finden werden, sie werden Fetzen eines lyrischen Ichs bleiben. […] Nichts kommt auf das Blatt, was auf meiner Haut keine Spuren hinterlassen hat.

Dincer Gücyeter: Unser Deutschlandmärchen. Mikrotext Verlag, Berlin 2022, 191

Damit, dass Dinçer Güçyeters Texte kein Echo in akademischen Kreisen finden werden, täuscht er sich aber ganz sicher.

Dincer Gücyeter: Unser Deutschlandmärchen. Mikrotext Verlag, Berlin 2022