Riku Onda: Die Aosawa-Morde – ein ungewöhnlicher Kriminalroman aus Japan

von Diana Hitzke

Die Aosawa-Morde erzählen von einem Verbrechen. Im Vordergrund des Buches steht jedoch nicht so sehr dessen Aufklärung, es ist auch kein Spannungsbogen im konventionellen Sinne zu finden. Im Gegenteil, statt Spannung evoziert der Roman eher eine ungewöhnlich ruhige Stimmung – im ersten Kapitel gehen wir mit einer Frau in einer Stadt am Meer spazieren:

Als ich in die Kantō-Region gezogen bin, war ich überrascht zu merken, dass der Wind da vom Land zum Meer hin bläst.

Dort an der Küste wirkt das Meer nicht so erdrückend, und selbst wenn man näher rangeht, spürt man es kaum. Die Hitze und Gerüche des Landes fliehen raus aufs Meer. Die Städte sind zum Meer hin offen. Und der Horizont ist in weiter Ferne, wie ein gerahmtes Bild.

Aber das Meer hier ist überhaupt nicht erfrischend. Wenn man es betrachtet, fühlt man sich weder frei noch erleichtert. Und der Horizont ist immer nah, als würde er nach einer Gelegenheit suchen, sich dem Land aufzuzwingen. Es fühlt sich an, als würde man beobachtet und als würde das Meer sich über einem ergießen, wenn man es wagte, nur einen Moment lang wegzublicken. Verstehen Sie?

Riku Onda: Die Aosawa-Morde. Zürich: Atrium Verlag 2022, S. 13f.

Wir erfahren, dass die Frau vor vielen Jahren, als sie noch Studentin war, einen Roman über die Ereignisse geschrieben hat, die auch im Mittelpunkt dieses Buches stehen. Eine nicht ganz eindeutige, wohl aber angedeutete mis-en-abyme-Szene führt somit in das Buch ein.

Das Ereignis, um das es geht, ist schnell zusammengefasst, wird aber, wie sich beim Lesen des Buches herausstellen wird, aus unterschiedlichen Perspektiven und zu unterschiedlichen Zeitpunkten ganz anders wahrgenommen. Es sieht zunächst danach aus, als handelte das Buch davon, was wirklich geschehen ist – aber diese Leseerwartung an das Krimigenre wird auf eine überraschende Art und Weise enttäuscht. Die verschiedenen Sichtweisen auf die Ereignisse und Personen sowie die daraus resultierende abweichende Konstruktion dessen, was geschehen ist, macht den Roman aus – nicht so sehr die Suche nach dem:der Mörder:in oder nach der Rekonstruktion des Geschehens.

Im Haus einer angesehen Arztfamilie, den Aosawas, wurde ein dreifacher Geburtstag gefeiert – von solchen Ungewöhnlichkeiten und Zufällen wimmelt das Buch, ohne jedoch klischeehaft zu wirken. Die Großmutter, ihr Sohn, der angesehene Arzt, und ihr Enkelkind haben am selben Tag Geburtstag. Es wird sehr groß gefeiert, neben den eingeladenen Gästen kommen den ganzen Tag über immer wieder Kolleg:innen und Nachbar:innen vorbei. An diesem außergewöhnliche Tag wird die Familie zum Opfer eines Giftanschlags – eine Getränkelieferung, die als Geschenk ins Haus gebracht wird, ist die Ursache. Die angelieferten Getränke – Sake und Softgetränke – werden von den Familienangehörigen und anwesenden Gästen sogleich getrunken, sie stoßen miteinander an und schon kurz darauf winden sich alle vor Schmerzen. Alle Anwesenden bis auf zwei Personen – die blinde Tochter des Arztes und eine Hausangestellte – überleben den Angriff nicht.

Die Aufklärung des Falls nimmt einige Zeit in Anspruch, irgendwann wird ein Schuldiger gefunden, es bleiben jedoch Zweifel. Die Autorin des Buches über die Ereignisse, die anfangs zu Wort kommt, war zum Zeitpunkt des Giftmords noch ein Kind. Als Studentin widmet sie ihre Abschlussarbeit dem Fall – und führt mit verschiedenen beteiligten Personen Interviews, woraus schließlich das Buch wird, welches sich zum Bestseller entwickelt. Jahre später wird der Fall nun neu aufgerollt, von wem und aus welchem Grund bleibt unklar. Die Erzählperspektiven im Buch wechseln hin und her, sowohl die Autorin als auch einer ihrer Kommilitonen, der ihr damals bei den Interviews geholfen hat, kommen zu Wort, aber auch andere Personen, so etwa der damals ermittelnde Polizist, einige Verdächtige, die Lektorin des Buches, vermeintlich Unbeteiligte. Bis zum Schluss bleibt unklar, aus welcher Perspektive das Buch eigentlich geschrieben ist und wer hinter den neuen Interviews und Schilderungen steht.  

Riku Onda gelingt es, mit jeder neuen Person, die von den Ereignissen, aber meist auch von ihrem Leben erzählt, eine eigene Atmosphäre zu erschaffen. Damit schafft die Autorin eine Erzählinstanz, die der Studentin gleicht, die damals den Roman über die Ereignisse geschrieben hat. Diese stellte sich bei ihren Recherchen auf jede Person neu ein und behandelte ihre Interviewpartner:innen jeweils ganz unterschiedlich, auch sie selbst verhielt sich dabei stets ganz anders, so erzählt es der Freund, der ihr damals geholfen hat.

Ich stellte mir damals vor, dass sie sachliche Fragen stellen würde, völlig rational und distanziert.

Aber so war sie ganz und gar nicht. Sie präsentierte sich je nachdem, mit wem sie sprach, völlig anders.

Ich kann es nicht richtig ausdrücken, aber es war, als ob sie zu der Art von Interviewerin würde, die die andere Person sich wünschte.

Sie passte sich sofort an ihren Gesprächspartner an und änderte einfach so ihre Persönlichkeit. Sogar ihre Mimik und ihr Wortschatz änderten sich. In der einen Situation war sie eine schüchterne, naive Studentin, in der nächsten freimütig und gewitzt. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich gut ist oder nicht, wenn ein Interviewer so agiert …

Riku Onda: Die Aosawa-Morde. Zürich: Atrium Verlag 2022, S. 60.

Es geht um ein Ereignis, es geht aber vielmehr um die ungewöhnlichen Personen, von denen das Buch erzählt und über deren Perspektive es jeweils ganz unterschiedlich berichtet. Es beginnt mit der Frau, die vor längerer Zeit ein sehr erfolgreiches Buch geschrieben hat und danach mit dem Schreiben aufgehört hat, um ein ruhiges Familienleben zu führen. Es gibt einen Mann, der sich in seiner gesamten Schulzeit auf eine Angestelltenkarriere vorbereitet hat, um dann festzustellen, dass er eine solche Arbeit aus Gründen, die ihm selbst nicht klar werden, niemals wird ausüben können. Ein Mönch versucht, seinem Leben einen Sinn zu geben. Ein alleinstehender Mann, der darüber hinaus auch arbeitsunfähig ist, wird von den Nachbarn geächtet. Die einzige Überlebende der Arztfamilie, die blinde Tochter, lebt mittlerweile in Übersee und kann nach einer Operation wieder sehen.  

Darüber hinaus schlägt Riku Onda auch sozialkritische Töne an. Zwischen der angesehen Arztfamilie und all den unsichtbaren Menschen, deren Leben sich völlig unbemerkt von der Familie in unmittelbarer Nähe, in der Nachbarschaft oder auch in weiterer Ferne abspielen, wird ein großer Abstand gezeichnet. Eine der Figuren berichtet von der kindlichen Angst, dass man immer davon ausgehen muss, dass Getränke oder Speisen vergiftet sein könnten.

Heutzutage hört man von vielen Fällen von Essens- und Getränkemanipulationen. Man weiß nie, was die Leute vorhaben. Selbst in der Büroküche. Man weiß nie, wer einen nicht mag und ob irgendwo ein Verrückter lauert.

Männer sind besonders gefährdet. Sie sind seit ihrer Kindheit so daran gewöhnt, dass ihre Mütter alles für sie tun, dass sie sich der Illusion hingeben, Getränke würden einfach so vor ihnen auftauchen, wann immer sie wollen. Die merken nicht, dass alles, was sie in den Mund nehmen, zuvor durch die Hände von einer Menge Menschen gegangen ist. Naja, aber heutzutage sind Frauen vielleicht genauso anfällig.

Ich habe beruflich manchmal mit ausländischen Führungskräften zu tun, und ich kann Ihnen sagen, diese Leute sind von unsichtbaren Dienern umgeben. Sie denken nicht zweimal darüber nach […]. Königen ist es nicht peinlich, von den Leuten, die sie bedienen, nackt gesehen zu werden. Und genau so ist das für die. Für die sind das unsichtbare Menschen.

Riku Onda: Die Aosawa-Morde. Zürich: Atrium Verlag 2022, S. 161f.

Die Aosowa-Morde erzählt nicht nur aus multiplen Perspektiven von einem Ereignis, das ganz unterschiedliche Personen miteinander verbindet, sondern auch davon, wie wenig bekannt den meisten Menschen ihre unmittelbare Nachbarschaft ist. Auf mehreren Ebenen spielt Riku Onda darauf an, dass die Motivation von Menschen bis zu einem gewissen Punkt immer unklar bleibt und sich der Nachvollziehbarkeit entzieht. Auch wenn die meisten Personen bereit sind, über das Ereignis und ihre Rolle darin zu erzählen – manchmal in erstaunlicher Offenheit – so bleiben für viele auch die eigenen Gründe für das damalige Handeln unerklärbar.      

Riku Onda: Die Aosawa-Morde. Zürich: Atrium Verlag 2022, aus dem Japanischen von Nora Bartels.