Brigitte Reimann – Die Geschwister

Die Geschwister

Durch die Neuausgabe von Die Geschwister ist Brigitte Reimann wieder zum Thema geworden, auch durch die Biografie von Carolin Würfel (Drei Frauen träumten vom Sozialismus. Maxie Wander – Brigitte Reimann – Christa Wolf. Berlin: Hanser Berlin 2022) erfährt die Autorin neue Resonanz. Bei Arbeiten an einem Haus in Hoyerswerda wurde ein Heft der handschriftlichen Urfassung von Die Geschwister gefunden. Der Aufbau-Verlag brachte auf dieser Grundlage eine „ungekürzt[e], politisch ungeschönt[e] Fassung“ heraus. Wenn das Nachwort etwas genauer betrachtet wird, lässt sich leider nicht mehr so leicht rekonstruieren, um welche Version es sich bei der Neuveröffentlichung nun eigentlich handelt – um die von Reimann ursprünglich intendierte Erzählung (vor den Veränderungen durch Verlag und DDR-Ministerium für die Publikation) oder um die nachträglich von Reimann selbst redigierte Version, als sie sich politisch bereits anders positioniert hatte. Im Buch heißt es:

Rückgängig gemacht wurden alle Streichungen bzw. Änderungen, die erkennen lassen, dass politisch Missliebiges geglättet oder der frische Erzählton Reimanns nach damaliger Mode ‚literarisiert‘ werden sollte […]. Die nachträglichen Korrekturen der Autorin von 1969 finden grundsätzlich Berücksichtigung […].

Brigitte Reimann, Die Geschwister, Berlin: Aufbau 2023, Zu dieser Ausgabe, S. 212.

Auch wenn es sich hier um keine kommentierte Studienausgabe handelt, wäre durchaus schön gewesen, zu erfahren, welche Stellen ursprünglich anders gemeint waren und welche nachträglich korrigiert worden sind. Es handelt sich demnach um eine Fassung, die irgendwo zwischen dem liegt, was Reimann im Sinn hatte, als sie das Buch schrieb und dem, was sie zu einem Zeitpunkt, als sie „politisch endgültig desillusioniert“ war und „eine andere, eine differenziertere Sicht auf die DDR gewonnen“ (ebd. 207) hatte, gern aus dem Buch gemacht hätte. Dadurch verliert sich in der Lektüre die Distanz, mit der sich DDR-Literatur sonst wohlwollend lesen lässt – es lässt sich nicht (mehr) einfach annehmen, dass die Autorin das, was sie wirklich schreiben wollte, nicht schreiben durfte oder konnte. Der Text kann vor diesem Hintergrund nicht mehr als Kompromiss gelesen werden, sondern muss beim Wort genommen werden. Dies wird den Lesenden allerdings durch die Entscheidung des Verlags, nicht zu kennzeichnen, welche Korrekturen genau vorgenommen wurden, wiederum erschwert. Reimanns Text wird in dieser Neuausgabe so präsentiert, als ließe er sich kontextlos als eine Geschichte über zwei Geschwister, die sich über das richtige politische System streiten, lesen.

Das im Nachwort stehende Lob, das Buch sei „eine zeitlose Geschichte über Zugehörigkeit und Individualität, über Loyalität und Mut, für die eigene Vorstellung von Freiheit und Glück einzustehen“, ist völlig absurd, wenn es vor dem Hintergrund ausgesprochen wird, dass in dieser Fassung lediglich kleinere Spitzen Reimanns, die herausgestrichen worden sind (so etwa die „männermordende Taille“ auf S. 66), nun wieder im Text stehen dürfen oder wenn gesagt wird, dass die Schwester in dieser Fassung nun mehr Zweifel äußern darf als in der offiziellen. Zweifellos lohnt sich die Lektüre von Brigitte Reimanns Texten auch heute noch aus verschiedenen Gründen, auf die ich weiter unten gern eingehen möchte, dennoch ist es erstaunlich, wie heutzutage ein Buch abgefeiert wird, in dem es darum geht, dass eine Schwester ihren geliebten Bruder Uli (und eben nicht nur den anderen Bruder Konrad, der völlig negativ als oberflächlicher Kapitalist gezeichnet wird) dafür verurteilt, dass er in den Westen gehen möchte.

Gerade in dieser Fassung, die laut Verlag die von Reimann intendierte Wirkung entfaltet, wirkt es umso grotesker, dass Elisabeth die Tatsache, dass der DDR-Staat ihrem Bruder die Ausbildung bezahlt hat oder dass es solche Fachkräfte wie ihn zum Aufbau des sozialistischen Staates braucht, über dessen persönliche Wünsche stellt und dass sie für ihre Ideale die bis dahin liebevolle Beziehung zu ihrem Bruder opfert, dass sie erwägt, ihn nicht nur zu verraten, sondern sogar anzuzeigen. Dadurch, dass sich Elisabeth im achten Kapitel als mutige Kämpferin gegen die Partei und die etablierten Kollegen inszeniert, wird innerhalb der Erzählung der Eindruck erzeugt, sie kämpfe gegen verkrustete Strukturen in der Partei, sei moralisch auf der richtigen Seite. Elisabeth ähnelt in ihrer Haltung der Heldin aus Franziska Linkerhand (1974), die in dem später entstanden gleichnamigen Roman die sozialistischen Ideale gegen die Wirklichkeit verteidigt.

Beide Figuren werden als mutige Kämpferinnen für die gute Sache inszeniert – wenn sie dabei ihre Ideale über die Menschlickheit stellen, mag das bei negativ gezeichneten Figuren (wie Heiners in der Bergemann-Geschichte in Die Geschwister) als kritisch oder subversiv ausgelegt werden, wenn dieselbe versachlichende, objektifizierende Perspektive jedoch auf den eigenen Bruder (und hier kommt es weniger auf den eigenen Bruder als auf den geliebten Bruder an) ausgeweitet wird, wirft das die Frage auf, wie kritisch die idealisierende und moralisierende Haltung von Elisabeth eigentlich ist bzw. warum sie heutzutage auf diese Art und Weise gedeutet wird.

Weiterhin selten: Eine weibliche Stimme, die über Arbeit spricht

Beide Romane – Franziska Linkerhand und Die Geschwister – sind aus heutiger Perspektive dennoch erfrischend zu lesen, sie entfalten ihre kritische Wirkung jedoch auf einer anderen Ebene. Auch heute noch ist eine selbstbewusste weibliche Stimme, die in einer von Männern dominierten Arbeitswelt eine nicht prekäre Arbeit hat und dort auch für sich spricht und für ihre Ideale einsteht, ziemlich selten. Eine Frau, die zur Arbeit kommt und den Männern dort deutliche Ansagen macht, Konflikte austrägt, im Zweifel auch, wenn sich das nachteilig für sie auswirken kann, findet sich doch eher selten in der Gegenwartsliteratur. Wenn Frauen in Texten, die von und in der Arbeitswelt handeln, eine Rolle spielen, dann geht es oft um Konflikte, die sich durch das Vereinbarkeitsproblem von Arbeit und Care-Tätigkeiten ergeben oder um Kritik an Arbeitsverhältnissen im Kapitalismus generell, manchmal auch um Frauen, die als Schreibende und/oder Kreativschaffende tätig sind (auch hier sind die Themen dann oft Prekarität oder Abhängigkeit vom Partriarchat und/oder Kulturbetrieb).

Franziska Schößler schließt ihr Buch Femina Oeconomica: Arbeit, Konsum und Geschlecht in der Literatur. Von Goethe bis Händler (Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2017) mit der Feststellung, dass

Literatur also diejenigen Aspekte von (weiblicher) Arbeit, die beliebten literarischen Darstellungsverfahren, Figurenkonzepten und künstlerischen Selbstverständnissen entgegenkommen – den Schöpfungs- und Kreativitätsmythos, emotionale und ästhetische Arbeit, den Liebesdiskurs, Begehren, weibliche Körperlichkeit und Sexualität –, und zwar in kritischer wie affirmativer Hinsicht, [profiliert]. (S. 288f.)

Dass eine weibliche Protagonistin Karriere macht, dass sie darüber hinaus auch ein reflektiertes Verhältnis zu ihrer Arbeit und einen gewissen Anspruch daran hat, dass sie Konflikte nicht scheut, um ihren Vorstellungen treu zu bleiben, ist auch 60 Jahre nach dem Erscheinen von Die Geschwister eher selten – als Beispiel in der Gegenwartsliteratur ließe sich etwa Lucy Frickes Die Diplomatin nennen. Dominant sind weiterhin andere Themen – sicherlich auch als Spiegel der Gesellschaft, in der wir leben – Kritik am Kapitalismus, Darstellung weiblicher Arbeit als Hausarbeit bzw. Care-Arbeit oder in prekären Arbeitsverhältnissen.

In dem aufgrund des frühen Todes der Autorin Fragment gebliebenen Roman Franziska Linkerhand geht es vor allem um die Diskrepanz zwischen Plänen, Träumen und Idealen und dem Alltag, der sich in der realen Arbeitswelt dann ganz anders gestaltet. In einem Brief schreibt Reimann über die Fabel:

Da kommt ein Mädchen, jung, begabt, voller leidenschaftlicher Pläne, in die Baukastenstadt und träumt von Palästen aus Glas und Stahl – und dann muß sie Bauelemente zählen, (…) sich mit tausend Leuten herumschlagen (…) und die Heldentaten bestehen darin, daß man um ein paar Zentimeter Fensterbreite kämpft, und alles ist so entsetzlich alltäglich, und wo bleiben die großen Entwürfe der Jugend? Schließlich hört man auf zu bocken und macht mit … Eine traurige Geschichte, und sie passiert jeden Tag. Ich kann das Wort ‚enthusiastisch‘ schon nicht mehr hören. Manchmal geht sogar mir der Treibstoff aus, und ich möchte aufhören, mich dauernd zu streiten mit Leuten, die ja doch nie Fehler machen, nie sich irren und Dich behandeln wie Hohepriester einen Laienbruder. Sie sagen ‚Perspektive‘ und ich sage ‚Heute‘. Nun ja, wir haben so unsere Verständigungsschwierigkeiten.

„Briefwechsel mit Annemarie Auer“. In: Was zählt, ist die Wahrheit. Briefe von Schriftstellern der DDR. Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag 1975. S.290–330.

Vielleicht interessiert sich die Gegenwartsliteratur generell nicht für Arbeit – zumindest nicht, wenn es nicht um kreative Selbstverwirklichung oder Aufstiegsversprechen in der Wirtschaft und Finanzindustrie (oder um beides zusammen beim Gründen von Start Ups) geht. Oder um das Gegenteil dessen: die Kritik an prekärer Arbeit und am Kapitalismus generell. Eine Leerstelle bleibt die Beschreibung von Frauen, die professionellen Arbeitsverhältnissen nachgehen und sich damit produktiv und kritisch auseinandersetzen. Auch das wäre ein Grund, Brigitte Reimann zu lesen.

Brigitte Reimann: Die Geschwister, hrsg. von Angela Drescher und Nele Holdack. Berlin: Aufbau 2023,

Octavia E. Butlers Kindred (1979)

Octavia E. Butler gehört zu den Klassikern der Schwarzen Literatur, sie ist feministisch und avantgardistisch zugleich. Ihr Buch Kindred (1979) setzt sich mit der Sklaverei in einem Genre auseinander, das zunächst ungewöhnlich anmuten mag. Butler ist vor allem als Science-Fiction-Autorin bekannt, sie erhielt die drei bedeutenden Literaturpreise für Science-Fiction und Fantasy (den Locus Award, den Hugo Award und den Nebula Award) und wurde als erste Autorin in diesem Genre auch mit dem prestigeträchtigen Mac Arthur Fellowship ausgezeichnet. Die Autorin selbst weist darauf hin, dass es sich im Unterschied zu ihren anderen Werken bei Kindred trotz der Zeitreisen nicht um Science fiction handelt (es fehle hier die science). Ihr Werk wurde u.a. im Kontext des Afrofuturismus, der Cyborg-Theorie (Donna Harraway 1985) und des Konzepts des Black Atlantic (Paul Gilroy 1993) rezipiert.

Dass Zeitreisen und das Science-Fiction-Genre sich durchaus für historisch brisante Themen eignen, hat auch Kurt Vonnegut mit Slaughterhouse Five (1969) gezeigt, wo Reisen auf den Planeten Tralfamador Teil der Auseinandersetzung mit den Luftangriffen auf Dresden im Zweiten Weltkrieg sind. Gerade für marginalisierte, diskriminierte und von Rassismus betroffene Personen und Gruppen bieten literarische Genre-Texte, die Popkultur im Allgemeinen und künstlerisch-politische Bewegungen wie der Afrofuturismus jedoch eine besonders vielversprechende Anschlussstelle – sie repräsentieren nicht nur die aus den dominierenden Diskursen ausgeschlossenen gesellschaftlichen Randpositionen, sondern ermöglichen darüber hinaus auch eine breitere Rezeption und Debatte als die durch verschiedene Gate-Keeping-Mechanismen eher in sich abgeschlossenen akademischen Diskurse. 

Octavia Butlers Kindred handelt von der sich gerade etablierenden Schriftstellerin Dana. Diese hält sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs über Wasser, wie auch ihr Partner Kevin, den sie bei einem der Jobs kennenlernt. Auch Kevin ist Schriftsteller. Der Anfang des Textes führt die Leser:innen zunächst auf eine falsche Fährte: Dana hat auf ihrer letzten Zeitreise einen Arm verloren und muss nun im Krankenhaus die Polizei davon überzeugen, dass Kevin nicht die Verantwortung dafür trägt. Was zunächst danach aussieht, als wäre es eine Szene, in der häusliche Gewalt verschwiegen wird, hat einen ganz anderen Hintergrund.

Dana, die im Jahr 1976 lebt, wird durch Zeitreisen immer wieder auf eine Plantage in Maryland zu Beginn des 19. Jahrhunderts versetzt. Sie weiß, dass ihre Großmutter Hagar 1831 dort geboren ist. Dana wird zu verschiedenen Zeitpunkten in die Vergangenheit geholt, um Rufus – den Sohn eines Plantagenbesitzers – seit seiner Kindheit vor Gefahren zu beschützen. Von Anfang an ist sie selbst in Gefahr, da sie zu dieser Zeit auch selbst als Sklavin wahrgenommen wird. Sie lernt dort Alice und andere Sklav:innen kennen. Alice sieht ihr sehr ähnlich. Dana erkennt in ihr eine Verwandte und schon bald wird ihr bewusst, dass sie die Zeitreisen unternimmt, um ihren Vorfahr:innen und damit auch sich selbst das Leben zu retten. Immer wieder sind ihr Leben und das Leben ihrer noch ungeborenen Großmutter Hagar in Gefahr. Wenn Dana selbst in Lebensgefahr gerät, reist sie wieder zurück in das Kalifornien der 1970er Jahre.

Mit den Zeitreisen schafft Octavia Butlers Roman eine andere Leseerfahrung als es etwa historische Romane tun, auch von Erinnerungstexten unterscheidet sie sich. Die Erfahrung der Sklaverei, das Leben im Körper einer zur Sklavin degradierten Frau, sind für Dana nicht bloße Vergangenheit, sie sind auch kein Projekt der Rekonstruktion oder Imagination. Dana wird innerhalb der fiktiven Handlung direkt aus der Gegenwart in das Leben im 19. Jahrhundert zurückversetzt – das ruft einen gewissen Realitätseffekt hervor:

I had seen people beaten on television and in the movies. I had seen the too-red blood substitute streaked across their backs and heard their well-rehearsed screams. But I hadn’t lain nearby and smelled their sweat or heard them pleading and praying, shamed before their families and themselves. I was probably less prepared for the reality than the child crying not far from me. In fact, she and I were reacting very much alike. My face too was wet with tears.

Octavia Butler: Kindred

In dieser Textstelle wird deutlich, dass die Darstellung von Gewalt in Film und Fernsehen nicht nur nicht genügt, um zu wissen, wie es ist, sie zu erleben, sondern dass die Beschäftigung damit und die Kenntnis davon, nicht im Geringsten darauf vorbereitet, sie zu erleben und damit auf emotionaler Ebene umzugehen. Durch diese Rahmung wird der Anspruch an Fiktion, die Realität von Gewalterfahrungen vermitteln zu können, direkt zu Beginn zurückgewiesen. Obwohl Dana durch die Zeitreise die Gewalt unmittelbar erlebt, verweigert sich Butlers Roman einer Deutung, die suggeriert, ein Werk der Fiktion oder eine andere Art von medialer Darstellung könne die Sklaverei erfahrbar machen. Mit dem Mittel der Zeitreise macht Butler deutlich, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte diese weder verändern kann, noch darauf vorbereit, mit Gewalt umzugehen. Butler stellt die Frage, was passiert, wenn jemand mit dem Wissen der Gegenwart in die Vergangenheit reist – diese rein hypothetische Frage lässt sich besonders gut im gewählten Genre stellen.   

Der Text imaginiert, wie die Realität für Dana als Schwarze Frau ganz konkret aussehen könnte, wenn sie zu Zeiten der Sklaverei leben würde. In der Vergangenheit kann Dana jederzeit von weißen Patrouillen aufgegriffen werden, sie wird als Besitz anderer Menschen betrachtet und ist Bestrafungen und absoluter Willkür ausgesetzt. Die Unterschiede zur Gegenwart werden klar benannt: „I was working out of a casual labor agency – we regulars called it a slave market. Actually, it was just the opposite of slavery.“ Dana erkennt gleichzeitig, wie leicht die Sklaverei normalisiert wurde („I never realized how easily people could be trained to accept slavery.“) und wie groß die Bereitschaft war, für Geld und Macht andere Menschen zu dehumanisieren. Butlers Kritik ist intersektional, sie thematisiert die Verschränkung zwischen Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus – und zwar auf unheimlich präzise und gleichzeitig subtile Art und Weise.

Als sich Dana mit den anderen Sklav:innen auf der Plantage anfreundet, erfährt sie von Sarah, dass Mr. Weylin Sarahs Kinder verkauft hat. Als sie nach dem Grund fragt, bekommt sie folgende Antwort:

‚She wanted new furniture, new china dishes, fancy things you see in that house now. What she had was good enough for Miss Hannah, and Miss Hannah was a real lady. Quality. But it wasn’t good enough for white-trash Margaret. So she made Marse Tom sell my three boys to get money to buy things she didn’t even need!‘ ‚Oh.‘ I couldn’t think of anything else to say.

Octavia Butler: Kindred

Die Verschränkungen zwischen Rassismus und Patriarchat zeigen sich auch darin, wie Rufus mit den beiden Schwarzen Frauen Alice und Dana umgeht. Während Alice seine große Liebe war, bevor sie sich in einen anderen Mann verliebte, wird Dana zu seiner Freundin. Beiden Frauen zwingt er seine Liebe bzw. Freundschaft auf und verlangt absolute Loyalität und Unterwerfung. Wenn sie nicht tun, was er will, fordert er es durch Gewalt ein und schreckt weder vor körperlicher Bestrafung noch vor Vergewaltigung zurück.

Gerade die Situation von Dana als Frau bildet in Bezug auf die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen einen beängstigenden Echoraum in der Gegenwart: Die Erfahrung, als Frau kein Recht auf den eigenen Körper zu haben und von intellektueller Teilhabe ausgeschlossen zu sein, klingen in Vorstellungen über die Ehe oder über Danas Möglichkeiten als weibliche Autorin wieder. Besonders aufschlussreich sind die Passagen, die vom Schreiben handeln. Darin zeigt sich, wie subtil es Butler gelingt, bestimmte Situationen in ihrer Parallelität und gleichzeitigen Unterschiedlichkeit herauszuarbeiten und dahinter eine Leerstelle aufscheinen zu lassen: die der Schwarzen schreibenden Frau.

Sowohl Dana als auch ihr Partner und späterer Ehemann Kevin sind Schriftsteller:innen. Kevin wird später so erfolgreich, dass sie sich von seinem Geld ein Haus kaufen können. Die Heirat zwischen den beiden wird zur Prüfung auf zweierlei Art und Weise: Einerseits erfahren sie keine Unterstützung von ihren Familien (Kevins Schwester ist aus rassistischen Gründen gegen eine Heirat mit einer Schwarzen Frau, aber auch Danas Onkel ist gegen die Heirat mit Kevin). Fast beiläufig ergibt sich direkt nach dem Heiratsantrag ein aufschlussreicher Dialog zwischen Dana und Kevin.  

Durch die geplante Hochzeit schwebt Kevin vor, dass sie sich nun – als zukünftige Ehefrau – um seine Manuskripte kümmern könnte. Auf der Gegenwartsebene wehrt Dana sich dagegen, zu Kevins Sekretärin degradiert zu werden. In der Vergangenheitsebene bleibt ihr nichts anderes übrig, als Kevin als ihren „Master“ auszugeben und dem Wunsch von Rufus nachzukommen, Briefe für ihn zu schreiben. Sie macht dennoch beiden Männern deutlich, dass dies genau die Art von Tätigkeit ist, die sie ihr Leben lang vermeiden wollte. Die Dynamik zwischen der Schwarzen Frau und den beiden weißen Männern geht über Rassismuskritik hinaus, sie sollte auch als Kritik am Patriarchat gelesen werden. Das Buch zeigt auf, dass diese Dynamik im Patriarchat wurzelt, welches eben nicht auf weiße Männer beschränkt ist.

Dies wird deutlich, wenn der Roman mit Blick auf seine Entstehungszeit in den 70er Jahren gelesen wird und die Lage Schwarzer (scheibender) Frauen zu dieser Zeit betrachtet wird. Philip Miletic arbeitet in seinem Aufsatz „Octavia E. Butler’s Response to Black Arts/Black Power Literature and Rhetoric in ‚Kindred‘“ die dafür relevanten Kontexte detailliert heraus. So wird auch in der Black Power Bewegung Frauen nur eine sekundäre, unterstützende Rolle zugewiesen – im Zentrum stand die Vorstellung dominanter Männlichkeit (vgl. dazu Miletic, 270f.). Damit übt Butler – indirekt – auch Kritik an der Lage Schwarzer Frauen innerhalb von Schwarzen Bewegungen.

Vor diesem Hintergrund wird die Rolle von Dana, die in den 70er Jahren daran arbeitet, Schriftstellerin zu werden, besonders brisant. Interessant ist, wie wenig Butler daran liegt, das Schreiben selbst zu überfrachten und etwa als Medium der Vergangenheitsbewältigung oder der Selbsterkenntnis zu stilisieren. Dana muss darum kämpfen, nicht auf die Rolle der Sekretärin reduziert zu werden, die ihr von dem männlich dominierten Umfeld immer wieder zugewiesen wird, und sich selbst einen Raum zu schaffen, in dem sie kreativ tätig sein kann.

Dana kann die Zeitreisen nicht selbst kontrollieren, sie stellt jedoch fest, dass sie immer dann in die Gegenwartsebene zurückreist, wenn sie so stark gefährdet ist, dass ihr der Tod droht. Dadurch gewinnt der Text an unglaublicher Schärfe in Situationen, in denen sie sich zwar fühlt, als wäre sie kurz davor zu sterben, aber in denen sie trotz Schmerz und Verzweiflung doch noch weit davon entfernt ist. Dana fragt sich immer wieder, wann der Moment gekommen ist, um durchzudrehen, verrückt zu werden, wegzulaufen oder um sich zu wehren, etwas zu entgegnen, bereit zu sein, zu töten. Dies kann sie allerdings nicht tun, wenn sie nicht bereit ist, im Zweifel auch ihre eigene Geburt zu verhindern – sie muss sich wiederholt zwischen der Komplizenschaft mit Rufus und ihrem eigenen Leben entscheiden. Die breite Literatur zu Butlers Kindred lädt dazu ein, sich mit verschiedenen Interpretationen von Kindred auseinanderzusetzen. Das Buch wieder und wieder zu lesen, lohnt sich auf jeden Fall. 

Butler, Octavia E.: Kindred, London: Headline 2018 (1979).

Gilroy, Paul: The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness. Cambridge, MA: Harvard University Press 1993.

Haraway, Donna: Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980’s. In: Socialist Review 80. 1985.

Miletic, Philip: Octavia E. Butler’s Response to Black Arts/Black Power Literature and Rhetoric in ‘Kindred.” In: African American Review, vol. 49, no. 3, 2016, pp. 261–75.

Vonnegut, Kurt: Slaughterhouse-Five, or, The Children’s Crusade: A Duty-Dance with Death. New York, NY: Delacorte 1969.

Womack, Y. L.: Afrofuturism: The world of black sci-fi and fantasy culture. Chicago Review Press 2013.

Cover Die Wut die bleibt

Mareike Fallwickls „Die Wut die bleibt“

Mareike Fallwickl spricht in ihrem neuen Roman Die Wut die bleibt viele Themen an, die in der Gegenwartsliteratur unterrepräsentiert sind und mit denen das Buch einige wichtige Debatten anstoßt: Es geht um die Lage von Familien während der Corona-Pandemie, es geht um die unbezahlte Care-Arbeit von Frauen, es geht um abwesende Väter, um gesellschaftliche Rollenerwartungen an Frauen, um Gewalt gegen Frauen sowie um Gegengewalt und Feminismus.

Das Buch setzt auf einen eingängigen Plot: Helene, Mutter von drei Kindern, hat sich während der Pandemie und davor wahrscheinlich auch, um den Nachwuchs, den Haushalt und den Ehemann gekümmert, während letzterer sich größtenteils entzieht und mit der vermeintlich wichtigeren „Erwerbsarbeit“ herausredet. Die Vorgeschichte steht nicht im Mittelpunkt, das Buch beginnt direkt mit der Szene, in der Johannes eine Frage stellt, die harmlos daherkommt, aber implizit so herabwürdigend ist, dass Helene zum Balkon geht und herunterspringt. Die Frage von Johannes war folgende:

Haben wir kein Salz, sagt Johannes beim Abendessen, sagt es genau so: Haben wir kein Salz, und nicht einmal in Helenes Richtung. Sie hört das Du in seiner Formulierung, hört: Hast du es vergessen, hört: Du hast doch gekocht, hört: Stehst du noch mal auf, und alle diese Dus schlagen ihr die Kraft aus dem Körper. Matt und müde sitzt sie da, in ihren Ohren das schwere Dröhnen. Wie es anschwillt. Wie es körperfüllend wird, sodass da kein Platz mehr ist, nicht einmal für den nächsten Atemzug.  

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Hamburg: Rowohlt Verlag 2022, S. 9, im Original kursiv.

Die Pandemie hat die Last auf ihren Schultern vergrößert, es wurde noch deutlicher, dass Mütter weder vom Staat noch von der Gesellschaft und in vielen Fällen auch nicht vom näheren Umfeld Hilfe erwarten können. Sie sind auf sich allein gestellt, müssen den Ansprüchen der Kinder gerecht werden, während sie den Haushalt stemmen und zusätzlich den gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen ausgesetzt sind.   

Es geht in diesem Buch nicht nur um die Frage der Care-Arbeit für Kinder, sondern auch darum, dass Frauen oft nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Ehemänner oder Lebenspartner versorgen. Das wird auch in der Parallelgeschichte über Sarah, Helenes Freundin, thematisiert, die während der Pandemie mit Leon zusammengezogen ist und ganz selbstverständlich das Aufräumen übernimmt. Es geht in diesem Roman im Kern um die Frage, wer in einer Familie das Vakuum füllt, das entsteht, wenn die Mutter plötzlich ausfällt.

Eigentlich sollten die Väter die naheliegende Antwort sein. Um die Väter geht es bei Fallwickl aber nicht, Johannes kommt bis zur Hälfte des Buches kaum zu Wort. Die von Helene hinterlassene Lücke wird sofort von Sarah gefüllt, sie versorgt die Kinder, putzt und kocht, auch für Johannes. So abwesend wie Johannes in der Familie ist, ist er auch im Roman. Darin geht der Plot voll auf: Die von Helene dagelassene Lücke wird ganz selbstverständlich von einer anderen Frau, nämlich von ihrer besten Freundin Sarah, eingenommen. Als diese dann – Vorsicht, Spoiler-Alarm – irgendwann doch geht und die Familie sich selbst überlässt, tut auch sie es in der Hoffnung, dass schon bald die nächste Frau kommen wird.

Das macht etwas mit … Sarah, die in diesem Urlaub immer wieder darüber nachdenkt, dass sie eine Platzhalterin ist, eine Übergangsfrau. Nicht nur wegen Helene, die fehlt, Helene, die ersetzt werden musste, sondern wegen der Frau, in die Johannes sich verlieben wird. Aus seiner nächsten Beziehung wird vermutlich eine Patchwork-Familie, und die nächste Frau wird sich nicht für Wochen um Maxi und Lucius kümmern, sondern für Jahre, sie wird die Bonusmutter sein, die Stiefmutter, die vielleicht auch eigene Kinder mitbringt. Sie werden gemeinsam in dem neuen Haus leben, ob das wohl sein Plan ist? So schnell wie möglich eine Freundin finden, sich wieder einrichten in einem Gefüge, in dem alles ist wie vorher, nur mit einem anderen Muttergesicht.

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Hamburg: Rowohlt Verlag 2022, S. 269f.

Diese Ebene der Handlung, auch die gesellschaftliche Analyse, die dahintersteckt, ist überzeugend: Die Care-Arbeit wird überwiegend von Frauen geleistet und Männer haben beste Chancen, später in einer neuen Patchwork-Konstellation zweite und dritte Versuche zu starten. Die Belastung, die anstrengende Situation mit einer Teenagerin und zwei Kleinkindern, die Mental Load, die auf einer einzigen Schulter lastet und die nach dem Tod seiner Frau nicht auf Johannes, sondern direkt auf Sarah übergeht, wird mit eingängigen Szenen dargestellt.

Es geht – das ist von Anfang an klar – nicht so sehr darum, einen psychologischen Roman über eine Familie mit klassischer Rollenverteilung während der Pandemie zu erzählen, sondern um strukturelle und politische Fragen. Nach der Hälfte des Romans wird jedoch zunehmend unklar, warum die Erzählerin (und die Autorin) sich eigentlich nicht für Johannes interessiert. Einerseits werden die Lesenden dadurch vor den üblichen Rechtfertigungen und Ausreden vieler Väter (und Mütter) verschont, die erklären sollen, warum sie angeblich gar keine andere Wahl haben als sich der Care-Arbeit komplett zu entziehen und warum andere dafür zuständig sein sollen, ihre Kinder zu erziehen. Andererseits entsteht dadurch im Text eine Leerstelle, die im weiteren Geschehen zunehmend von zwei Handlungssträngen gefüllt wird – dem einen um Lola, die sich mit drei Freund:innen zu einem Schläger:innentrupp zusammentut, der Selbstjustiz an gewalttätigen Männern verübt, und dem anderen um Sarah, die versucht, sich sowohl von Leon als auch von Johannes zu lösen, von denen sie ausgenutzt wird. Keine der Männerfiguren bekommt eine Stimme oder ein Gesicht – im schlimmsten Fall sind die Männer in diesem Roman übelste Gewalttäter, im besten Fall ignorant und abwesend.

Für sich genommen werden in den Parallelhandlungen spannende Aspekte beschrieben: die gesellschaftlichen Erwartungen an Beziehungen, internalisierte Frauenfeindlichkeit, der Wandel feministischer Perspektiven und Praktiken, das Ablegen von Rollenerwartungen in der jüngeren Generation, das Ausüben von Kampfsport zur Selbstverteidigung anstatt Anpassung und vieles mehr.

Mit fortschreitender Handlung, in der sich die Frauen emanzipieren, kommt hinter den Schattierungen und Differenzierungen, die der Roman bereithält, allerdings zunehmend ein schwarz-weißes Bild zum Vorschein. Vor dem Hintergrund der durchweg negativen Männerfiguren befreit sich Sarah von ihrem Verantwortungsgefühl und Lola schlägt zu, wenn es sein muss. Während sich die beiden Frauen entwickeln, passiert mit den Männerfiguren überhaupt nichts.

Was wäre die Alternative gewesen? Johannes hätte sich entgegen gesellschaftlicher Erwartungen zum „ausreichend guten Vater“ (frei nach Donald Winnicott, der mit der „good enough mother“ ein Gegenkonzept zur idealisierten Mutter geschaffen hat) entwickeln können. Dieses Ende wird nicht einmal in Aussicht gestellt, denn Sarah stellt sich – siehe Zitat oben – vor, dass Johannes die Kernfamilie übergangsweise schon irgendwie versorgen wird, dann aber sicher bald eine neue Partnerin für eine Patchworkfamilie findet. Selbst wenn das von Sarah zynisch gemeint ist, ist es bezeichnend. Die Vaterfigur entwickelt sich nicht, er ist gefangen in der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft, Veränderung ist nicht in Sicht.

Was ist im Titel mit der Wut gemeint, die bleibt? Die Wut der zurückgelassenen Tochter Lola, die um ihre Mutter trauert und sich zugleich mit struktureller und physischer Gewalt gegen Frauen auseinandersetzen muss? Die Wut der Familien, die während der Corona-Pandemie kaum Unterstützung erfahren haben? Die Wut gegen die Männer und die Gewalt? Die Wut gegen die Kinder, die den der Raum der Mütter nach und nach einnehmen? Alles zusammen?

Der Roman spricht viele wichtige Themen an, erzählt von überforderten Müttern, von abwesenden bzw. ignoranten und gewalttätigen Männern sowie von einer frauenfeindlichen Gesellschaft. Der Plot um die Frage, wer das Vakuum besetzt, das mit dem Tod einer Mutter entsteht, wird jedoch in alle Richtungen geöffnet: Es geht um das Zusammenleben mit Kindern, um Gewalt an Frauen, um die (Un-)Möglichkeit einer romantischen Beziehung in der heteronormativen Gesellschaft, um Kindesmissbrauch, um die Frage, ob Frauen mit Kriminalromanen ihr Geld verdienen sollten, in denen Frauen immer nur die Opfer sind. Mit dieser Überfrachtung kommt es zwangsläufig zu einem erzählerischen Problem, das sich kaum auflösen lässt: der Plot verlangt eigentlich nach einer schlankeren Struktur, die Gesellschaftskritik schreit dagegen nach einer ausschweifenderen Erzählung und nach Figuren, die stärker mit Leben gefüllt und differenzierter gezeichnet sind.  

Während sich Autorinnen wie Anke Stelling oder Rumena Bužarovska direkt in die Widersprüche heteronormativer Strukturen hineinbegeben und von den Verstrickungen und Dynamiken der Beziehungen im Patriarchat erzählen, interessiert sich dieser Roman nur für die Perspektive der Frauen. Die ist zweifellos wichtig. In der Familienkonstellation fehlt dennoch die Perspektive des Ehemannes und Vaters der beiden kleinen Kinder, ebenso die des Vaters der größeren Tochter Lola.

Dadurch, dass die männlichen Figuren überhaupt nicht an Tiefe gewinnen, ergibt sich eine merkwürdige Nähe zwischen den arbeitenden, abwesenden Vätern und den gewalttätigen Männern aus dem anderen Handlungsstrang des Buches. Keine Rolle spielen überraschenderweise die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, die dazu führen, dass solche klassischen Rollenmodelle – auch entgegen der Wünsche sicherlich nicht der Masse, aber doch zumindest einiger Eltern – weiterhin gelebt werden. Die Diskussionen darum, wer in Elternzeit geht, wer mehr Geld verdient oder wer bessere Chancen auf die Karriere hat, ob eine:r oder beide oder keine:r Karriere macht, ob die Familie zugunsten der gerechteren Verteilung vielleicht lieber auf ein Haus verzichten sollte, werden hier nicht geführt. Dagegen lässt sich einwenden, dass in einem Roman, in dem es um die Erschöpfung der Frauen mit Care-Verpflichtungen geht, nicht alle möglichen Dinge verhandelt werden können. Genau. Vielleicht wären die erschöpften Frauen und die abwesenden Väter genug gewesen. 

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Hamburg: Rowohlt Verlag 2022.

Donald W. Winnicott: The Child, the Family, and the Outside World. Harmondsworth: Penguin 1964.