Whale von Cheon Myeong-kwan

Ein wunderbarer Roman aus Südkorea von 2004, der zurzeit auf der Shortlist des International Booker Prize 2023 steht und sich zwischen Postmoderne, Groteske und magischem Realismus bewegt. An diesem Buch – anders kann man es nicht sagen – ist alles gut gelungen: der Plot, die Charaktere, die Erzählweise, die subtile Gesellschaftskritik und die Darstellung historischer Umbrüche.

Der Autor beherrscht sein Handwerk bestens, er hat es nicht nötig, mit experimentellen Erzähltechniken Eindruck zu schinden oder mit Taschenspielertricks Spannung zu erzeugen. Der Erzähler überblickt alle seine Figuren, auch wenn er immer mal wieder damit kokettiert, dieses oder jenes nicht zu wissen. Anstatt die Leser: innen unnötig im Unklaren zu lassen, positioniert er die Figuren immer klar innerhalb der Geschichte und in ihrem Verhältnis zur Welt. Das Buch verzichtet auf oberflächlichen Drive und beeindruckt stattdessen mit Charakteren, auf die es vertraut und deren Entwicklungen und Verwicklungen miteinander im Mittelpunkt stehen.

Myeong-Kwans Roman setzt sich immer wieder über die Realität hinweg – so gibt es zum Beispiel ein Mädchen, Chunhui, das bereits bei der Geburt sieben Kilo wiegt und deren Vater ein Riese ist, der vier Jahre vor ihrer Geburt gestorben ist. Durch solche Details, die den fiktiven Charakter der erzählten Welt immer wieder vor Augen führen und den Lesenden das immersive Eintauchen in das Buch leicht machen, ergibt sich eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz, Teilnahme und Beobachtung.

Wenn ein Roman ins Englische übersetzt wird und auf der Shortlist für den International Booker Prize landet, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass es in der Art und Weise, wie er von einer anderen Weltregion erzählt, eine gewisse Anschlussfähigkeit an die westliche Welt (und an ihre Erzähltraditionen) gibt. Whale erzählt vom Übergang von traditionellen Lebensformen in die Moderne und Postmoderne. Wir entdecken zusammen mit den Figuren das Kino, die Veränderungen durch die Eisenbahn, das Entstehen der Kaffeekultur und andere Entwicklungen.

In any case, that was how the construction of the railroad began. Soon, people started to come into Pyeongdae from other places for work. First came the railroad workers and the construction company staff members and the site manager, then came the bars and restaurants that sprouted up to serve them and the women who serviced them, then the vendors and peddlers selling things the women needed, and then finally a year later, when the train began to rumble through the village, there came doctors treating injured workers and pastors and missionaries and priests and monks who treated the soul, then the chapels and churches and temples were built, which brought in the workers who would build them, then came the women who would service those workers, and in that way peo ple came from faraway cities and nearby villages, looking for work, looking for things to see, looking for opportunities, looking for the faithful, looking for a mate, and later the local historians of Pyeongdae referred to this era’s sudden popula tion growth as the town’s first big boom.

CHEON MYEONG-KWAN, Whale, 134

Der Autor vermeidet es geschickt (vielleicht liegt hierin auch die Stärke der Übersetzung), zu sehr auf die Vermittlung oder die Erklärung kultureller Unterschiede zu setzen, wie wir es von vielen der  von Rebecca Walkowitz als „born translated“ bezeichneten international erfolgreichen Bücher kennen. Gleich auf der dritten Seite wird Hundesuppe gekocht, beschrieben als ein von Wärme geprägtes Gemeinschaftserlebnis. Eine der Protagonistinnen kehrt aus dem Gefängnis zurück und muss an dem verlassenen Ort ihrer Kindheit mit dem vorlieb nehmen, was da ist. So kommt es, dass unter anderem eine rohe Schlange gegessen wird. Zugleich vermeidet er Exotisierung und Othering, an Stellen, wo dies seinen Figuren passiert (zum Beispiel bei den Zwillingen, die im Zirkus auftreten) werden diese Mechanismen in einen reflexiven Zusammenhang eingebettet.

Das Lebensgefühl der Figuren ist geprägt von einer pragmatischen Haltung: sie haben Ambitionen und wollen etwas vom Leben, wenn sie scheitern, klagen sie nicht, sondern machen weiter. Dabei fehlt keineswegs das Pathos: es gibt mehrere Tode aus Liebe. Geumbok wird zunächst sehr reich, verliert das Geld wieder und findet neue Einnahmequellen. Es ist ein Auf und Ab zwischen einmaligen Gelegenheiten und Momenten des Scheiterns, dem Mut, Chancen zu ergreifen und der Fähigkeit, auch in den schlechtesten Zeiten nicht zu aufzugeben. Zugleich sind die Figuren komplex. Auch eine Person, die fähig ist, mit vielen Menschen tiefe und unterstützende Beziehungen aufzubauen, kann eine schlechte Mutter sein. Ein Gangster kann dagegen ein unterstützender Partner sein.  Es kommt es immer auf die Umstände und auf die Perspektive an. So heißt es an einer Stelle ganz am Anfang:

Life is sweeping away the dust that keeps piling up. That was what one of her cellmates, the one with freckles scattered across her face, always said. Everyone called her Cyanide – she had been sentenced to death for killing her two daughters and her husband with a cyanide-laced meal. Until the day she was executed, she was the one who swept and cleaned their cell. Any time the other prisoners grumbled, What’s the point of cleaning when your days are numbered? she would say, Life is sweeping away the dust that keeps piling up, as she mopped the floor with a rag, and sometimes she would add, Death is nothing more than dust piling up. Chunhui never quite understood what that meant, but that first day she was back, those riddles popped into her head as she walked toward the remnants of the house.

CHEON MYEONG-KWAN, Whale, 12

Das Buch ist weder moralisierend, noch zynisch – diese Perspektive auf die Welt ist sehr erfrischend. Dazu gibt es einmalige Charaktere – eine ambitionierte Frau namens Geumbok, die in jungen Jahren einen Wal gesehen hat und davon zutiefst beeindruckt war; ihre Tochter Chunhui, die in ihrer eigenen Welt lebt und mit einem Elefanten kommuniziert sowie eine ganze Reihe origineller Nebenfiguren. Definitiv ein Mustread und ein wohlverdienter Platz auf der Shortlist!

CHEON MYEONG-KWAN: Whale, aus dem Koreanischen von Chi-Young Kim, Europa Editions 2023 (2004). Auf Deutsch ist der Roman bei Weissbooks erschienen.

Cover von Patricia Lockwood und Olivia Sudjic

Olivia Sudjics Social-Media-Roman Sympathy und postdigitale Schreibweisen bei Patricia Lockwood

Olivia Sudjics Sympathy (2017) wurde in vielen Besprechungen – sicher nicht zu Unrecht –als „The First Great Instagram Novel“ (Livingstone 2017) angepriesen. Nicht weniger gelobt und bereits vor dem Erscheinen viel diskutiert wurde Patricia Lockwood’s No One Is Talking About This (2021). Der Guardian bewarb das Buch mit der Phrase: „A master of online writing turns her skills to a novel“ (Cummins 2021). Lockwood ist zuvor bereits als Dichterin in Erscheinung getreten. Auf Twitter ist sie ebenfalls sehr präsent (@TriciaLockwood). Sudjic und Lockwood stellen sich der Herausforderung, von der Digitalisierung und von der durch Internet und Smart Phone geprägten Interaktion der Gegenwart in literarischen Texten zu erzählen, auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Während Sudjic die narrativen Möglichkeiten des Romans auslotet, zeichnet sich Lockwoods Schreibweise dadurch aus, dass sie verschiedene „piece[s] of writing“ (Lockwood 2021: 58), die lose durch einen Plot um eine im Internet prominent gewordene Frau zusammengehalten werden, miteinander verknüpft. Ihre Schreibweise wurde zutreffend als „Lockwood‘s infinite scroll“ (McNeil 2021) bezeichnet.

„I sank back, deeper into the parallel universe I had found“

Sudjic beleuchtet in ihrem Roman nicht nur die Spezifik eines bestimmten sozialen Mediums, sondern zeigt auch auf, welche neuen Dynamiken sich durch die Kombination von persönlichen Verbindungen, den Vernetzungen in verschiedenen Apps und den auf sozialen Medien wie Instagram inszenierten persönlichen Profilen ergeben. Diese unterschiedlichen Ebenen werden in der Handlung um die Beziehung zwischen zwei Frauen, der Ich-Erzählerin Alice und der Schriftstellerin Mizuko, enggeführt. Das Erzählverfahren des Textes erinnert an die Funktionsweise sozialer Medien: Verschiedene Ereignisse vom Kennenlernen der beiden Frauen bis zum Zeitpunkt des vollständigen Kontaktabbruchs werden in loser zeitlicher Abfolge erzählt. Damit spiegelt der Text die Wirkungsweise sozialer Medien, deren antichronologischer Zeitstrahl es nur unter Schwierigkeiten zulässt, ein Profil chronologisch in der richtigen Reihenfolge nachzuvollziehen:

„I sank back, deeper into the parallel universe I had found. I’d scrolled back in time three years to Mizuko’s very first picture and was now working my way forwards again so I could follow her footsteps in a more logical sequence rather than randomly clicking on pictures of her.” (Sudjic 2017: 234)

Ich möchte weniger argumentieren, dass Sudjic mit ihrem Narrativ Social Media nachahmt, sondern vielmehr, dass sie bestimmte Aspekte eines Erzählverfahrens der Gegenwart einsetzt, welches auch in den sozialen Medien und anderen kulturellen Produktionen (etwa in Filmen oder Serien) genutzt wird. Die Umsetzung und konkrete Realisierung von zum Beispiel antichronologischen narrativen Strukturen ist jedoch jeweils spezifisch und hängt von der Beschaffenheit des Mediums (visuell, textuell, interaktiv usw.) ab. In Sympathy werden die Ereignisse durch das Ein- und Ausblenden ausgewählter Momente und durch die zeitliche Anordnung mithilfe von Vor- und Rückschauen jeweils unterschiedlich perspektiviert.

Anders als die sozialen Medien, die sich durch interaktive Nutzungsmöglichkeiten auszeichnen, gibt der Roman die zeitliche Abfolge, d.h. eine Chronologie der antichronologisch angeordneten Ereignisse, jedoch vor. Und anders als visuelle Medien, die Ort und Zeit durch bestimmte Bilder evozieren können, nutzen Texte für die raumzeitliche Navigation zumeist die Erzählstimme. Sympathy zeigt aber auch, was die Gattung Roman gerade im Gegensatz zu den fragmentarischen Erzählweisen im Internet leisten kann. So schreibt Dorothee Birke:

„Who knows where the media habits of the ‘millennials’ are tending next and how they will shape future selves and societies? The claim implicit in Sympathy is that for the fullest answer to this question we need to keep reading novels” (Birke 2019: 211). 

„Why were we all writing like this now?”

Dieser ganzheitliche Anspruch – den ein Roman wie Sympathy durch ein Narrativ erfüllt – wird in Patricia Lockwoods No One Is Talking About This durch den Verzicht auf ein konsistentes Narrativ zugunsten des Nacherzählens von Fragmenten aus dem Internet zurückgewiesen. Diese Erzählweise prägt vor allem den ersten Teil des Buches. Darin erzählt Lockwood ohne klassischen Plot, fragmentarisch und teils sarkastisch-anekdotisch, von einer durch Postings im Internet bekannt gewordenen Frau, die im Anschluss an ihren viral gegangenen Post „Can a dog be twins?“ (Lockwood 2021: 13) von ihrer Berühmtheit leben kann. Der Text kombiniert Momentaufnahmen aus ihrem Leben mit Reflektionen über das Internet, die Digitalisierung und die Veränderung des Alltags in Bezug auf Kommunikation, Sozialverhalten und Beziehungen.

„Why were we all writing like this now? Because a new kind of connection had to be made, and blink, synapse, little space-between was the only way to make it. Or because, and this was more frightening, it was the way the portal wrote. […]” (ebd.: 63)

Lockwood deutet hier ironisch die Möglichkeit an, dass das Internet selbst eine spezifische Schreibweise hervorbringt bzw. auf eine bestimmte Art und Weise „schreibt“. Damit bildet ihr Text das Gegenmodell zu Sudjics Roman, in dem versucht wird, aus den neuen Vernetzungs-, Beziehungs- und Kommunikationsmöglichkeiten ein Narrativ zu erzeugen. Lockwood konzentriert sich ganz auf die Unterbrechungen, auf einzelne Fragmente. Sudjics Roman bringt dagegen ein Narrativ, eine Erzählung hervor. Interessanterweise stellt Lockwood den Zusammenhang zwischen ihrer Art des Schreibens, dem Effekt des „page turners“ und der Unvermeidlichkeit eines vorwärtstreibenden Plots auch selbst her:

„That these disconnections were what kept the pages turning, that these blank spaces were what moved the plot forward. The plot! The plot was that she sat motionless in her chair, willing herself to stand up and take the next shower in a series of near-infinite showers, wash all the things that made her herself, all the things that just kept coming, all the things that would just keep coming, until one day they stopped so violently on the sidewalk that the plot tripped over them, stumbled, and lurched forward one more innocent inch.” (ebd.: 63f.)

In der Gegenüberstellung beider Texte wird deutlich, dass der Diskurs der Literatur und die intellektuelle Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen im Medium Buch weiterhin wichtig bleiben. Während sowohl die Schreibweise bzw. die textuellen Verfahren als auch der Inhalt bzw. Plot sich bei Sudjic und Lockwood fundamental unterscheiden, so dienen beide Texte der Auseinandersetzung mit dem digitalen Habitus und dessen Reflexion.

Die Protagonistinnen gehen offline

Im zweiten Teil von No One Is Talking About This behält Lockwood den Erzählstil in kurzen Sinneinheiten bei – die Protagonistin zieht sich nun allerdings aus dem Internet zurück, um einige Monate bei ihrer Familie zu verbringen. Lockwood erzählt im zweiten Teil eines Buches, das im ersten Teil vorwiegend von den Absurditäten des Internets handelt, davon, wie die Protagonistin sich um ihre Schwester und deren neugeborenes Baby kümmert, dem nur wenige Monate Lebenszeit bleiben, weil es mit dem Proteus-Syndrom (einer seltenen genetischen Erkrankung) geboren wurde.

Die beiden Teile des Buches zeigen ganz unterschiedliche Dimensionen der digitalisierten Gegenwart: im ersten Teil das Leben einer Person, die ständig online ist und deren Leben den Lesenden durch ihre Aktivitäten im Netz (sowohl ihre eigenen Beiträge, als auch das, was sie im Internet rezipiert) präsentiert wird, im zweiten Teil dann ein familiäres Schicksal, das zu ihren üblichen Interaktionen und Kommunikationsweisen in den sozialen Medien nicht passt und das sich aus Sicht der Protagonistin in diesem Kontext nur schwer kommunizieren lässt.

Lockwood geht es allerdings nicht darum, den Kontrast zwischen dem Internet und einem vermeintlich „echten“ Leben zu inszenieren oder die Kommunikation in den sozialen Medien als indifferent, ignorant oder irrelevant moralisch abzuwerten. Beides steht bei Lockwood nebeneinander. Während sich Sudjics Sympathy eindeutig dem Genre Roman zuordnen lässt, erweist sich Lockwoods Text in dieser Hinsicht als nicht kategorisierbar – für einen Roman oder eine Erzählung fehlt eine konsistente Handlung, aber auch die Entwicklung von Charakteren; der zweite Teil, der sich eher als Essay, Autofiktion oder Memoir einordnen ließe (und der auch autobiografische Bezüge hat, vgl. McNeil 2021), sperrt sich gegen die letztgenannten Zuordnungen wiederum durch die durchgehende Verwendung der dritten Person.

Während Sudjic eine Synthese aus den Online- und Offline-Handlungen ihrer Charaktere entwickelt, lässt Lockwood die Frage offen, wie die beiden Teile des Buches bzw. die unterschiedlichen Erfahrungswelten der Protagonistin zueinander passen. Im zweiten Teil ist jedenfalls wenig Platz für die ironischen Feinheiten der Kommunikation im Netz. Sowohl bei Sudjic als auch bei Lockwood sind das Krankenhaus und der Tod einer nahestehenden Person diejenigen Sphären, an denen die Protagonistinnen von ihren Endgeräten abgeschnitten sind bzw. in denen diese irrelevant werden.

Als die Protagonistin in Sympathy ihre Großmutter Silvia ins Krankenhaus bringt und dort auf die Untersuchungsergebnisse wartet, geht ihr Smartphone aus. Sie schreibt Dwight an, um mit ihren Gefühlen nicht allein zu sein: „Then my phone died just after I sent the message, so no comfort could come from it anyway.” (Sudjic 2017: 150). An dieser Textstelle wird auch deutlich, dass das Mobiltelefon nicht nur der Kommunikation, sondern auch der Gefühlsregulation dient.  

Der Text ist ein Auszug aus dem folgenden Aufsatz: Diana Hitzke: „Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur.“ Andreas Langenohl, Katrin Lehnen und Nicole Zillien (Hg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt/New York: Campus 2021, 243-267.

Literatur

Birke, Dorothee (2019), „New Media Narratives: Olivia Sudjic’s Sympathy and Identity in the Digital Age“, in: Astrid Erll u. Roy Sommer (Hg.), Narrative in Culture, Berlin/Boston, S. 199-214, https://doi.org/10.1515/9783110654370-012.

Cummins, Anthony (2021), “A Certain Ratio”, in: The Guardian Weekly, 19.02.2021.

Lockwood, Patricia (2021), No One Is Talking About This, London.

McNeil, Joanne (2021), “Can a Dog Be Twins. Patricia Lockwood‘s infinite scroll”, in: Vulture, 12.02.2021, letzter Zugriff: 22.03.2021, https://www.vulture.com/news/can-a-dog-be-twins%3F/.

Sudjic, Olivia (2017), Sympathy, London.

Flexen in Miami, Allegro Pastell, Pixeltänzer

Digitalisierung bei Berit Glanz, Joshua Groß und Leif Randt

Drei Romane der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – Pixeltänzer (2019) von Berit Glanz (*1982), Flexen in Miami (2020) von Joshua Groß (*1989) und Allegro Pastell (2020) von Leif Randt (*1983) – beschreiben eine fiktive Welt, deren Alltag von digitalen und sozialen Medien durchdrungen ist, die Protagonist:innen sind auch allerlei technischen Tools gegenüber aufgeschlossen. Die Texte thematisieren die Digitalisierung nicht als neu und gefährlich, sondern als bereits normalisierte Realität. Daher lassen sich an ihnen gesellschaftliche Veränderungen in Bezug auf Arbeit und Freizeit, Kunst und Kreativität, Beziehungen sowie die grundsätzliche Bedeutung der Digitalisierung besonders gut beobachten. Die literarischen Texte lassen sich als Auseinandersetzung mit Entwicklungen lesen, die derzeit gesellschaftlich ausgehandelt werden.  

Arbeit und Freizeit

In Leif Randts Allegro Pastell (2020) sind Arbeit und Freizeit weder räumlich noch zeitlich begrenzt: Jerome und Tanja haben keine festen Arbeitszeiten, sie arbeiten mobil und gern auch an den Wochenenden, an denen sie einander sehen. Dennoch gibt es Zeit für Ausflüge mit dem Tesla oder Spaziergänge ins Naturschutzgebiet[1] und Zeitfenster für intensives Ausgehen, wobei die Regeneration nach den von Schlafmangel und Drogenkonsum geprägten Tagen stets mit eingeplant wird. Jerome ist selbständiger Webdesigner, Tanja ist Schriftstellerin. Da beide mobil arbeiten, sind sie an Orte nicht gebunden – Jerome lebt in seinem Elternhaus in Maintal, Tanja in Berlin. Wie der Titel bereits suggeriert, wird das Lebensmodell der beiden weder glorifiziert, noch kritisch beleuchtet. Randt verleiht seiner Erzählung Ambivalenz, indem er vorwiegend ohne Wertungen erzählt. Dadurch bleibt es den Lesenden überlassen, ob sie den Roman als Abbild des Status quo einer Gesellschaft lesen, als Utopie für Beziehungen ohne Konflikte oder als Kritik an Lebensmodellen, die darauf basieren, alles Störende auszuschließen bzw. dies aufgrund ihrer privilegierten Position überhaupt zu können.

Während Randt die Arbeitswelt von Freischaffenden und Selbständigen beschreibt, geht es in Berit Glanz‘ ebenfalls gefeiertem Roman Pixeltänzer (2019) um die Tech-Arbeitswelt. Die Protagonistin Beta arbeitet in einem Start-Up-Unternehmen im Bereich der Software-Qualitätskontrolle. Technik, Internet und neue Arbeitsformen prägen jedoch auch ihren Alltag jenseits der Lohnarbeit. Die durch verschiedene Apps ermöglichten Vernetzungsmöglichkeiten, ihre eigenen Programmierfähigkeiten und das ständige Recherchieren im Internet sind für Beta essentiell: morgens wird sie von einer Weck-App geweckt, in ihrer Freizeit fertigt sie Tiermodelle für ihren 3D-Drucker an und nach Informationen oder Erklärungen sucht sie stets nur online.

Die Tech-Arbeitswelt wird bei Glanz fast durchweg positiv beschrieben. Betas Arbeitsplatz wird kaum als solcher bezeichnet, sondern immer nur als Ort für Kreativschaffende dargestellt: Das Team wird ständig motiviert und mit konzentrationsfördernden Snacks versorgt, montags gibt es Sushi zum Mittagessen und natürlich geht es auch für eine Woche in den (so nicht bezeichneten) Arbeitsurlaub nach Barcelona. Die Arbeits- und Verhaltensweisen der Tech-Branche werden zwar teils mit leichter Ironie beschrieben, Kehrseiten gibt es aber kaum – wenn überhaupt, dann erweist sich die Realität hinter den Versprechen als nicht ganz so rosig wie erwartet: Die Teamreise geht beispielsweise nicht wie auf den Fotos angekündigt nach Bali, sondern nach Barcelona, wo es anders als auf der indonesischen Insel keine Palmen am Arbeitsplatz gibt und wo die Sitzkissen zwar gut aussehen, aber unbequem sind. Die zunächst als innovativ angepriesene Fahrt im Tech-Bus, die Beta in ihrem Urlaub unternimmt, hebt sich nicht wirklich von Klassen- oder Seniorenfahrten ab, im Bus herrscht ein mit Kaffee aus großen Thermoskannen getränktes Arbeitsklima, das von durchwachten Nächten im Hotel begleitet wird, in denen die Teams an ihren Apps arbeiten.

Die Begriffe der Tech-Welt, die Arbeitsmethoden der Start-Up-Szene sowie die Funktionsweise des Codens und verschiedener Apps werden in lexikonähnlichen Einträgen erklärt: so etwa der „Monkey-Test“ (ebd.: 48), der „Black-Box-Test“ (ebd.: 58), das „Fuzzing“ (ebd.: 64), der „Gorilla-Test“ (ebd.: 76), das „Visual Testing“ (ebd.: 81), „Scrum“ (ebd.: 144, 149, 153, 158, 162), das „Impediment Backlog“ (ebd.: 171), „Planungspoker“ (ebd.: 173), die „Kanban-Tafel“ (ebd.: 177), „Open Source“ (ebd.: 235, 247) und die „Definition of Done“ (ebd.: 251). Damit führt der Text auch ein technisch nicht affines Publikum fast didaktisch in die Welt der Start Ups und in die Arbeitsweise des New Work ein.

Themen wie die Überwachung und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche werden angedeutet, stören aber weder das System noch die Protagonistin. Jede angedeutete Kritik erweist sich im Laufe der Geschichte höchstens als kleine Irritation oder sie läuft von vornherein ins Leere. Beta stiehlt – zum Spaß – einen Roboterfisch aus dem Aquarium des Ruheraums, der, so deutet die Ich-Erzählerin an, auch zur Überwachung der Mitarbeitenden dienen könnte. Dessen Verschwinden – er wird von Beta in der Spree versenkt und sendet daher für eine gewisse Zeit weiterhin Unterwasserbilder – bemerkt aber letztlich niemand. Der Versuch, mit ihren beiden Kolleg:innen den Wettbewerb, der auf der Fahrt im Tech-Bus ausgetragen wird, durch die Programmierung einer unverkäuflichen App zu stören, erweist sich als unmöglich – denn in der gewinnorientierten und warenförmigen Wahrnehmung der Jury lässt sich auch die Unverkäuflichkeit zum Verkaufsargument stilisieren. Die Ausweitung der Arbeit auf das gesamte Leben – Beta verbringt ihre Freizeit mit ihren Arbeitskolleg:innen und ihren Urlaub im Tech-Bus – wird an keiner Stelle kritisch gesehen; schließlich entspricht sie dem Ideal einer Verbindung von Arbeit und Leben (Work-Life-Blending im Gegensatz zu Work-Life-Balance, d.h. einer Verschmelzung im Gegensatz zu einer Ausbalancierung von Arbeit und Freizeit) in der Kreativbranche. 

In Joshua Groß‘ Flexen in Miami (2020) spielt Arbeit gar keine Rolle. Der Ich-Erzähler Joshua hat ein „einjähriges Aufenthaltsstipendium der Rhoxus Foundation“ (ebd.: 8) in Miami und verbringt seine Zeit hauptsächlich in seinem smart ausgestatteten Apartment, in dem er von einer Drohne mit Astronautennahrung versorgt wird. Neben Social Media und Suchmaschinen interessieren ihn vor allem NBA-Spiele und Sportwetten. Bald wird der Protagonist fast vollständig von einem Computerspiel namens Cloud Control in den Bann gezogen. Dieses Spiel prägt dann auch seine Interaktion mit den beiden Personen, die er in Miami kennenlernt – die Meeresbiologin Claire und deren Ex-Partner, den Rapper Jellyfish P. Obwohl zu Beginn des Textes durch das Stipendium und Hinweise auf das Schreiben angedeutet wird, dass der Protagonist Schriftsteller ist, wird während der gesamten Handlung nicht nur nicht geschrieben (was nicht ganz untypisch für Texte über Schriftsteller:innenresidenzen ist), sondern es wird nicht einmal beklagt, dass nichts geschrieben wird. Eine einzige Textstelle widmet sich dem Zwiespalt zwischen Schreiben und Lohnarbeit:

„Bevor ich nach Miami gekommen war, hatte ich halbtags gearbeitet, um unabhängig zu sein. Ich hatte mich komplett aufgerieben. Ich war immer noch ausgelaugt. Ich war darauf hingewiesen worden, dass auch Kafka seine Klassiker nebenberuflich geschrieben habe, nur für sich selbst, in der Brache des nächtlichen Burnouts. (…) Ein Ausweg hatte sich eröffnet, als mir das Stipendium der Rhoxus Foundation angeboten wurde und ich meinen Job kündigen konnte. Kein unbefristeter Vertrag mehr, nur neue Zukunftsangst.“ (ebd.: 25)

Von der Anlage erinnert Groß‘ Text stark an Ben Lerners Leaving the Atochia Station (2011), eine Erzählung, die auch im Diskurs um Literatur und Digitalisierung immer wieder genannt wird und insofern durchaus auch für Groß ein Vorbild gewesen sein könnte. Bei Lerner geht es um einen Autor, der durch ein Stipendium aus den USA nach Madrid gekommen ist und seinen Alltag dort zwischen dem Schreiben von Gedichten, dem Ausgehen mit seinen neuen Freund:innen aus einer Galerie und in nicht weiter definierten Beziehungen zu den beiden Frauen Isabel und Teresa verbringt. Während bei Groß das Schreiben gar keine Rolle spielt, da sein Ich-Erzähler fast vollständig von digitalen Medien und der von dem Computerspiel ausgehenden Interaktion vereinnahmt ist, steht bei Lerner das Schreiben, aber auch das Leben als Künstler im Mittelpunkt. Lerners Protagonist Adán gelingt es jedoch – ganz im Gegenteil zu Joshua – sich während seines Spanienaufenthaltes von Medien, zumindest in Bezug auf die damit zusammenhängenden sozialen Verpflichtungen, weitgehend fern zu halten:   

„Although I had internet access in my apartment, I claimed in my e-mails to be writing from an internet café and that my time was very limited. I tried my best not to respond to most of the e-mails I received as I thought this would create the impression I was offline, busy accumulating experience, while in fact I spent a good amount of time online, especially in the late afternoon and early evening, looking at videos of terrible things.“ (ebd.: 18f.)

Seinen Freunden in den USA erzählt er, er habe in seinem Apartment keinen Internetzugang. Seine neuen Freunde in Madrid können ihn telefonisch nicht erreichen, ebenso wenig die Stiftung.[2]

Während bei Lerner die Arbeit des Ich-Erzählers an seinen Gedichten und die Auseinandersetzung mit seiner Position als Künstler thematisiert wird, ist bei Groß von Kunst keine Rede (abgesehen von dem Rapper Jellyfish P, der unter massivem Drogeneinfluss an seinem neuen Album arbeitet). Lerner thematisiert darüber hinaus auch das Verhältnis von Kunst zu Arbeit, indem er ein Milieu beschreibt, in dem nicht gearbeitet werden muss. Teresa übersetzt Gedichte, Arturo und Rafa betreiben eine Galerie, alle drei entstammen Familien, die ihr Geld – wie sie selbstironisch reflektieren – nicht mit dem Schreiben von Gedichten verdient haben („Teresa said something about banks. (…) Arturo said they didn’t make (money) by writing poetry and we laughed“ [ebd.: 139]).

In Flexen in Miami wird keines der Themen, die durch die Anlage der Erzählung angedeutet werden, ausgeführt: Das Stipendium wird weder zum Schreiben noch zur Reflektion über Kunst genutzt, es findet keine Auseinandersetzung oder Entwicklung durch die Auslandserfahrung statt und auch der beständig intensiver werdende Drogenkonsum und das Versinken in dem Computerspiel werden nur dargestellt, nicht aber reflektiert. Flexen in Miami lässt sich daher vielleicht als Parodie auf die Erwartungen der Literaturwelt an den Roman über die Digitalisierung lesen, schöpft aber auch dieses Potential nicht aus. Was zunächst als selbstironische Spiegelung des Alltags eines zumindest zeitweise nicht zur Lohnarbeit verpflichten Schriftstellers in Zeiten von Social Media, Computerspielen und allerlei Ablenkungen durch das Internet gelesen werden kann, führt schließlich nicht mehr aus der Welt der Sportwetten, Drogen und aus Cloud Control heraus.   

Kunst, Kreativität, Gamification

In Allegro Pastell wird die Ähnlichkeit der Lebensmodelle von selbständigen Kreativarbeitenden und Autor:innen beschrieben – der Webdesigner Jerome und die Schriftstellerin Tanja arbeiten mobil, benötigen nur ihr Notebook zum Arbeiten und können sich ihre Zeit frei einteilen, was ihnen – in stets gut durchdachter Ausbalancierung von Disziplin und Ausschweifung – mühelos gelingt. Randts Roman ist in Bezug auf die Beschreibung von Social Media fast anachronistisch (und ähnelt in dieser Hinsicht Ben Lerners Text) – im Vordergrund stehen weder die damit verbundene ständige potentielle Erreichbarkeit noch die Ablenkung durch zahlreiche Apps. Die Nachrichten, die Tanja und Jerome einander schreiben, sind immer wohl durchdacht und ausformuliert. Mails werden genutzt, um mit Abstand noch einmal in aller notwendigen Komplexität und Länge über Dinge zu reflektieren, die in der direkten Kommunikation zu kurz gekommen sind.

In Flexen in Miami erlebt der Protagonist das Gegenteil von Reflektiertheit und Selbstbestimmung: er ist dem Internet und der Welt von Cloud Control völlig ausgeliefert und steigert diesen Zustand noch durch zunehmenden Drogenkonsum. Die suchtauslösenden Wirkungen von Drogen, Spiel und dem interaktiven Medium Internet werden bei Groß enggeführt – soweit, dass schon kurz nach Beginn des Romans das Ziel des Stipendiums nicht einmal mehr erwähnt wird. Weder Kreativität noch Kunst kommen bei Groß gegen die gamification des Alltags und die damit verbundenen Versprechen der ständigen Unterhaltung an.

Bei Berit Glanz werden Kunst, Kreativität und gamification gezielt miteinander verwoben. Beta interessiert sich für Kunst, besucht Museen und verfolgt die Geschichte um das Hamburger Künstler:innenpaar Lavinia Schulz und Walter Holdt. Sowohl ihre Arbeit als auch ihre Freizeit sind stark vom Spielcharakter aller Tätigkeiten geprägt – nicht jedoch im Sinne des Abdriftens wie bei Groß, sondern als kreativitätsfördernd und strukturgebend zugleich. Sowohl die Hauptfigur Beta als auch der Plot, der auf die Gegenüberstellung von avantgardistischen Künstler:innenzirkeln und der Welt der Start-ups setzt, entsprechen den von Andreas Reckwitz beschriebenen Entwicklungen der Gegenwart:

„In der Gegenwartsgesellschaft haben sich die Anforderung und der Wunsch, kreativ zu sein und schöpferisch Neues hervorzubringen, in ungewöhnlichem Maße verbreitet. Was ehemals subkulturellen Künstlerzirkeln vorbehalten war, ist zu einem allgemeingültigen kulturellen Modell, ja zu einem Imperativ geworden.“ (Reckwitz 2012, Klappentext)

Dieser Imperativ wird von Berit Glanz in Pixeltänzer nicht nur in einem fiktionalen Text umgesetzt, sondern geradezu idyllisch verklärt: Die Start-up-Szene wird als ständig gut gelaunt, kreativ und produktiv beschrieben. Betas Freizeit wird von Tiermodellen, Eisdielen und Ausflügen dominiert.  

Zugleich nutzt der Roman selbst auch Elemente der gamification (oder traditioneller formuliert: der Interaktion), indem er die Lesenden einbindet. Einerseits werden sie, wie bereits beschrieben, in Bezug auf neue Arbeitsformen und das Programmieren didaktisch geschult und andererseits – zusammen mit der Hauptfigur Beta – zum Entschlüsseln von (versteckten) Informationen aufgefordert. Dazu tragen nicht nur die im Text eingebundenen Links bei, die auf existierende Internetseiten verweisen und die Lesenden zu einem Medienwechsel anregen sollen, sondern auch die wahre Geschichte um Lavinia Schulz und Walter Holdt, die recherchiert werden kann. Darüber hinaus enthält der Text viel Symbolik, die sich entschlüsseln und interpretieren lässt. So verweist etwa der Vorname der Protagonistin Beta nicht nur auf die Testversion, sondern lässt sich auch als Abkürzung von Elisabeth (ein Name, der wiederum etymologisch „Gott“ und „Fülle“ in sich trägt) mit Bezug auf die digitalisierte Welt deuten. Neue Entwicklungen werden darüber hinaus oft mit Traditionen verbunden, etwa wenn Bezüge zwischen Avataren und Masken hergestellt werden.

Darüber hinaus wird das Programmieren/Coden anhand der Tiermodelle, die Beta in ihrer Freizeit gestaltet, als kreative, handwerkliche und autonome Tätigkeit dargestellt. Für Beta besteht kein Unterschied darin, ob sie in ihrer Arbeit oder Freizeit programmiert, ebenso wenig scheint sie Wert darauf zu legen, welchen kommerziellen Zwecken die Apps, die sie nutzt oder mit ihren Arbeitskolleg:innen programmiert, dienen. Einerseits wird in Pixeltänzer der Spielcharakter der Arbeitswelt beschrieben, andererseits wird implizit aber auch der Arbeitscharakter der Freizeit deutlich. 

Beziehungen

Beta nutzt das Internet und ihre Programmierfähigkeiten auch, um ihre romantischen Bedürfnisse zu erfüllen: Durch eine Weck-App, deren Nutzer:innen jeden Morgen durch ein dreiminütiges Gespräch mit Menschen aus aller Welt geweckt werden, lernt sie Toboggan kennen. Sie ist von seinem Avatar begeistert und beginnt, sich mit ihm zu beschäftigen. Dadurch entdeckt sie die Toboggan-Maske des Tänzerpaares Lavinia Schulz und Walter Holdt. Mit dem Ziel, mit Toboggan in Kontakt zu treten, setzt sie ein Blog auf. Dies gelingt ihr auch und fortan wartet sie auf versteckte Zeichen von ihm, die sie entschlüsseln muss. Auf diese Weise erhält sie von Toboggan in sich abgeschlossene Texte, die von Lavinia Schulz erzählen und als Binnenerzählungen in den Roman eingefügt sind. Beta recherchiert ihrerseits zu dieser Geschichte und verfasst auf ihrem Blog Briefe an Toboggan, in denen sie von ihrem Leben und ihrer Leidenschaft für Insekten erzählt. Auf diese Weise fügt Glanz in die vom Internet dominierte Romanwelt eine naturalistisch-romantische, sehr schlicht erzählte Geschichte ein, die von den persönlichen und künstlerischen Ausbruchsversuchen der expressionistischen Künstlerin erzählt. Diese Geschichte und die Briefe von Beta an Toboggan bilden den Kontrapunkt zu Betas technik- und internetdominiertem Alltag. Toboggan erweist sich als informierter Geschichtenerzähler, der schließlich bei der Präsentation des Tech-Bus-Startups erscheint, um einen letzten Text zu hinterlassen und schließlich, als Beta – wie im Blog angekündigt – am darauffolgenden Vormittag die Masken im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe besichtigt, am Ende der Ausstellung auf sie wartet.

Während Beta Toboggan über digitale Medien kennenlernt und darüber auch mit ihm kommuniziert, sind in Allegro Pastell Medien in Bezug auf die Beziehungsebene der Protagonist:innen kaum relevant. Die Personen, mit denen Jerome Kontakt hat, kennt er aus dem sogenannten echten Leben – die Medien, vor allem Messenger und E-Mails, dienen hauptsächlich der Kommunikation. Bei Groß findet am ehesten eine Vermischung statt – sein Protagonist kommuniziert über das Spieleforum mit Personen, die er persönlich nicht getroffen hat, Claire trifft er allerdings bei einem NBA-Spiel. Vergleichend lässt sich festhalten, dass bei Glanz alle beschriebenen Beziehungen durch digitale Medien geprägt sind, bei Randt Medien selbstbestimmt zur stets reflektierten Kommunikation genutzt werden und bei Groß eine Vermischung zwischen der Interaktion mit Personen aus der realen Welt und den Avataren in Cloud Control stattfindet. In allen drei beschriebenen Romanen ist der Einfluss von Medien auf Beziehungen jedoch nicht das eigentliche Thema: bei Glanz scheint er selbstverständlich, bei Randt ist er Teil der Reflexion über Beziehungen im 21. Jahrhundert, bei Groß fehlt die reflexive Ebene größtenteils ganz.  

Der Text ist ein Auszug aus dem folgenden Aufsatz: Diana Hitzke: „Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur.“ Andreas Langenohl, Katrin Lehnen und Nicole Zillien (Hg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt/New York: Campus 2021, 243-267.

Literatur

Glanz, Berit (2019), Pixeltänzer, Frankfurt a.M.

Groß, Joshua (2020), Flexen in Miami, Berlin.

Lerner, Ben (2011), Leaving the Atochia Station, London.

Randt, Leif (2020), Allegro Pastell, Köln.

Reckwitz, Andreas (2012), Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin.


[1] Während bei Leif Randt die Natur – wenn auch immer leicht ironisch – durchaus eine Rolle im Leben der Protagonist:innen spielt (Jerome lebt am Rande eines Naturschutzgebiets, sie machen Ausflüge an den Rhein usw.), wird sie bei Glanz und Groß zum Fluchtpunkt – in beiden Texten werden Roboter in die Freiheit entlassen: bei Glanz ein Fischroboter in die Spree, bei Groß ein Staubsaugroboter in den Ozean. In Sudjics Sympathy werden das Notebook und das Smartphone von Mizuko im Wasser versenkt – hier werden die technischen Geräte jedoch nicht in die Freiheit „entlassen“, sondern die Medien sollen endgültig stumm gestellt werden. 

[2] „I didn’t have a phone, and they didn’t know exactly where I lived“ (ebd.: 21).

 

Verschiedene Cover: Patricia Lockwood, Olivia Sudjic, Sammelband Digitaler Habitus, Leif Randt, Joshua Groß, Berit Glanz

Reflexionen über Digitalisierung in der Literatur

Mir war das Smartphone in die Badewanne gefallen, und als ich begriff, dass ich weder ein Foto davon für Instagram machen noch sofort darüber twittern können würde, war das eine wirklich schräge Erfahrung.

Christiane Frohmann

Es mag zunächst kontraintuitiv erscheinen, ausgerechnet im klassischen Medium Buch nach Reflexionen über Digitalisierung zu suchen. Gerade im traditionellen Medium der Literatur – nämlich in Büchern, die von Verlagen verbreitet werden und durch Literaturkritik bzw. Literaturpreise gesellschaftliche Relevanz erlangen – zeigt sich, wie tief die Transformation durch die Digitalisierung nicht nur diejenigen Bereiche durchdringt, die direkt von ihr beeinflusst werden. Sie wirkt sich auch auf Bereiche aus, die gern als Kontrapunkt bzw. Gegenwelt dazu wahrgenommen werden. Der Erfolg einer ganzen Reihe von Autor:innen und Texten, die sich positiv auf die Digitalisierung beziehen und diese auch strukturell in ihren Poetiken mitdenken, ist insbesondere vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass Handlungen selbst in der Gegenwartsliteratur gern in technikarme Umgebungen verlegt werden, wie Kathrin Passig völlig richtig bemerkt (Passig 2019: 33).

Dass das klassische Medium Buch keinesfalls obsolet wird, um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Literatur zu analysieren, zeigt sich auch daran, dass selbst Texte, die auf ein medienaffines Publikum zielen und auf Twitter veröffentlicht worden sind – so etwa die Tweets von Sarah Berger (Twitteraccount bis 2019: @milch_honig, neuer Account @fem_poet, letzter Zugriff 23.03.2021) oder die Kurzgeschichten in Tweet-Länge des kroatischen Autors Dragan Babić (Twitteraccount: @draganbabic, letzter Zugriff 23.03.2021) – später als Bücher veröffentlicht worden sind. Kathrin Passig beschreibt zutreffend, dass das Medium Buch einem Text Ernsthaftigkeit und Sinn verleihen kann: „Je erklärungsbedürftiger das Projekt, desto nützlicher ist das Buch als Verständnishilfe.“ (Passig 2019: 104).

Die Reflexion über Digitalisierung findet in literarischen Texten auf ganz unterschiedliche Art und Weise statt. Neben Romanen, in denen die Digitalisierung zum Hauptthema gemacht wird, gibt es eine ganze Reihe von Texten, in denen die Beschreibung einer von Technik, Computerspielen und sozialen Medien geprägten Welt im Vordergrund steht. Sie setzen sich mit einer mehr oder weniger in der Gegenwart angesiedelten digitalisierten Welt auseinander und bilden einen von Medien durchdrungenen Alltag ab.

Auch die Erfahrung von Intermedialität wird in den Texten sichtbar gemacht bzw. zum Teil auch direkt in die Texte integriert. Bei Joshua Groß finden sich zwei unterschiedliche Verfahren, um andere Medien in den Text einzuarbeiten: Einerseits werden die Erlebnisse des Protagonisten in der fiktiven Wirklichkeit und in einem Computerspiel so beschrieben, als würden sie auf derselben Ebene stattfinden. Andererseits werden einige Ereignisse – so etwa ein Kinobesuch, der durch die minutiöse, monotone Nacherzählung der Handlung geschildert wird – als in sich abgeschlossen dargestellt, in diesem Fall sogar im Druckbild abgehoben. Auch bei Berit Glanz werden längere in sich geschlossene Textpassagen – Briefe und eigenständige Erzählungen –, aber auch Links und Programmierbefehle in den Text integriert. Auch die Nachrichten (sowohl Textnachrichten als auch E-Mails), die sich Tanja Arnheim und Jerome Daimler in Leif Randts Allegro Pastell (2020) gegenseitig schreiben, sind sichtbar in den Text eingefügt. Neben diesen Elementen der Intermedialität und Interaktivität zeigt sich in einer ganzen Reihe von Texten der Gegenwart, wie die Digitalisierung den Alltag und die Handlungsoptionen von Menschen verändert. Die literarischen Texte reflektieren darüber, wie gewohnte Narrative über zwischenmenschliche Beziehungen, Arbeit und Freizeit, Selbstentfaltung oder Sicherheit sich verändern und wie Literatur darauf zwangsläufig reagieren muss, wenn sie nicht unglaubwürdig, realitätsfern oder eskapistisch wirken möchte.

Leif Randts Allegro Pastell reflektiert auch darüber, wie sich (Fern-)Beziehungen und Kommunikationsstrukturen verändern, wenn der oder die andere prinzipiell ständig erreichbar ist. Das Einfügen der Nachrichten bei Randt lässt sich daher nicht darauf reduzieren, dass lediglich ein veränderter Lebensstil mit neuen technischen Utensilien und den damit einhergehenden Kommunikationsarten abgebildet wird. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich solche Veränderungen im Alltag zwangsläufig auch auf Plots und Handlungsverläufe in fiktionalen Texten auswirken. Eine große Abschiedsszene am Bahnhof verliert an Bedeutung und Glaubwürdigkeit, wenn die Erreichbarkeit des oder der anderen nach dem Einstieg in den Zug weiterhin gewährleistet ist. Im Text müsste eine solche Szene zumindest plausibel gemacht werden – etwa durch nicht vorhandenes W-LAN oder einer Verweigerung von Telefon und/oder Internet –, um nicht völlig anachronistisch zu wirken. Olivia Sudjic führt in ihrem Roman Sympathy (2017) auf komplexe Art und Weise vor, wie sich Internet und Social Media auf die Wahrnehmung von Wirklichkeit auswirken, sie zeigt aber zugleich durch die Einbindung von Personen aus verschiedenen Generationen, dass die Gegenwart durchaus auch andere Perspektiven bereithält und dass auch in der Generation der sogenannten Digital Natives Erfahrungen gemacht werden, die nicht durch digitale Medien vermittelt sind. Sudjics Roman transportiert die Erfahrung, nicht vorhandene Erreichbarkeit und Konnektivität ständig plausibel machen zu müssen – etwa durch die Verweigerung bestimmter Medien durch gewisse Personen, durch die Abwesenheit von W-LAN an bestimmten Orten oder durch leere Akkus in bestimmten Situationen.

Während bei Sudjic die Beschreibungen von Situationen, in denen die Grenze zwischen Online und Offline auch in der Gegenwart weiterhin besteht, großen Raum einnimmt, spielt zum Beispiel bei Berit Glanz die Abgrenzung zwischen Online und Offline kaum eine Rolle, weil die Protagonistin die meiste Zeit online ist. Während Sudjic die (verdeckte) Normalität von Situationen ohne Internet in der Gegenwart (Orte ohne W-LAN, leere Akkus usw.) antizipiert, wird bei Berit Glanz in Pixeltänzer (2019) die Fiktion einer stets vernetzten Welt erzeugt. Situationen ohne Internet stehen dort für die Provinz: So erlebt die Protagonistin bei einem Ausflug in den Spreewald eine Welt mit schlechtem W-LAN, was auch gleich zu einem Streit führt (bezeichnenderweise zum einzigen Streit in dem ganzen Text), da niemand die Scrabble-Regeln online nachschauen kann.

Viele Romane, die sich mit Technologien und Digitalisierung beschäftigen, setzen ein gewisses technisches Wissen sowie praktische Erfahrungen nicht nur mit sozialen Medien, sondern auch im Bereich des Programmierens voraus, um deren Wirklichkeitsbezug angemessen einschätzen zu können. Wenn Handlungen nicht explizit in die Zukunft verlegt oder als utopisch bzw. dystopisch gekennzeichnet werden, dann spielen diese Texte mit der Unsicherheit der Lesenden in Bezug auf die Frage, was in der Gegenwart bereits (theoretisch) möglich ist, was ein Zukunftsszenario sein könnte und was wiederum in den Bereich der Fantasie fällt. Ein gutes Beispiel für einen Text, der mit diesen Grenzbereichen spielt, ist Joshua Groß‘ Roman Flexen in Miami (2020). Der Erzähler lebt in einem Apartment in Miami und bekommt von einer Stiftung, die ihm durch ein Stipendium sein Leben finanziert, täglich mit einer Drohne Astronautennahrung angeliefert – ein unwahrscheinliches, aber durchaus mögliches Szenario. Später bekommt er auch einen „smarten“ Kühlschrank, der zu Beginn vor allem die darin befindlichen Nahrungsmittel aktualisiert oder Bescheid gibt, wenn die Milch abläuft. Zunehmend wird der Kühlschrank aber zu einem Gesprächspartner des Protagonisten, der sich auch emotional an seinem Leben beteiligt und zu einem Freund wird. Parallel dazu entwickelt sich die Erzählung sukzessive zu einer Fiktion, in der sich die Handlungen des Protagonisten in einem Videospiel namens Cloud Control, in das er sich gleich zu Beginn vertieft, kaum noch von denen in der – auch zunehmend von allerlei Drogen beeinflussten – Realität unterscheiden lassen.

Eine ganze Reihe von Texten der Gegenwart (so zum Beispiel die bereits erwähnten Romane, Leif Randts Allegro Pastell oder Olivia Sudjics Sympathy) integrieren jedoch digitale Medien, ohne den Wirklichkeitsbezug der fiktiven Welt in Frage zu stellen und ohne explizit Medien- oder Kapitalismuskritik in Form von Dystopien zu üben. Die Beschäftigung mit Literatur setzt – wenn sie im Sinne von Poetizität/Literarizität, Fiktionalität bzw. Narrativität verstanden wird – grundsätzlich voraus, dass sie nicht an ihrer Referenzbeziehung zur Wirklichkeit gemessen wird und dass diese allein nichts über die Qualität literarischer Texte aussagt. Aus diesem Grund besteht zwischen Texten oder Textstellen, welche die Digitalisierung oder mit der Digitalisierung assoziierte Techniken (nichtlineare Schreib- und Leseprozesse, Zufallsprinzip, Kopieren usw.) imaginieren und solchen, die sie tatsächlich voraussetzen oder als Verfahren verwenden, zunächst kein kategorialer Unterschied. Ob die in Romanen beschriebenen Smart Cities und Technologien oder die Arbeitsweise von Programmierer:innen in fiktionalen Texten der Wirklichkeit entsprechen, ist genauso interessant (oder eben uninteressant) wie die Frage danach, ob die Straßen und Cafés in einem Berlinroman tatsächlich existieren und adäquat beschrieben sind.

Literatur

Der Text ist ein (leicht variierter) Auszug aus dem folgenden Aufsatz: Diana Hitzke: „Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur.“ Andreas Langenohl, Katrin Lehnen und Nicole Zillien (Hg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt/New York: Campus 2021, 243-267.

Frohmann, Christiane (2018), Präraffaelitische Girls erklären das Internet, Berlin.

Glanz, Berit (2019), Pixeltänzer, Frankfurt a.M.

Groß, Joshua (2020), Flexen in Miami, Berlin.

Passig, Kathrin (2019), Vielleicht ist das neu und erfreulich: Technik. Literatur. Kritik, Graz/Wien.

Randt, Leif (2020), Allegro Pastell, Köln.

Sudjic, Olivia (2017), Sympathy, London.

Bilder bauen, Bulimie als Metapher und andere Stilübungen: Yade Yasemin Önder

Dass Önder es ernst meint mit der Literatur, wird gleich auf der ersten Seite klar. Ihr Text beginnt ekphrastisch mit folgendem Bild:

An einem Tag ein Jahr nach Tschernobyl wurde ich auf einer Wiese geboren. Geschrien haben muss ich lang, und dunkel war meine Stimme schon bei der Geburt, sagte man mir. Auf die Wiese hat mein Vater eine Dreizimmerwohnung gebaut und meine Mutter bestand nicht auf einer Badewanne. Die Gegenstände stellten wir auf Grashalme und Moos, und das Wetter tat sein Übriges: Ausgebleicht waren alle von der Witterung, vor allem die aus Holz. Die Füße faulten sicherlich, doch das war uns egal. Egal war aber nicht, der Herd kam zu spät, es war schon Dezember, erst dann konnte die Milch, die nicht von meiner Mutter stammte, in einem kleinen roten Töpfchen erhitzt werden. Das schmeckte mir, dann grinste ich, und mein Vater steckte mir einen Grashalm in den zahnlosen Mund, und meine Mutter drückte auf den Polaroidknopf, und fertig war unsere Dreizimmerwohnung im Park.

Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2022.

Önder entwickelt ein Bild – eine Wohnung, die auf einer Wiese gebaut wird, vom Familienvater für die Mutter und das Kind. Die Mutter drückt zum Abschluss auf einen Polaroidknopf. Dadurch wird die Szene nun explizit zum Bild gemacht, allerdings zu einem, das noch zu entwickeln ist. Das Bild wird dadurch vervielfacht, der Text ist von Beginn an selbstreferenziell. Es gibt das Bild der Wohnung, die vom Vater aufgebaut wird. Die Betrachterinstanz des Bildes ist die Ich-Erzählerin im Moment ihrer Geburt. Die Mutter schließlich macht ein Bild von dem Bild – ein Polaroid, d.h. eines, das direkt entwickelt und damit materialisiert wird. In der anschließenden Szene betrachtet die erwachsene Tochter dieses Bild. Die Leser:innen haben es somit mit drei Bildern zu tun, die von den drei Figuren (Kind, Vater, Mutter) geschaffen werden. Die synästhetische Wirkung der ekphrastischen Beschreibung und das surreale Element (das Bauen der Wohnung auf einer Wiese), bewirken, dass sich von Anfang an ein Rahmen zwischen Realität, Phantasie, Traum und Kunst aufspannt.

Nicht nur, dass dieser erste Absatz mit der rhetorischen Form der Ekphrasis aufwartet und Selbstreferentialität den Beginn des Textes markiert (der Text beginnt mit der Geburt der Ich-Erzählerin, die ein Bild beschreibt), er enthält zugleich auch allerlei intertextuelle Anspielungen. Der Vater baut eine Art Puppenheim – die Referenz auf Ibsens Theaterstück „Nora oder Ein Puppenheim“ gelingt auch ohne direkte Bezugnahme, die Enge und das Gefühl des Eingesperrtseins werden im Bild einer vom Vater gebauten Wohnung auf einer Wiese bereits deutlich. Ibsens Protagonistin Nora widersetzt sich den Geschlechterzuschreibungen der damaligen Zeit und versucht schließlich, daraus ausbrechen.

In einer der folgenden Passagen wird Hannelore Kohl als „unsere Nachbarin, die damals mit ihrem dicken Mann neben uns einzog“ (ebd. 6) eingeführt und damit eine typisch patriarchale Paarkonstellation. Die Anspielung auf die Kohls evoziert einerseits die gesellschaftspolitische Stimmung in den 80er und 90er Jahren in der Bundesrepublik während Helmut Kohls 16-jähriger Kanzlerschaft. Andererseits wird durch die Betonung des Gewichts des Mannes, das sowohl bei Kohl als auch bei dem Vater der Protagonistin eine Rolle spielt, das Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau im wortwörtlichen Sinne besonders sichtbar gemacht. Das öffentliche Bild von Hannelore Kohl ist nicht nur das der perfekten Ehefrau und Mutter, sondern auch das einer von Gewalterfahrung und Krankheit gezeichneten Frau, die zuletzt an einer Lichtallergie litt, die es ihr unmöglich machte, bei Tageslicht das Haus zu verlassen.

Krankheit ist ein weiteres Motiv, das Önders Debütroman prägt. Das extreme Übergewicht des Vaters wird als Krankheit diagnostiziert – dem wird innerhalb der Erzählung die Bulimie der Tochter gegenübergestellt. Das bulimische Verhalten der Ich-Erzählerin bildet einen auffälligen Kontrast zu dem übergewichtigen Vater. Das Thema Bulimie ist in der Gegenwartsliteratur durchaus präsent, so etwa in Lana Lux‘ Jägerin und Sammlerin oder in Sofi Oksanens Stalins Kühe. Bulimie wird bei Önder jedoch nicht nur psychologisch als eine sich in der Pubertät entwickelnde Erkrankung einer jungen Frau beschrieben, sondern auch auf die Ebene struktureller Geschlechterverhältnisse gehoben. Darauf weist nicht nur die Polarisierung zwischen dem übergewichtigen Vater und der untergewichtigen Tochter hin, sondern auch die Anspielung auf Helmut Kohl als erfolgreichem dicken Mann und dessen vorbildlicher, aber kranker Ehefrau Hannelore. Dies nur als Gegenwartsbezug – als Verweis auf patriarchale Konstellationen in der westdeutschen Gesellschaft – zu lesen, greift jedoch zu kurz.

Önders Roman arbeitet sich auch an der Frage ab, wofür Bulimie als Metapher steht. In Susan Sontags Essay Krankheit als Metapher, in der sich die amerikanische Essayistin mit (dem auch bei ihr diagnostizierten) Krebs auseinandersetzt, werden die Metaphern, die in Zusammenhang mit Krebs und mit Tuberkulose gebraucht werden, analysiert (in einem Folgeessay beschäftigt Sontag sich auch mit Aids). Während Krebs von Sontag als „eine Krankheit des Mittelstandslebens, eine mit Überfluß, mit Exzeß assoziierte Erkrankung“ (Sontag: 17) beschrieben wird, werde die Tuberkulose als „eine Krankheit der Armut und Entbehrung“ (17) imaginiert. Sontag trägt in ihrem Essay verschiedene Vorstellungen über die beiden Krankheiten zusammen, sie bezieht sich dabei auf medizinische, literarische und psychologische Diskurse.

In einer Passage stellt sie das Bild der Tuberkulosekranken, die sie später mit dem Leben der Boheme in Verbindung bringen wird, den erfolgreichen Männern des 19. Jahrhunderts gegenüber:

Viele der literarischen und erotischen Verhaltensweisen, die als romantischer Schmerz bekannt sind, stammen von der Tuberkulose und ihren Umformungen durch die Metapher. Der Schmerz wurde romantisch in einer stilisierten Darstellung der einleitenden Symptome der Krankheit (beispielsweise wird Entkräftung in Sehnsucht umgewandelt), und der tatsächliche Schmerz wurde einfach ausgespart. Abgezehrte, hohlbrüstige junge Frauen und bleiche, rachitische junge Männer wetteiferten miteinander als Kandidaten für diese (zu jener Zeit) fast völlig unheilbare, entkräftende, wirklich schreckliche Krankheit. „Als ich jung war“, schrieb Theophile Gautier, „konnte ich als Lyriker niemanden akzeptieren, der mehr als 99 Pfund wog.“ (…) Nach und nach wurde die tuberkulöse Erscheinung, die eine anziehende Verletzlichkeit, eine überlegene Sensibilität symbolisierte, in zunehmendem Maße zum idealen Aussehen der Frauen – während bedeutende Männer des mittleren und späten 19. Jahrhunderts dick wurden, Industrieimperien gründeten, Hunderte von Romanen schrieben, Kriege führten und Kontinente plünderten.

Susan Sontag: Krankheit als Metapher/Aids und seine Metaphern. Frankfurt a.M.: Fischer 2003 (1977/78 und 1988/89).

Yade Yasemin Önders Debütroman lädt zu Interpretationen ein – nicht nur, weil die geschilderten Szenen von Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit geprägt sind und es oft zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Realität, Phantasie und Unbewusstem kommt. Sondern vor allem durch die explizite Literarizität, die sich in intertextuellen Verweisen, Metaphern und Motiven, aber auch in der strengen Form zeigt, die den ganzen Text durchzieht. Es gibt verschiedene Variationen ein- und derselben Szene, Listen, Wiederholungen und Aufzählungen. In den Verweisen nimmt Önder Bezug auf Raymond Queneaus Stilübungen.

Raymond Queneau: Stilübungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968 (1947).

Önder arbeitet sehr bewusst mit der Sprache, sie setzt Reime und Rhythmen sowie weitere Stilübungen ein, wodurch immer wieder Interpretationsspielräume eröffnet werden, die weniger auf die Handlung selbst bezogen sind, sondern vielmehr aus dem Text heraus, hin zu anderen literarischen und essayistischen Werken führen und auch auf gesellschaftspolitische Debatten in intersektionaler Dimension Bezug nehmen. Was für ein Buch!

Das Bild zeigt das Cover von Dincer Gücyeters Unser Deutschlandmärchen, abgebildet sind ein kleiner Junge und seine Mutter

Unser Deutschlandmärchen – der Debütroman des dichtenden Gabelstaplerfahrers und Verlegers Dinçer Güçyeter

Unser Deutschlandmärchen ist der von einigen schon lang erwartete Roman von Dinçer Güçyeter, dem Verleger und Teilzeit-Gabelstaplerfahrer aus Nettetal, der bereits mit dem Elif-Verlag und als Dichter auf sich aufmerksam gemacht hat. Er nimmt Teil an einer in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur neu aufflammenden Auseinandersetzung mit dem Verhältnis nicht nur von (Lohn-)Arbeit und Schreiben, sondern auch mit den als immer noch in Widerspruch zueinander stehenden Berufen von Arbeiter:innen und Schriftsteller:innen. Anders als bei den bekannten französischen Autor:innen, die für dieses Thema stehen, so etwa Édouard Louis oder die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, geht es in der neuen deutschen Arbeiter:innenliteratur allerdings nicht darum, sich aus dem bildungsfernen Milieu, dem vermeintlichen Sumpf, der aus Ausbeutung und körperlicher Erschöpfung besteht, herauszuschreiben, um dieses aus guten Gründen zurückgelassene Umfeld dann entweder in herablassender Distanz oder empathischer Rückschau literarisch oder biografisch zu erkunden.

Dinçer Güçyeter oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen, Domenico Müllensiefen, beschreiben eine Welt, die aus Anweisungen, Alkohol, Sexismus, Machtlosigkeit und Unterdrückung, natürlich aber auch aus Spaß und Gemeinschaftsgefühl, weitaus häufiger jedoch aus Arbeitsunfällen, Krankheit und Ignoranz besteht. Die Protagonist:innen stehen mittendrin in dieser Welt, der Elektriker bei Müllensiefen muss in der Lehre lernen, den Vormittag mit einem Bier zu beginnen und sexistische Witze zu machen, die Ausbildung zum Werkzeugmacher bei Dinçer Güçyeter zwingt seinen gleichnamigen Protagonisten dazu, dem dort üblichen harten Umgang miteinander einen Ausdruck für die zarten Seiten seiner Persönlichkeit abzuringen, die in der Werkhalle keinen Platz zu haben scheinen.

Dinçer Güçyeter ist als Dichter und Verleger des Elfi-Verlags bekannt geworden, sein Alleinstellungsmerkmal ist das Gabelstapelfahren in Teilzeit (er beschreibt dies in dem Band Brotjobs & Literatur) – damit ist er von Anfang an als Arbeiter in Erscheinung getreten. Es hat den Anschein, dass er sich gar nicht erst damit aufhält, den in der Literatur bereits durchexerzierten Weg zu beschreiten, der oft mit dem Verschweigen der eigenen Herkunft beginnt und oft erst nach dem erfolgreichen Ankommen im Bildungsbürger:innentum zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen, oft schambesetzten Aufstiegsgeschichte führt. Im Gegenteil, ähnlich selbstbewusst wie Christian Baron oder der bereits erwähnte Domenico Müllensiefen bricht Güçyeter mit der Übereinkunft, dass die körperliche Arbeit im Literaturbetrieb nichts zu suchen hat, es sei denn als literarisches Motiv.

Dinçer Güçyeter versteift sich aber auch nicht auf den Arbeiter:innenstolz, der bei anderen Autor:innen, die sich diesem Thema widmen, immer wieder durchscheint. Er widersteht der Versuchung, die Arbeit in der Fabrik romantisch zu verklären oder sie gar den zarten Gesprächsrunden, sauberen Denkbewegungen und während künstlerischer Residenzen bei freier Kost und Logis ausgelebten Schreibblockaden der Intellektuellen als vermeintlich authentischere Form des Broterwerbs vorzuziehen. Dinçer Güçyeter verschweigt auch nicht, dass das Gabelstaplerfahren notwendig ist, um den Verlag zu finanzieren, in dem er Gedichte verlegt.

Worum geht es nun in Unser Deutschlandmärchen, Güçyeters Debütroman, den der Mikrotext-Verlag damit anpreist, dass er nichts auslässt? In einer Mischung aus Familiengeschichte und Coming-of-Age-Roman wird von der Arbeit in der Fabrik, auf dem Feld und in der Familie erzählt, von türkischen Dörfern, traditionellen Geschlechterordnungen und der deutschen wie auch der türkischen (sozusagen gesellschaftsübergreifenden) Doppelmoral. Es geht um ein Leben in Lobberich als Teil einer Gemeinschaft von Migrant:innen und Arbeiter:innen, als Teil einer Familie, die zum Arbeiten nach Deutschland gekommen ist und sich im Sommer in einem Dorf in der Türkei versammelt. Den Kern der kurzen (mit der Genrebezeichnung Roman unnötig überfrachteten) Geschichten, Fragmente und Gedichte, die abwechselnd aus der Perspektive von Mutter und Sohn erzählt werden, bilden die Auseinandersetzung mit den Erwartungen der Familie und Gesellschaft sowie das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Erzählt wird von Scham, vom Alltag im Arbeiter:innenmillieu, von Geld und Armut, toxischer Männlichkeit und überkommenen Rollenbildern, von Traditionen und Ausschlussmechanismen. Nicht unwichtig ist die Frage, welchen Raum Theater, Literatur und Kunst in einer solchen Welt haben können.

Zugleich verschränkt sich die Perspektive der Arbeiter:innen mit der migrantischen und – was ziemlich bemerkenswert ist – mit der weiblichen Sicht, der Stimme von Fatma, Dinçers Mutter, die nicht nur unermüdlich arbeitet, um die Familie zu ernähren, sondern sich auch um Mann und Kinder, darüber hinaus auch um die erweiterte Familie und Nachbarschaft kümmert. Güçyeter springt auf den Zug der Autofiktion auf – private Familienbilder zeugen relativ ungebrochen von der Authentizität seiner Geschichte. Es ist ein feministischer, migrantischer und ein Arbeiter:innenroman zugleich. Einen weiteren Reiz des Textes macht die Distanz aus, die ein Gegengewicht zur Authentizitätsbehauptung bildet – alle Kapitel durchzieht ein Abstand zu den verschiedenen Milieus und ihren Diskursen. Dinçer Güçyeter hütet sich vor Idealisierung – und hält dies in alle Richtungen konsequent ein.

Eine Textstelle beschreibt, wie der Ort Lübberich täglich um 14 Uhr vom Schichtwechsel in den Fabriken geprägt war. Die Arbeiter:innen strömten in großen Massen aus und in die Fabriken, dafür nutzten sie die breite Straße, die durch den Park führte. Von dort aus blickten sie auf ein Restaurant, in dem die Bürger:innen der Stadt zu Mittag aßen.

Während die Bankiers, die Kaufmänner der Stadt, auf der Terrasse der Ingenhoven-Burg ihr Rotbarschfilet mit zwei gekochten Kartoffeln, dekoriert mit Schnittlauch, in Speiseglocken serviert bekamen, liefen die Arbeiter mit hängenden Schultern am Efeuzaun vorbei. Viele von ihnen standen immer wieder vor der Speisekarte am Burgtor und schüttelten angesichts der Preise mit dem Kopf. Mit dem Geld für ein Fischfilet mit zwei gekochten Kartoffeln könnte man bei Aldi einen ganzen Einkaufswagen füllen.

Dincer Gücyeter: Unser Deutschlandmärchen. Mikrotext Verlag, Berlin 2022, 154

Es hat den Anschein, als hätte Dinçer Güçyeter eine ähnliche Distanz zum idealisierten Literaturbetrieb, der sich immer noch nicht wirklich von der Genieästhetik verabschiedet hat und weiter am Ideal des nicht arbeitenden Schriftstellers festhält (siehe dazu die Texte verschiedener Autor:innen in Brotjobs & Literatur). Statt sich darüber aufzuregen, schüttelt er lieber den Kopf über den Preis, den er dafür zahlen müsste und schreibt über das, was ihn interessiert.

Damals bis heute war und ist mir bewusst, dass meine Texte in akademischen Kreisen kein Echo finden werden, sie werden Fetzen eines lyrischen Ichs bleiben. […] Nichts kommt auf das Blatt, was auf meiner Haut keine Spuren hinterlassen hat.

Dincer Gücyeter: Unser Deutschlandmärchen. Mikrotext Verlag, Berlin 2022, 191

Damit, dass Dinçer Güçyeters Texte kein Echo in akademischen Kreisen finden werden, täuscht er sich aber ganz sicher.

Dincer Gücyeter: Unser Deutschlandmärchen. Mikrotext Verlag, Berlin 2022

Der kleine feine Maro-Verlag: Lyrik von Wanda Coleman und Maro-Hefte zu Themen abseits des Mainstreams

Der Maro-Verlag wurde 1970 gegründet, er legt besonderen Wert auf die grafische Gestaltung seiner Bücher und hat neben Lyrik und Prosa unter anderem auch Plakate, Biografien und Sachbücher im Programm.

Besonders ins Auge fallen die MaroHefte, in denen, wie auf der Verlagswebsite zu lesen ist, „Essays auf Illustrationen“ treffen und die eine ganze Bandbreite an Themen abdecken, „zu Politischem, Abseitigem, Höchstwichtigem, Poetischem & Tabubehaftetem“ (ebd.). Die Hefte überzeugen durch die bunte grafische Gestaltung und den gewitzten, aber informativen Zugang zum Thema. Dabei werden nicht nur Themen behandelt, die im Mainstream häufig ausgeblendet werden. Neben Wissen – etwa im Heft zur Aromantik und Asexualität mit Texten von Carmilla DeWinter und Illustrationen von Jasmin Dreyer – werden auch Erfahrungen aus dem aktivistischen Alltag beschrieben.

Ein Highlight im Verlagsprogramm ist Wanda Coleman – der Lyrikband trägt einen spektakulären Titel, der allein schon für sich steht. Er lautet: strände. warum sie mich kaltlassen.

Den Gedichten vorangestellt ist eine kurze Einführung zur Autorin, zu ihrem Hintergrund als Schwarze, arbeitende, alleinerziehende Mutter. Sie steht im Widerspruch zum immer noch überall präsenten Ideal des männlichen, weißen, der autonomen Kunst frönenden und sich um sonst nichts kümmernenden Schriftstellergenies. Im literarischen Leben gilt sie als mehrfach marginalisierte Frau, die sich allerdings nicht davon abbringen lässt, Gedichte zu schreiben und auf Literaturfestivals präsent zu sein. Mit großer Selbstverständlichkeit schreibt sie als Frau, als Mutter, als Arbeitende, als Geliebte und als Schwarze Frau, deren Körper immer wieder zur Angriffsfläche wird.

Ein wunderbares Buch, unbedingte Leseempfehlung!

https://www.maroverlag.de/

Die Maro-Hefte: https://www.maroverlag.de/36-marohefte

Wanda Coleman: https://www.maroverlag.de/lyrik/239-straende-warum-sie-mich-kaltlassen-9783875124972.html

Cover von Manja Präkels: Welt im Widerhall oder War das eine Plastiktüte. Essays (blaue Schrift auf schwarzem Hintergrund) und Cover Viktor Funk: Wir verstehen nicht, was geschieht. Roman (weiße Schrift auf blauem Hintergrund)

Neues aus dem Verbrecher Verlag: Essays von Manja Präkels und ein Roman von Viktor Funk

Manja Präkels: Welt im Widerhall oder War das eine Plastiktüte. Essays. Berlin: Verbrecher Verlag 2022

Manja Präkels zeichnet in ihren Essays – die zu unterschiedlichen Zeitpunkten (zwischen 2011 und 2022) bereits in unterschiedlichen Medien erschienen und in diesem Band nicht nur zusammengestellt, sondern dramaturgisch gekonnt angeordnet und überarbeitet worden sind – ein Panorama, das sich von ihren Beobachtungen während der Corona-Pandemie in Berlin-Neukölln über leere und zugleich von No-Go-Areas durchzogene Landschaften in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hin zu Rückblicken auf das Aufwachsen in der DDR entfaltet, deren Kontinuitäten und Transformationen aus der Perspektive einer Fortgegangenen beschrieben werden. Diese kehrt immer wieder zurück, unternimmt Reisen in den noch immer als nahe empfundenen Osten (unter anderem zieht es sie in die Mongolei, nach Usbekistan, Kasachstan und China) und nähert sich im Rahmen verschiedener Schriftsteller:innenresidenzen in Lettland und in der ostdeutschen Provinz sowohl den Menschen und der Atmosphäre dort als auch ihren eigenen Erinnerungen und Ängsten.  

Cover von Manja Präkels: Welt im Widerhall oder War das eine Plastiktüte. Essays (blaue Schrift auf schwarzem Hintergrund)

Manja Präkels schreibt über die zunehmende Radikalisierung in den sogenannten Baseballschlägerjahren, über die Gewaltausschreitungen in Rostock und Hoyerswerda und darüber, dass die Ereignisse damals nicht etwa zu einer Verurteilung oder kritischen Auseinandersetzung mit den Taten in Politik und Gesellschaft geführt haben, sondern zu einer zunehmenden Normalisierung von Gewalt und Hetze, von Alltagsrassismus und rechten Diskursen beigetragen haben. Subtil, im Hintergrund fast, entsteht ein Bild vom Osten, in dem es einerseits auf Menschenjagd gehende Nazis, später dann AfD-Wähler:innen und Pegida-Anhänger:innen gibt und in dem sich andererseits immer mehr Westdeutsche Grundstücke kaufen, auf denen sie abwesend-anwesend ihre Wochenendidylle genießen und Lamas, Emus und Kamele züchten.

Präkels schreibt damit auch ein Buch über (oder für) die, die damals auch dabei waren und weder Täter:innen noch Opfer werden wollten. Die Essays fragen immer wieder nach dem Raum, der sich zwischen der Leere (die durch die Weggezogenen einerseits und die nur am Wochenende anwesenden Zugezogenen andererseits entstanden ist) und der Präsenz des rechten und gewaltbereiten Teils der Bevölkerung ergibt. Die Autorin durchmisst die Möglichkeiten, die sich jenseits des aktiven (und gefährlichen) Widerstands und des resignierten Rückzugs aus dem öffentlichen Raum auftun. Viele scheinen es nicht zu sein. In Präkels Buch gewinnen diejenigen Kontur, die anders als rassifizierte Menschen nicht direkt zur Zielscheibe von Hass und Gewalt werden, die in ihrem von Alltagsrassismus geprägten Umfeld jedoch auch schon herausragen, wenn sie sich dem nicht anschließen wollen.

In diesem Kontext vervollständigen die Neukölln-Passagen, in denen in wenigen Szenen herausgearbeitet wird, dass sich auch dort einige Menschen weniger sicher als andere fühlen, das Bild. Präkels arbeitet in ihren Essays auf subtile Weise heraus, dass es überall auf die große Mehrheit derjenigen ankommt, die weder direkte Täter:innen sind, noch direkt von Hass und Gewalt bedroht werden. Sie sind in der Position, Solidarität zu zeigen.

So erschreckend die immer neuen Wellen von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, antisemitischen Übergriffen und Ausfällen auch sein mögen, so wenig überrascht diese Entwicklung all jene, die lieber von Bevölkerung als von Volk sprechen. Flüchtlinge ermächtigen sich selbst, Willkommensinitiativen wachsen auch und gerade da, wo sie am dringendsten benötigt werden. Abgeordnete lassen sich von zerschlagenen Bürofenstern nicht einschüchtern, Kriegsflüchtlinge und von Zwangsräumungen Betroffene organisieren ihren Widerstand gemeinsam. Das macht Hoffnung.

Präkels, S. 68

Viktor Funks Roman Wir verstehen nicht, was uns geschieht. Berlin: Verbrecher Verlag 2022

Viktor Funks Roman Wir verstehen nicht, was uns geschieht ist ein Versuch, die Geschichte der sowjetischen Straf- und Arbeitslager, der sogenannten Gulags, in fiktionaler Form anhand der Lebensgeschichte von Lew und dessen späterer Frau Swetlana aufzuarbeiten. Den Ausgangspunkt der Geschichte bildet eine Reise, die Alexander List, ein Historiker aus Deutschland, gemeinsam mit Lew nach Petschora unternimmt. Lew, der Protagonist des Buches, gerät 1941 in die Gefangenschaft der Nazis. Nach der Befreiung durch die Amerikaner, die ihm schließlich selbst überlassen, ob er nach Osten oder Westen fliehen will, entscheidet sich Lew für den Osten, da er auf ein Zusammenleben mit Swetlana hofft, die er vor dem Krieg während des Physik-Studiums kennengelernt hat. Er wird dann 1945 jedoch zu neun Jahren Lager in Petschora verurteilt, da man ihn der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt. Swetlana wartet die ganze Zeit auf Lew, besucht ihn sogar – unter abenteuerlichen und gefährlichen Umständen – im Lager. Der Roman erzählt von der Liebe zwischen den beiden, von Freundschaft die in den Lagern entstanden sind und von der Notwendigkeit, diese Geschichten nicht zu vergessen, sondern weiterzuerzählen.

Cover Viktor Funk: Wir verstehen nicht, was geschieht. Roman (weiße Schrift auf blauem Hintergrund)

Der Autor Viktor Funk hat seine Magisterarbeit in Geschichte über Erinnerungen von Gulag-Überlebenden geschrieben, die Briefe zwischen Lew und Swetlana gibt es wirklich, im Roman werden die Briefe jedoch fiktionalisiert. Viktor Funk wählt die Form des Romans wohl auch, um die Geschichten der Lagerinsass:innen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Die Nähe der Romanfiguren zu realen Personen – einerseits Alexander List als Alter Ego des Autors, andererseits Lew Mischenko und der reale Lew Mischtschenko, der hinten im Band sogar abgebildet ist – lässt jedoch die Frage aufkommen, ob der Kurzroman wirklich die richtige Form ist, um diese Geschichte zu erzählen. Einerseits wäre – gerade angesichts der realen Personen, die die Grundlage für den Roman bilden – auch ein journalistischer, dokumentarischer Zugang denkbar gewesen. Andererseits wäre auch eine stärkere Fiktionalisierung und die Konzentration auf die Figur Lew und dessen Geschichte möglich gewesen. Ein Weg, für den sich zum Beispiel Gusel Jachina in ihrem 2015 erschienenen Roman Suleika öffnet die Augen (2015 im russischen Original bei AST in Moskau erschienen, 2018 in deutscher Übersetzung im Aufbau Verlag), entschieden hat. Sie erzählt in ihrem Roman, der auf der Geschichte ihrer Großmutter beruht, von der Deportation einer tatarischen Bäuerin in ein Lager in Sibirien und von deren Leben dort.

Die von Viktor Funk gewählte Form des Romans lenkt jedoch die Aufmerksamkeit auf etwas anderes: nämlich auf diejenigen, die wie die Figur Alexander List Zeit, Mühe und weite Reisen auf sich nehmen, um sich die Geschichten der Überlebenden anzuhören, um die Dokumente der Zeitzeugen zu sichten, zu archivieren, zu sortieren und weiterzugeben. Dies ist durch das Verbot der Organisation Memorial in Russland, die dieses Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, und angesichts des Krieges, nun sehr schwierig geworden.           

Das Coverbild von Jan Faktors Trottel ist in Grau gehalten, Autor und Titel in großen schwarzen Buchstaben. In der Mitte ist ein geöffnetes Zugfenster zu sehen.

Jan Faktor: Trottel (Shortlist für den Deutschen Buchpreis)

Vielleicht nähert man sich Jan Faktors für den Deutschen Buchpreis nominierten Buch Trottel am besten durch das, was es nicht ist: Der Trottel ist kein Schelm, daher handelt es sich nicht um einen Schelmenroman. Und der autobiografisch geprägte Roman ist keine Autofiktion im Sinne der zurzeit auf die Literatur der Gegenwart angewendeten Definition, daher geht es hier nicht um detailgenaue, die eigenen Beweggründe und Abgründe erforschende Introspektion eines mehr oder weniger mit dem Autor identischen Ich-Erzählers. Jan Faktor legt einen Roman vor, der die Vergangenheit erforscht, sehr akribisch zum Teil. Er arbeitet mit Fußnoten, Kapitälchen, Einschüben in Klammern sowie mit Durchstreichungen. Sprachlich versucht er, sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart in den Griff zu bekommen, was immer wieder auf schönste Art und Weise misslingt.

Der Ich-Erzähler ist in der Gegenwart verankert, versucht sie auch zu antizipieren, es schleicht sich aber stets eine gewisse Unschärfe ein. So wirkt er einerseits an vielen Stellen ein bisschen aus der Zeit gefallen, bemüht sich aber immer – ganz im Sinne der Figur des Trottels – den Eindruck zu erwecken, auf der Höhe der Zeit zu sein. So wird in diesem Text an vielen Stellen bewusst auf das generische Maskulinum verzichtet, das Gendern will aber auch nicht recht gelingen.

Im Grunde muss ich mich jeden Tag nur fragen, womit ich konkret Lust hätte – und wie –, diese Geschichte fortzuschreiben, und schon mache ich alles richtig: formal, inhaltlich, tonstimmig oder trockenbodennassständig. Nebenbei ist mir natürlich aber auch klar, wie inhaltslos derartig großspurige Begleitbehauptungen – wie diese gerade losgetutete – sind und wie pathologisch sie auf manche Lesetrinen und Leseterrier wirken dürften.

Trottel, S. 166.

Mit den „Lesetrinen und Leseterrier[n]“ gibt der Erzähler das Gendern nicht der Lächerlichkeit preis, was beim oberflächlichen Lesen vielleicht zunächst so erscheinen mag. Im Gegenteil, er erkennt, dass es unzeitgemäß wäre, nur von „Lesern“ zu sprechen, ein schwungvolles und selbstbewusstes „Leser:innen“ will aber eben auch nicht zu der Figur passen, die sich hier gerade an den Rückblick auf ihr Leben macht. Die Gegenwart ist präsent, ihre volle Antizipation hätte aber wohl dazu geführt, dass die Identifikation mit dem früheren Ich des Erzählers, das in ganz anderen Zeiten und in ganz anderen politischen Systemen verortet werden muss, vielleicht nicht so überzeugend gelungen wäre.   

Das Buch erzählt von einem Menschen, der während des Sozialismus von Prag nach Ostberlin übergesiedelt ist, wo er schließlich seine Frau kennenlernen und einen Sohn bekommen wird. Während, so berichtet der Ich-Erzähler, die Wohnungen in Prag als Treffpunkte für Freunde völlig ungeeignet gewesen seien, da sie fast vollständig von sperrigen Möbeln von Verwandten vollgestellt waren, sei es in Berlin möglich gewesen, einfach so zu leben, wie es am Praktischsten für alle war. Während sich in Prag das Leben in der Öffentlichkeit – vor allem in den Kneipen – abspielte, verlagerte es sich mit dem Umzug nach Berlin in die Wohnungen der Freunde.

Der Roman lässt sich als Zeugnis des Alltags sowohl in Prag als auch in Ostberlin lesen, auch über den zur damaligen Zeit üblichen Proviant während der Pendelei zwischen den beiden Städten lässt sich einiges erfahren, es gibt seitenlange Referate über den Vergleich zwischen der Prager Band The Plastic People of the Universe und Rammstein sowie Schilderungen über verschiedene Berufe, die der Ich-Erzähler ausgeübt hat. Der Stil protzt mit Wortungetümen und Neologismen, diese dienen aber nicht dem Selbstzweck, sondern sind tatsächlich hilfreich, um der Figur des Trottels näher zu kommen.

Bloß dass ich hier strukturell nichts durcheinanderbringe! In die Zeit meiner Brötchenausfahrerkarriere fallen nämlich auch schon meine regelmäßigen Fahrten in die Deutsche Reichsbananenrepublik. Vielleicht könnte ich im folgenden Abschnitt über meine Erlebnisse als ein grenzentgrenzter Hominide auf einer anderen Erzählebene berichten, fällt mir ein, einiges davon zum Beispiel auf transparente Folien tippen und diese dann raumsparend auf die Blätter mit meiner Basiserzählung legen.

Trottel, S. 87.

In einem solcherart mit der Gemachtheit des Textes spielenden Roman ist die Bedeutung der stilistischen Überspitzungen, die immer wieder ganz gewollt ins Lächerliche zielen, auch darin begründet, dass sie auf die Literarizität und Fiktionalität des Textes aufmerksam machen. Darüber hinaus wirkt der Text so, als sei er chronologisch entstanden – die Teile scheinen so angeordnet zu sein, wie sie geschrieben wurden – dabei bleibt es nicht aus, dass in den späteren Kapiteln einige bereits erzählte Ereignisse oder Begebenheiten nochmals aufgenommen werden, um bestimmte Details hinzuzufügen oder auch abzuändern. Der Erzähler ist nicht unbedingt ein unzuverlässiger, sondern eher ein „trotteliger“ oder, so ließe sich mit dem Text selbst sagen, einer mit „mangelhafte[r] Lauterkeit“ (215), da er sowohl auf der Ebene der erzählten Ereignisse (es ergeben sich Wiederholungen und Variationen usw.) als auch auf der Ebene ihrer schriftlichen Darstellung und literarischen Gestaltung (Überfrachtung durch allerlei Paratexte wie zum Beispiel die zahlreichen Fußnoten und ständig eingefügten Metatexte wie Entschuldigungen und Verweise) keine Versuche unternimmt, seinen Text und seine Geschichten nachträglich geradezurücken, umzustrukturieren oder zu glätten.   

Ausgerechnet in diesem Text thematisiert der Autor Jan Faktor den Selbstmord seines Sohnes – ein schweres Thema, das zu dem Stil des Romans nicht so recht zu passen scheint. Andererseits zeigt gerade in Bezug darauf die Figur des Trottels seine Stärke: Indem der Ich-Erzähler die Ereignisse eher sachlich einordnet, indem er die Erlebnisse mit seinem Sohn zwar in liebevollen Worten, aber zugleich aus einer gewissen Distanz beschreibt, schafft der Text Raum für den Sohn, der hier eben nicht nur als Objekt der Trauer des Vaters dargestellt wird.

Insgesamt handelt es sich um einen starken Text, der dem Ich-Erzähler nahekommt, ohne ihn und sein Umfeld der in der Autofiktion verbreiteten Introspektion und psychologisierenden Verurteilung auszusetzen – das Lachen geht hier dann, anders als bei Autor:innen wie Knausgård, auch nicht auf die Kosten der Familie, die der Nabelschau ohne ihr Einverständnis preisgegeben wird. Das Lachen über sich selbst, statt auf die Kosten der anderen, steht in Jan Faktors Trottel im Vordergrund. Darüber hinaus ist der Roman eine willkommene Abwechslung zum häufig behaupteten Trend der immer glatter erzählten und perfektionistisch geplotteten Gegenwartsliteratur.        

Jan Faktor: Trottel. Kiepenheuer&Witsch 2022.

Das Bild zeigt das Cover von Kim de l`Horizons Blutbuch, es ist in den Farben rot und blau gehalten. Vor blauem Hintergrund erscheinen zwei menschliche Figuren, deren Arme in Zweigen aufgehen.

Kim de l’Horizon: Blutbuch (Shortlist für den Deutschen Buchpreis)

Kim de l`Horizons Blutbuch ist 2022 beim Dumont Verlag erschienen, steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, ist bereits mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung 2022 ausgezeichnet worden und erzählt von einer Kindheit in der Schweiz, vom Aufwachsen in und mit der Natur, von komplexen Familienstrukturen und einem Coming-of-Age-Prozess. Ein nicht-binäres Ich schwankt zwischen Zugehörigkeit und Befreiung, die fortschreitende Demenz der Großmutter dient als Motiv, um sich mit der Familiengeschichte auseinanderzusetzten. Die Familienmitglieder werden nicht nur in ihrem Wirken auf das Kind dargestellt, sondern treten auch als vielschichtige Figuren in ihrer eigenen Verletzlichkeit in Erscheinung. Durch den kulturgeschichtlichen Ansatz, der die Thematik des Aufwachsens in einer zumindest nicht im klassisch-großstädtischen Sinne bürgerlichen Familie mit der Geschichte der Blutbuche verknüpft, gelingt es Kim de l`Horizon von einer Kindheit inmitten der Natur zu schreiben, die von dem Einkochen von Früchten, ländlichen Gerichten, dem Schlachten von Hühnern und dem Sitzen unter Bäumen geprägt ist, ohne in Naturromantik oder zynische Idyllenverachtung zu verfallen. 

Kim de l`Horizons Erzählperspektive wechselt immer wieder, bleibt aber deutlich an das erzählende Ich gebunden. Einmal ist es näher bei dem Kind, das es sich aus Erinnerungen, Erzählungen und Fiktionen zusammensetzt und bei dem früheren Kindeskörper, der in seiner Umgebung nach einem Ausdruck sucht, der nicht bereits von Herrschaftsdiskursen, Verboten oder schamhaften Abwehrmechanismen durchdrungen ist. Dann ist es wieder bei sich selbst, sechsundzwanzigjährig, schreibend, an einem Schreibtisch in Zürich sitzend, die Besuche bei der dementen Großmutter planend, die einen selbstgestrickten pinken Pullover bestellt hat, für den die Wolle aber viel zu hell ist. Ein Grund, die Besuche immer wieder hinauszuzögern. Nach den ersten beiden Kapiteln, die vor allem von der Kindheit erzählen, ringt das Erzähl-Ich im dritten Kapitel mit der Struktur der weiteren Kapitel, und findet dann zu einer zynisch-ironischen Stimme, die vom Coming-of-Age-Prozess in der Hipster:innen- und Schwulenkultur zwischen Zürich und Berlin erzählt, eine Zeit, die noch zu nah zu sein scheint, um nicht über sich selbst lachen zu müssen. Es geht um die „Crème de la Crème der Gen-Y-Hipsterei […], koschere Zimtschnecke[n], […], Leif-Randt-life-Clowns [… und um] wohlstandsverwahrlostes Weisssein, in dem es nur um Distinktion geht“ (Blutbuch, S. 122).

Und ich weiss, ich werfe jetzt all die Schwuletten in einen Topf und Verallgemeinerung gähn, und es ist eine zynische, aufgekratzte Erzählstimme, die ganz plötzlich und angestrengt popliterarisch über diesen Teil schwubuliert, und dafür entschuldige ich mich auch, echt, entsorrygung.

Blutbuch, S. 124

In den beiden folgenden Kapiteln verschiebt sich der Fokus nochmals, im vierten Teil werden von der Mutter gesammelte Lebensläufe von Frauen eingefügt, darunter Heiler:innen und Hexer:innen, der fünfte Teil wird in Briefen an die Großmutter erzählt, die auf Englisch wiedergegeben werden.

Anhand der Kulturgeschichte der Blutbuche, die nicht nur titelgebend und eine der prägendsten Erinnerungen an die Kindheit ist, wird eine Aufstiegsgeschichte anhand von kleineren Ungereimtheiten in der Familiengeschichten erzählt, die nicht zu dem an der Oberfläche stimmigen Narrativ zu passen scheinen. Warum hat der Urgroßvater eine Blutbuche in den Garten gesetzt, der eigentlich als Nutzgarten konzipiert war, dessen Ernte der Deckung des Familienunterhalts dienen sollte? Der Baum nahm nicht nur Platz für andere, nützlichere Pflanzen weg, sondern spendete auch viel zu viel Schatten. Während der Recherche nach diesem Detail, den das schreibende Ich unternimmt, als es im dritten Teil nicht so recht weiterkommt mit dem Erzählen und als das Gespräch mit der Großmutter aufgrund der Wolle in der falschen Farbe immer weiter hinausgezögert wird, entspinnt sich eine kulturgeschichtliche Annäherung an die Familiengeschichte, die sich an der Frage entzündet, warum sich der Großvater einen so teuren Baum in seinen Garten gesetzt hat.

… wie ich der Spur der Blutbuche gefolgt bin, wie ich das Netz durchforstet habe, die botanischen Gärten des deutschsprachigen Raumes abgegrast habe, die Deutsche Dendrologische Gesellschaft und die Gesellschaft Deutsches Arboretum geschröpft habe, Fachmenschen ausfindig gemacht und ihnen jede Unze Blutbuchenwissen ausgepresst habe und sogar mal zu Meer bin, um alles Material zum Garten zu durchforsten (seit sie unser altes Haus vermietet, hat sie alles von Urgrosspeer zu sich genommen, all die alten Werkzeuge, Quittungen, Fotos, Verzeichnisse).

Blutbuch, S. 134f.

Letztlich führt die Spur der Blutbuche – die sich als „cheapeste Rolex des 19. Jahrhunderts“ (S. 135) entpuppt – zu einer selbstkritischen Einordnung des erzählenden Ichs, das sich am Anfang klassenbewusst präsentiert („Wir sprachen nie über Politik oder Literatur oder die Klassengesellschaft oder Foucault oder darüber, dass Mutter die Matur auf dem zweiten Bildungsweg abbrach, als ich auf die Welt kam.“ S. 9f.), dann aber nach und nach über die eigene Distinktionsperformanz nachdenkt, die einerseits von einer Queerness geprägt ist, die auch „cool und edgy“ (139) ist, und andererseits durch den Bildungsaufstieg à la Eribon.

Was ich nicht checkte und was mein mit haufenweise Bourdieu & Eribon angefuttertes Ich jetzt checkt: Natürlich protzte ich mit anderen Dingen rum in dieser Zeit – meiner Bildung […]. Meine Ego-Aufspritzung waren die Meter an Foucault, Bourdieu und Butler, die ich in meinem Büchergestell präsentierte. Wir spuckten auf das ökonomische Kapital, aber leckten das kulturelle Kapital umso gieriger auf.

Blutbuch, S. 142f.

Das Protzen mit Zitaten und Referenzen an Autor:innen, die sich mit Klassismus, Gender und Queerness, aber auch mit Dekonstruktion und gesellschaftlich repressiven Diskursen auseinandergesetzt haben, wirkt in diesem Buch nie aufdringlich oder bildungsbürgerlich distinktiv, wahrscheinlich aufgrund des durchgängig selbstkritisch-reflexiven Zugangs. Auch sprachlich ist das Buch unangestrengt innovativ und anregend – so wird zum Beispiel „mensch“ statt „man“ benutzt, es werden unglaublich viele Anglizismen verwendet, es gibt in jedem Kapitel neue stilistische Annäherungen an die zu erzählende Geschichte. Eine sehr erfreuliche Nominierung für den Deutschen Buchpreis.    

Kim de l’Horizon: Blutbuch. Dumont 2022.