Das Bild zeigt das Cover von Christoph Heins Das Narrenschiff. Darauf ist ein Wandmosaik im Stil des sozialistischen Realismus zu sehen.

Das Narrenschiff von Christoph Hein – die klassische Erzählform steht in Widerspruch zur systemtheoretischen Sicht auf die DDR

Das Narrenschiff von Christoph Hein hat viele Besprechungen erhalten und wurde einerseits gelobt, andererseits gab es Kritik – vor allem in Hinblick auf die literarische Qualität des Buches (so etwa Dietmar Jacobsen auf literaturkritik.de). 

Beeindruckend sind die detaillierten Beschreibungen von Karrierewegen in der DDR, die anhand von zwei Ehepaaren – Karsten und Rita Emser sowie Johannes und Yvonne Goretzka – und dem homosexuellen Intellektuellen Benaja Kuckuck dargestellt werden. Durch die Figuren werden Einblicke in die Arbeitswelt eines Ingenieurs, eines Ökonomie-Professors sowie in das Referat für Kinder- und Jugendfilm gegeben, außerdem wird die politische Atmosphäre beim Aufbau und später auch beim Zusammenbruch der DDR vermittelt.

Detailliert beschrieben werden etwa das Leben auf der Parteischule (es wurde empfohlen, während der ganzen Woche das Areal nicht zu verlassen), die Welt des Kinderfilms (von einem klassenbewussten tapferen Schneiderlein bis hin zu einem in Venedig preisgekrönten tschechischen Kinderfilm und polnischen Animationsfilmen) oder die Entstehungsgeschichte des Wartburgs. Nicht zuletzt macht man sich während des Lesens mit vielen Begriffen, die zum Standardvokabular der DDR gehörten und auch mit dem Ton, in dem offiziell gesprochen wurde, vertraut.

Ein auktorialer Erzähler, der öfters moralisierend daherkommt, überblickt sein Figurenensemble und interessiert sich nicht nur für ihre Karriereentscheidungen, sondern auch für ihre Freundschaften und intimen Beziehungen. Der Stil orientiert sich eher am Anspruch, ein Page-Turner zu sein als an literarischen Finessen, doch das Ziel, ein gesellschaftliches Panorama zu sein, das allein schon durch die vielen Seiten suggeriert wird, verfehlt der Roman, da er sich nur auf die gesellschaftliche Oberschicht konzentriert. Johannes Goretzka muss nicht Straßenbahn fahren, denn er hat selbstverständlich einen Dienstwagen, Yvonne Goretzka muss sich nicht mit Massenware zufrieden geben, denn für sie gibt es handgenähte Lederschuhe aus Ungarn. 

Das Leben und die Beweggründe derjenigen, die Karriere gemacht haben, stehen hier im Zentrum. Es fehlt – gerade weil das Buch ein solches historisches Panorama aufmacht – jedoch die Perspektive derjenigen, die sich gegen das System gestellt haben. Es geht vielmehr um die Unterschiede zwischen denen, die das System aufgebaut und am Laufen gehalten haben: Johannes Goretzka will einfach nur Karriere machen, egal in welchem System. Karsten Emser ist überzeugt vom System, auch wenn er nicht alle Partei-Entscheidungen richtig findet. Benaja Kukuck wiederum macht seine ironischen Scherze, fügt sich aber in die vorgesehenen Bahnen. Ab und zu tauchen Nebenfiguren auf, die nicht alles mitmachen, um voranzukommen – so etwa Yvonnes Liebhaber, der nicht einfach alles unterschreibt, oder Kathinkas Ehemann, der sich mit kritischen Kommentaren nicht zurückhält. Die ersten beiden Drittel des Buches sind allerdings geprägt von der Perspektive derjenigen, die das System am Laufen halten. Ambivalenzen – wie sie etwa in der Serie Weissensee innerhalb einer Familie dargestellt wurden – sind hier nicht das Thema. Widerstand gegen das System kommt in der hier dargestellten Welt nicht wirklich vor. 

„Doch für das, was in den Zeitungen zu lesen stand, interessierte sich die Bevölkerung kaum, alle hatten damit zu tun, für sich und ihre Familien zu sorgen, die nötigen Lebensmittel zu besorgen und gelegentlich, verbunden mit langem Anstehen vor den Geschäften, einen seltenen und begehrten Artikel zu erstehen. Die politischen Ereignisse nahm man schweigend zur Kenntnis, man hielt den Mund und äußerte nur engsten Freunden gegenüber, was man von der Besatzungsmacht und der von ihr eingesetzten Regierung hielt, oder man verschwand mit der Familie und mit möglichst viel Gepäck in Richtung Westen.“ (303)

Dargestellt wird der Aufbau der DDR – daher ist der Fokus auf die Funktionäre auch plausibel. Das Buch erzählt DDR-Geschichte – mit detaillierten Schilderungen des Alltags und der historischen Ereignisse. Um ein Panorama der DDR-Gesellschaft zu sein – wie es die 750 Seiten, ob gewollt oder ungewollt, von der Form her suggerieren – fehlt allerdings die Perspektive derjenigen, die unter dem System gelitten haben sowie die derjenigen, die gegen das System waren. Im letzten Drittel des Buches werden dann der Wittenberger Kreis, die Friedensgebete und die Montagsdemonstrationen thematisiert – das Ende der DDR wird anhand der Generation der Kinder und Enkel:innen der Hauptprotagonist:innen dargestellt. 

In diesem letzten Teil wird – etwas spät – dann auch langsam klar, worum es Hein eigentlich geht. Die Zeitspanne des Buches reicht von der Gründung bis zum Ende der DDR und der Titel deutet  es auch an (auch wenn er vielleicht etwas irreführend darauf anspielt, das Buch könnte eine Satire sein): Es geht darum, zu zeigen, wie die DDR als System funktioniert hat und wie sie sich dann auch selbst als System abgeschafft hat. So wird im Vorfeld der Montagsdemonstrationen der Zusammenbruch der Wirtschaft (mit dem Wechselkurs 1:10) detailliert beschrieben, ebenso wird anhand des Generationenwechsels deutlich gemacht, dass es gesellschaftlich zu einer Lockerung und einer Gegenbewegung kam, die wiederum zunächst mit stärkeren Sanktionen einherging, die sich aber letztendlich nicht aufhalten ließ. 

Insgesamt bietet das Buch eine detaillierte literarische Aufarbeitung von DDR-Geschichte, die sich auf jeden Fall zu lesen lohnt. Und doch bleibt man nach 750 Seiten etwas ratlos zurück, weil in einem solchen Panorama doch wesentliche Perspektiven fehlen. Der klassische, auktoriale Erzählmodus und der damit verbundene Fokus auf die Hauptprotagonist:innen, die bis in die letzten persönlichen Erfahrungen, biografischen Hintergründe und intimsten körperlichen Bedürfnisse ausgeleuchtet werden, stehen im Widerspruch zu der systemtheoretischen Sicht auf die DDR.

Christoph Hein: Das Narrenschiff. Berlin: Suhrkamp 2025.

Auf dem Bild ist das Cover von Joanna Bators Roman "Bitternis" zu sehen, darauf ein Frauenporträt

Joanna Bator: Bitternis

Joanna Bator legt mit Bitternis einen Generationenroman von über 800 Seiten vor und die Kritiker:innen sind sich einig (siehe die Rezensionen im Perlentaucher), dass es durchaus noch ein paar hundert Seiten mehr sein dürften. Wovon wird erzählt? Bator erzählt die Geschichte von vier Frauen – Berta, Barbara, Violetta und Kalina. Zwischen den Frauen, Zeiten und Orten springt die Erzählung hin und her – dadurch bleibt es interessant, immer wieder werden Ereignisse andeutet, deren Bedeutung sich dann erst später erschließt. Es geht vor und zurück, von der Urgroßmutter zur Großmutter, dann zur Mutter und schließlich zu Kalina, der Ich-Erzählerin, über die zugleich aus allwissender Perspektive erzählt wird. Der Perspektivwechsel gelingt Bator ausgezeichnet, sie wechselt mühelos zwischen „Ich“ und „Kalina“, zum Teil innerhalb von wenigen Sätzen, ohne dass es künstlich oder aufgesetzt wirkt. Durch die Erzählweise wird immer wieder der Unterschied zwischen Erinnerung und Erzählung plausibel gemacht und den Lesenden vor Augen geführt, ohne dass es den Anschein hat, die Autorin möchte sich unbedingt in den inzwischen überpräsenten Autofiktionsdiskurs einschreiben. Die Erzählerin erklärt es besser selbst:

Ich selbst trete in dieser Geschichte selten auf, ich husche nur ab und zu im Hintergrund vorüber, mal in der dritten, mal in der ersten Person, die sich häufig überschneiden oder ineinanderfließen. Diejenige, die erzählt, und die jüngste meiner Hauptfiguren, Kalina Serce, sind ein und dieselbe Gestalt. Nur so gelingt es mir, die wenig gehaltvolle Existenz zu fassen, die ich bin, und sie mit Kalina zu verbinden, diesem mir kaum bekannten kleinen Mädchen, das auf einen Jungen namens Konrad wartet und sich nach Babcia Bunia sehnt.

Joanna Bator: Bitternis, S.15

Keine der Frauen hat wirklich freiwillig ein Kind bekommen, alle vier hängen sie Träumen und Idealen nach, die sich nicht erfüllen werden und die sie zum Teil auf kriminelle Abwege führen. Berta, die Tochter eines Fleischers, begleiten wir beim Leben auf dem Land, wo sie und ihr Vater gemeinsam die Wurst- und Fleischwaren für das nahe Sanatorium in Sokołowsko (deutsch Görbersdorf in Schlesien) herstellen. Ihre Liebe zu einem Händler hat Konsequenzen, Berta wird schwanger und ihre Tochter Barbara wird 1939 in der Waldenburger Haftanstalt geboren. Sie kommt in das Waisenhaus der Heiligen Barbara. Ihr Start ins Leben findet unter sehr schlechten Voraussetzungen statt, sie wächst während des Zweiten Weltkriegs unter dem strengen Regime der Nonnen auf, wird später adoptiert und zieht mit ihren Eltern in die Wohnung am Bergmannsplatz in Wałbrzych (deutsch Waldenburg). Dort spielen sich auch wesentliche Abschnitte im Leben ihrer Tochter Violetta und ihrer Enkelin Kalina ab.

Violetta blickt auf ein abgebrochenes Polonistikstudium, auf verschiedene Jobs und einen Reiseleiterlehrgang zurück. Sie hat ihr Leben lang das Gefühl, am falschen Ort zu sein – sie sehnt sich nach einem Leben, wie es in den Frauenzeitschriften beschrieben wird und möchte nirgends weniger sein als in der Wohnung am Bergmannsplatz, wo es sie jedoch immer wieder hinverschlägt. Kalina wächst bei ihrer Großmutter Barbara auf, ihre Mutter Violetta stattet den beiden anfangs nur Stippvisiten ab. Vor ihrem siebten Geburtstag verschwindet die Großmutter plötzlich und fortan muss Violetta ihren Mutterpflichten nachkommen, ob sie will oder nicht.

Im Vergleich zu Berta, Barbara und Kalina wird die Figur der Violetta als die unsympathischste gezeichnet oder zumindest aus einer größeren Distanz als die beiden anderen Frauen – sicherlich auch, da sie nun einmal die Mutter der Ich-Erzählerin Kalina ist. Violetta hat für die Wohnung, in der Kalina aufgewachsen ist, nur Flüche übrig, sie lackiert sich lieber in Ruhe die Nägel, statt auch nur ein kurzes Gespräch mit ihrer Tochter zu führen. Sie kann sich mit der Mutterrolle einfach nicht anfreunden. Dieselbe Ablehnung zeigt sie allerdings auch in Hinblick auf alle anderen Umstände ihres Lebens – sie lehnt sich gegen die provinzielle Stadt auf, sie ist gelangweilt von den wenig aufregenden Liebhabern, ihre Jobs sind auch nicht das, was sie sich vorstellt. Sie weiß aber auch nichts Besseres mit ihrem Leben anzufangen.

Sowie sich ihre Großmutter Berta durch die Lektüre von Liebesromanen der Illusion der Liebe zu einem Händler hingibt, ist Violetta zwischen der Desillusionierung im Sozialismus und der Traumfabrik des Kapitalismus hin- und hergerissen und kann sich, wie es scheint, auf gar keine Realität mehr einlassen. Mit der Figur der Violetta gelingt Bator eine Art weiblicher Don Quichotte der Liebesromane und Frauenzeitschriften. Violetta träumt davon, endlich eine tolle Karriere und ein aufregendes Leben im Ausland oder zumindest in der Hauptstadt zu beginnen. Ständig stellt sie Situationen her, die in ihrer Welt dazu bestimmt wären, dass sie einen erfoglreichen und gutaussehenden Ehemann kennenlernt und für immer mit ihm glücklich wird.

Kalina, ihre Tochter, steht ihr dabei nur im Weg. Sie – so erfährt man gleich am Anfang – versucht, die Familiengeschichte zu rekonstruieren und hat sich ein Haus in der Nähe von Sokołowsko gekauft, womit sie an den Ort zurückkehrt, den ihre Urgroßmutter Berta gut kannte.

Bator hüpft geschickt zwischen den verschiedenen Erzählsträngen hin und her und zeigt vier Frauen in ganz unterschiedlichen Kontexten. Alle vier eint, dass Männer zwar deren Leben ruinieren, aber sonst nur eine untergeordnete Rolle darin spielen. Für das Genre des Generationenromans ist es sicherlich noch nicht selbstverständlich, dass die Frauen hier die Hauptrolle spielen:

Eine Geschichte ohne Frauen ist für kaum jemanden ein Grund zur Beunruhigung; die Frauen werden schon irgendwo im Hintergrund wirken, in Küche und Hof, mit langweiligem Weiberkram beschäftigt. Bei einem Mangel an männlichen Akteuren muss es sich um einen besorgniserregenden Irrtum handeln. Als sei ein fehlender Mann ein Defizit. Genau das aber hat Tradition in unserer Familie, in der die Väter irgendwann einfach verschwunden sind, was sich auf die unterschiedlichste Weise und bisweilen auch unter Mitwirkung der Frauen abspielte.

Joanna Bator: Bitternis, S. 19f.

„Gorzko, gorzko“, so der Originaltitel, ist sicherlich kein „besorgniserregender Irrtum“, sondern ein vielschichtiger Roman, der eine Geschichte ohne männliche Helden erzählt, sich auf vier Frauen einlässt, in deren miteinander verflochtenes Leben eintaucht und dabei immer wieder überraschende Wendungen bereithält.

Joanna Bator: Bitternis, aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. Im Orignal: Gorzko, gorzko, erschienen 2020 bei Znak in Krakau.

Brigitte Reimann – Die Geschwister

Die Geschwister

Durch die Neuausgabe von Die Geschwister ist Brigitte Reimann wieder zum Thema geworden, auch durch die Biografie von Carolin Würfel (Drei Frauen träumten vom Sozialismus. Maxie Wander – Brigitte Reimann – Christa Wolf. Berlin: Hanser Berlin 2022) erfährt die Autorin neue Resonanz. Bei Arbeiten an einem Haus in Hoyerswerda wurde ein Heft der handschriftlichen Urfassung von Die Geschwister gefunden. Der Aufbau-Verlag brachte auf dieser Grundlage eine „ungekürzt[e], politisch ungeschönt[e] Fassung“ heraus. Wenn das Nachwort etwas genauer betrachtet wird, lässt sich leider nicht mehr so leicht rekonstruieren, um welche Version es sich bei der Neuveröffentlichung nun eigentlich handelt – um die von Reimann ursprünglich intendierte Erzählung (vor den Veränderungen durch Verlag und DDR-Ministerium für die Publikation) oder um die nachträglich von Reimann selbst redigierte Version, als sie sich politisch bereits anders positioniert hatte. Im Buch heißt es:

Rückgängig gemacht wurden alle Streichungen bzw. Änderungen, die erkennen lassen, dass politisch Missliebiges geglättet oder der frische Erzählton Reimanns nach damaliger Mode ‚literarisiert‘ werden sollte […]. Die nachträglichen Korrekturen der Autorin von 1969 finden grundsätzlich Berücksichtigung […].

Brigitte Reimann, Die Geschwister, Berlin: Aufbau 2023, Zu dieser Ausgabe, S. 212.

Auch wenn es sich hier um keine kommentierte Studienausgabe handelt, wäre durchaus schön gewesen, zu erfahren, welche Stellen ursprünglich anders gemeint waren und welche nachträglich korrigiert worden sind. Es handelt sich demnach um eine Fassung, die irgendwo zwischen dem liegt, was Reimann im Sinn hatte, als sie das Buch schrieb und dem, was sie zu einem Zeitpunkt, als sie „politisch endgültig desillusioniert“ war und „eine andere, eine differenziertere Sicht auf die DDR gewonnen“ (ebd. 207) hatte, gern aus dem Buch gemacht hätte. Dadurch verliert sich in der Lektüre die Distanz, mit der sich DDR-Literatur sonst wohlwollend lesen lässt – es lässt sich nicht (mehr) einfach annehmen, dass die Autorin das, was sie wirklich schreiben wollte, nicht schreiben durfte oder konnte. Der Text kann vor diesem Hintergrund nicht mehr als Kompromiss gelesen werden, sondern muss beim Wort genommen werden. Dies wird den Lesenden allerdings durch die Entscheidung des Verlags, nicht zu kennzeichnen, welche Korrekturen genau vorgenommen wurden, wiederum erschwert. Reimanns Text wird in dieser Neuausgabe so präsentiert, als ließe er sich kontextlos als eine Geschichte über zwei Geschwister, die sich über das richtige politische System streiten, lesen.

Das im Nachwort stehende Lob, das Buch sei „eine zeitlose Geschichte über Zugehörigkeit und Individualität, über Loyalität und Mut, für die eigene Vorstellung von Freiheit und Glück einzustehen“, ist völlig absurd, wenn es vor dem Hintergrund ausgesprochen wird, dass in dieser Fassung lediglich kleinere Spitzen Reimanns, die herausgestrichen worden sind (so etwa die „männermordende Taille“ auf S. 66), nun wieder im Text stehen dürfen oder wenn gesagt wird, dass die Schwester in dieser Fassung nun mehr Zweifel äußern darf als in der offiziellen. Zweifellos lohnt sich die Lektüre von Brigitte Reimanns Texten auch heute noch aus verschiedenen Gründen, auf die ich weiter unten gern eingehen möchte, dennoch ist es erstaunlich, wie heutzutage ein Buch abgefeiert wird, in dem es darum geht, dass eine Schwester ihren geliebten Bruder Uli (und eben nicht nur den anderen Bruder Konrad, der völlig negativ als oberflächlicher Kapitalist gezeichnet wird) dafür verurteilt, dass er in den Westen gehen möchte.

Gerade in dieser Fassung, die laut Verlag die von Reimann intendierte Wirkung entfaltet, wirkt es umso grotesker, dass Elisabeth die Tatsache, dass der DDR-Staat ihrem Bruder die Ausbildung bezahlt hat oder dass es solche Fachkräfte wie ihn zum Aufbau des sozialistischen Staates braucht, über dessen persönliche Wünsche stellt und dass sie für ihre Ideale die bis dahin liebevolle Beziehung zu ihrem Bruder opfert, dass sie erwägt, ihn nicht nur zu verraten, sondern sogar anzuzeigen. Dadurch, dass sich Elisabeth im achten Kapitel als mutige Kämpferin gegen die Partei und die etablierten Kollegen inszeniert, wird innerhalb der Erzählung der Eindruck erzeugt, sie kämpfe gegen verkrustete Strukturen in der Partei, sei moralisch auf der richtigen Seite. Elisabeth ähnelt in ihrer Haltung der Heldin aus Franziska Linkerhand (1974), die in dem später entstanden gleichnamigen Roman die sozialistischen Ideale gegen die Wirklichkeit verteidigt.

Beide Figuren werden als mutige Kämpferinnen für die gute Sache inszeniert – wenn sie dabei ihre Ideale über die Menschlickheit stellen, mag das bei negativ gezeichneten Figuren (wie Heiners in der Bergemann-Geschichte in Die Geschwister) als kritisch oder subversiv ausgelegt werden, wenn dieselbe versachlichende, objektifizierende Perspektive jedoch auf den eigenen Bruder (und hier kommt es weniger auf den eigenen Bruder als auf den geliebten Bruder an) ausgeweitet wird, wirft das die Frage auf, wie kritisch die idealisierende und moralisierende Haltung von Elisabeth eigentlich ist bzw. warum sie heutzutage auf diese Art und Weise gedeutet wird.

Weiterhin selten: Eine weibliche Stimme, die über Arbeit spricht

Beide Romane – Franziska Linkerhand und Die Geschwister – sind aus heutiger Perspektive dennoch erfrischend zu lesen, sie entfalten ihre kritische Wirkung jedoch auf einer anderen Ebene. Auch heute noch ist eine selbstbewusste weibliche Stimme, die in einer von Männern dominierten Arbeitswelt eine nicht prekäre Arbeit hat und dort auch für sich spricht und für ihre Ideale einsteht, ziemlich selten. Eine Frau, die zur Arbeit kommt und den Männern dort deutliche Ansagen macht, Konflikte austrägt, im Zweifel auch, wenn sich das nachteilig für sie auswirken kann, findet sich doch eher selten in der Gegenwartsliteratur. Wenn Frauen in Texten, die von und in der Arbeitswelt handeln, eine Rolle spielen, dann geht es oft um Konflikte, die sich durch das Vereinbarkeitsproblem von Arbeit und Care-Tätigkeiten ergeben oder um Kritik an Arbeitsverhältnissen im Kapitalismus generell, manchmal auch um Frauen, die als Schreibende und/oder Kreativschaffende tätig sind (auch hier sind die Themen dann oft Prekarität oder Abhängigkeit vom Partriarchat und/oder Kulturbetrieb).

Franziska Schößler schließt ihr Buch Femina Oeconomica: Arbeit, Konsum und Geschlecht in der Literatur. Von Goethe bis Händler (Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2017) mit der Feststellung, dass

Literatur also diejenigen Aspekte von (weiblicher) Arbeit, die beliebten literarischen Darstellungsverfahren, Figurenkonzepten und künstlerischen Selbstverständnissen entgegenkommen – den Schöpfungs- und Kreativitätsmythos, emotionale und ästhetische Arbeit, den Liebesdiskurs, Begehren, weibliche Körperlichkeit und Sexualität –, und zwar in kritischer wie affirmativer Hinsicht, [profiliert]. (S. 288f.)

Dass eine weibliche Protagonistin Karriere macht, dass sie darüber hinaus auch ein reflektiertes Verhältnis zu ihrer Arbeit und einen gewissen Anspruch daran hat, dass sie Konflikte nicht scheut, um ihren Vorstellungen treu zu bleiben, ist auch 60 Jahre nach dem Erscheinen von Die Geschwister eher selten – als Beispiel in der Gegenwartsliteratur ließe sich etwa Lucy Frickes Die Diplomatin nennen. Dominant sind weiterhin andere Themen – sicherlich auch als Spiegel der Gesellschaft, in der wir leben – Kritik am Kapitalismus, Darstellung weiblicher Arbeit als Hausarbeit bzw. Care-Arbeit oder in prekären Arbeitsverhältnissen.

In dem aufgrund des frühen Todes der Autorin Fragment gebliebenen Roman Franziska Linkerhand geht es vor allem um die Diskrepanz zwischen Plänen, Träumen und Idealen und dem Alltag, der sich in der realen Arbeitswelt dann ganz anders gestaltet. In einem Brief schreibt Reimann über die Fabel:

Da kommt ein Mädchen, jung, begabt, voller leidenschaftlicher Pläne, in die Baukastenstadt und träumt von Palästen aus Glas und Stahl – und dann muß sie Bauelemente zählen, (…) sich mit tausend Leuten herumschlagen (…) und die Heldentaten bestehen darin, daß man um ein paar Zentimeter Fensterbreite kämpft, und alles ist so entsetzlich alltäglich, und wo bleiben die großen Entwürfe der Jugend? Schließlich hört man auf zu bocken und macht mit … Eine traurige Geschichte, und sie passiert jeden Tag. Ich kann das Wort ‚enthusiastisch‘ schon nicht mehr hören. Manchmal geht sogar mir der Treibstoff aus, und ich möchte aufhören, mich dauernd zu streiten mit Leuten, die ja doch nie Fehler machen, nie sich irren und Dich behandeln wie Hohepriester einen Laienbruder. Sie sagen ‚Perspektive‘ und ich sage ‚Heute‘. Nun ja, wir haben so unsere Verständigungsschwierigkeiten.

„Briefwechsel mit Annemarie Auer“. In: Was zählt, ist die Wahrheit. Briefe von Schriftstellern der DDR. Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag 1975. S.290–330.

Vielleicht interessiert sich die Gegenwartsliteratur generell nicht für Arbeit – zumindest nicht, wenn es nicht um kreative Selbstverwirklichung oder Aufstiegsversprechen in der Wirtschaft und Finanzindustrie (oder um beides zusammen beim Gründen von Start Ups) geht. Oder um das Gegenteil dessen: die Kritik an prekärer Arbeit und am Kapitalismus generell. Eine Leerstelle bleibt die Beschreibung von Frauen, die professionellen Arbeitsverhältnissen nachgehen und sich damit produktiv und kritisch auseinandersetzen. Auch das wäre ein Grund, Brigitte Reimann zu lesen.

Brigitte Reimann: Die Geschwister, hrsg. von Angela Drescher und Nele Holdack. Berlin: Aufbau 2023,

Octavia E. Butlers Kindred (1979)

Octavia E. Butler gehört zu den Klassikern der Schwarzen Literatur, sie ist feministisch und avantgardistisch zugleich. Ihr Buch Kindred (1979) setzt sich mit der Sklaverei in einem Genre auseinander, das zunächst ungewöhnlich anmuten mag. Butler ist vor allem als Science-Fiction-Autorin bekannt, sie erhielt die drei bedeutenden Literaturpreise für Science-Fiction und Fantasy (den Locus Award, den Hugo Award und den Nebula Award) und wurde als erste Autorin in diesem Genre auch mit dem prestigeträchtigen Mac Arthur Fellowship ausgezeichnet. Die Autorin selbst weist darauf hin, dass es sich im Unterschied zu ihren anderen Werken bei Kindred trotz der Zeitreisen nicht um Science fiction handelt (es fehle hier die science). Ihr Werk wurde u.a. im Kontext des Afrofuturismus, der Cyborg-Theorie (Donna Harraway 1985) und des Konzepts des Black Atlantic (Paul Gilroy 1993) rezipiert.

Dass Zeitreisen und das Science-Fiction-Genre sich durchaus für historisch brisante Themen eignen, hat auch Kurt Vonnegut mit Slaughterhouse Five (1969) gezeigt, wo Reisen auf den Planeten Tralfamador Teil der Auseinandersetzung mit den Luftangriffen auf Dresden im Zweiten Weltkrieg sind. Gerade für marginalisierte, diskriminierte und von Rassismus betroffene Personen und Gruppen bieten literarische Genre-Texte, die Popkultur im Allgemeinen und künstlerisch-politische Bewegungen wie der Afrofuturismus jedoch eine besonders vielversprechende Anschlussstelle – sie repräsentieren nicht nur die aus den dominierenden Diskursen ausgeschlossenen gesellschaftlichen Randpositionen, sondern ermöglichen darüber hinaus auch eine breitere Rezeption und Debatte als die durch verschiedene Gate-Keeping-Mechanismen eher in sich abgeschlossenen akademischen Diskurse. 

Octavia Butlers Kindred handelt von der sich gerade etablierenden Schriftstellerin Dana. Diese hält sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs über Wasser, wie auch ihr Partner Kevin, den sie bei einem der Jobs kennenlernt. Auch Kevin ist Schriftsteller. Der Anfang des Textes führt die Leser:innen zunächst auf eine falsche Fährte: Dana hat auf ihrer letzten Zeitreise einen Arm verloren und muss nun im Krankenhaus die Polizei davon überzeugen, dass Kevin nicht die Verantwortung dafür trägt. Was zunächst danach aussieht, als wäre es eine Szene, in der häusliche Gewalt verschwiegen wird, hat einen ganz anderen Hintergrund.

Dana, die im Jahr 1976 lebt, wird durch Zeitreisen immer wieder auf eine Plantage in Maryland zu Beginn des 19. Jahrhunderts versetzt. Sie weiß, dass ihre Großmutter Hagar 1831 dort geboren ist. Dana wird zu verschiedenen Zeitpunkten in die Vergangenheit geholt, um Rufus – den Sohn eines Plantagenbesitzers – seit seiner Kindheit vor Gefahren zu beschützen. Von Anfang an ist sie selbst in Gefahr, da sie zu dieser Zeit auch selbst als Sklavin wahrgenommen wird. Sie lernt dort Alice und andere Sklav:innen kennen. Alice sieht ihr sehr ähnlich. Dana erkennt in ihr eine Verwandte und schon bald wird ihr bewusst, dass sie die Zeitreisen unternimmt, um ihren Vorfahr:innen und damit auch sich selbst das Leben zu retten. Immer wieder sind ihr Leben und das Leben ihrer noch ungeborenen Großmutter Hagar in Gefahr. Wenn Dana selbst in Lebensgefahr gerät, reist sie wieder zurück in das Kalifornien der 1970er Jahre.

Mit den Zeitreisen schafft Octavia Butlers Roman eine andere Leseerfahrung als es etwa historische Romane tun, auch von Erinnerungstexten unterscheidet sie sich. Die Erfahrung der Sklaverei, das Leben im Körper einer zur Sklavin degradierten Frau, sind für Dana nicht bloße Vergangenheit, sie sind auch kein Projekt der Rekonstruktion oder Imagination. Dana wird innerhalb der fiktiven Handlung direkt aus der Gegenwart in das Leben im 19. Jahrhundert zurückversetzt – das ruft einen gewissen Realitätseffekt hervor:

I had seen people beaten on television and in the movies. I had seen the too-red blood substitute streaked across their backs and heard their well-rehearsed screams. But I hadn’t lain nearby and smelled their sweat or heard them pleading and praying, shamed before their families and themselves. I was probably less prepared for the reality than the child crying not far from me. In fact, she and I were reacting very much alike. My face too was wet with tears.

Octavia Butler: Kindred

In dieser Textstelle wird deutlich, dass die Darstellung von Gewalt in Film und Fernsehen nicht nur nicht genügt, um zu wissen, wie es ist, sie zu erleben, sondern dass die Beschäftigung damit und die Kenntnis davon, nicht im Geringsten darauf vorbereitet, sie zu erleben und damit auf emotionaler Ebene umzugehen. Durch diese Rahmung wird der Anspruch an Fiktion, die Realität von Gewalterfahrungen vermitteln zu können, direkt zu Beginn zurückgewiesen. Obwohl Dana durch die Zeitreise die Gewalt unmittelbar erlebt, verweigert sich Butlers Roman einer Deutung, die suggeriert, ein Werk der Fiktion oder eine andere Art von medialer Darstellung könne die Sklaverei erfahrbar machen. Mit dem Mittel der Zeitreise macht Butler deutlich, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte diese weder verändern kann, noch darauf vorbereit, mit Gewalt umzugehen. Butler stellt die Frage, was passiert, wenn jemand mit dem Wissen der Gegenwart in die Vergangenheit reist – diese rein hypothetische Frage lässt sich besonders gut im gewählten Genre stellen.   

Der Text imaginiert, wie die Realität für Dana als Schwarze Frau ganz konkret aussehen könnte, wenn sie zu Zeiten der Sklaverei leben würde. In der Vergangenheit kann Dana jederzeit von weißen Patrouillen aufgegriffen werden, sie wird als Besitz anderer Menschen betrachtet und ist Bestrafungen und absoluter Willkür ausgesetzt. Die Unterschiede zur Gegenwart werden klar benannt: „I was working out of a casual labor agency – we regulars called it a slave market. Actually, it was just the opposite of slavery.“ Dana erkennt gleichzeitig, wie leicht die Sklaverei normalisiert wurde („I never realized how easily people could be trained to accept slavery.“) und wie groß die Bereitschaft war, für Geld und Macht andere Menschen zu dehumanisieren. Butlers Kritik ist intersektional, sie thematisiert die Verschränkung zwischen Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus – und zwar auf unheimlich präzise und gleichzeitig subtile Art und Weise.

Als sich Dana mit den anderen Sklav:innen auf der Plantage anfreundet, erfährt sie von Sarah, dass Mr. Weylin Sarahs Kinder verkauft hat. Als sie nach dem Grund fragt, bekommt sie folgende Antwort:

‚She wanted new furniture, new china dishes, fancy things you see in that house now. What she had was good enough for Miss Hannah, and Miss Hannah was a real lady. Quality. But it wasn’t good enough for white-trash Margaret. So she made Marse Tom sell my three boys to get money to buy things she didn’t even need!‘ ‚Oh.‘ I couldn’t think of anything else to say.

Octavia Butler: Kindred

Die Verschränkungen zwischen Rassismus und Patriarchat zeigen sich auch darin, wie Rufus mit den beiden Schwarzen Frauen Alice und Dana umgeht. Während Alice seine große Liebe war, bevor sie sich in einen anderen Mann verliebte, wird Dana zu seiner Freundin. Beiden Frauen zwingt er seine Liebe bzw. Freundschaft auf und verlangt absolute Loyalität und Unterwerfung. Wenn sie nicht tun, was er will, fordert er es durch Gewalt ein und schreckt weder vor körperlicher Bestrafung noch vor Vergewaltigung zurück.

Gerade die Situation von Dana als Frau bildet in Bezug auf die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen einen beängstigenden Echoraum in der Gegenwart: Die Erfahrung, als Frau kein Recht auf den eigenen Körper zu haben und von intellektueller Teilhabe ausgeschlossen zu sein, klingen in Vorstellungen über die Ehe oder über Danas Möglichkeiten als weibliche Autorin wieder. Besonders aufschlussreich sind die Passagen, die vom Schreiben handeln. Darin zeigt sich, wie subtil es Butler gelingt, bestimmte Situationen in ihrer Parallelität und gleichzeitigen Unterschiedlichkeit herauszuarbeiten und dahinter eine Leerstelle aufscheinen zu lassen: die der Schwarzen schreibenden Frau.

Sowohl Dana als auch ihr Partner und späterer Ehemann Kevin sind Schriftsteller:innen. Kevin wird später so erfolgreich, dass sie sich von seinem Geld ein Haus kaufen können. Die Heirat zwischen den beiden wird zur Prüfung auf zweierlei Art und Weise: Einerseits erfahren sie keine Unterstützung von ihren Familien (Kevins Schwester ist aus rassistischen Gründen gegen eine Heirat mit einer Schwarzen Frau, aber auch Danas Onkel ist gegen die Heirat mit Kevin). Fast beiläufig ergibt sich direkt nach dem Heiratsantrag ein aufschlussreicher Dialog zwischen Dana und Kevin.  

Durch die geplante Hochzeit schwebt Kevin vor, dass sie sich nun – als zukünftige Ehefrau – um seine Manuskripte kümmern könnte. Auf der Gegenwartsebene wehrt Dana sich dagegen, zu Kevins Sekretärin degradiert zu werden. In der Vergangenheitsebene bleibt ihr nichts anderes übrig, als Kevin als ihren „Master“ auszugeben und dem Wunsch von Rufus nachzukommen, Briefe für ihn zu schreiben. Sie macht dennoch beiden Männern deutlich, dass dies genau die Art von Tätigkeit ist, die sie ihr Leben lang vermeiden wollte. Die Dynamik zwischen der Schwarzen Frau und den beiden weißen Männern geht über Rassismuskritik hinaus, sie sollte auch als Kritik am Patriarchat gelesen werden. Das Buch zeigt auf, dass diese Dynamik im Patriarchat wurzelt, welches eben nicht auf weiße Männer beschränkt ist.

Dies wird deutlich, wenn der Roman mit Blick auf seine Entstehungszeit in den 70er Jahren gelesen wird und die Lage Schwarzer (scheibender) Frauen zu dieser Zeit betrachtet wird. Philip Miletic arbeitet in seinem Aufsatz „Octavia E. Butler’s Response to Black Arts/Black Power Literature and Rhetoric in ‚Kindred‘“ die dafür relevanten Kontexte detailliert heraus. So wird auch in der Black Power Bewegung Frauen nur eine sekundäre, unterstützende Rolle zugewiesen – im Zentrum stand die Vorstellung dominanter Männlichkeit (vgl. dazu Miletic, 270f.). Damit übt Butler – indirekt – auch Kritik an der Lage Schwarzer Frauen innerhalb von Schwarzen Bewegungen.

Vor diesem Hintergrund wird die Rolle von Dana, die in den 70er Jahren daran arbeitet, Schriftstellerin zu werden, besonders brisant. Interessant ist, wie wenig Butler daran liegt, das Schreiben selbst zu überfrachten und etwa als Medium der Vergangenheitsbewältigung oder der Selbsterkenntnis zu stilisieren. Dana muss darum kämpfen, nicht auf die Rolle der Sekretärin reduziert zu werden, die ihr von dem männlich dominierten Umfeld immer wieder zugewiesen wird, und sich selbst einen Raum zu schaffen, in dem sie kreativ tätig sein kann.

Dana kann die Zeitreisen nicht selbst kontrollieren, sie stellt jedoch fest, dass sie immer dann in die Gegenwartsebene zurückreist, wenn sie so stark gefährdet ist, dass ihr der Tod droht. Dadurch gewinnt der Text an unglaublicher Schärfe in Situationen, in denen sie sich zwar fühlt, als wäre sie kurz davor zu sterben, aber in denen sie trotz Schmerz und Verzweiflung doch noch weit davon entfernt ist. Dana fragt sich immer wieder, wann der Moment gekommen ist, um durchzudrehen, verrückt zu werden, wegzulaufen oder um sich zu wehren, etwas zu entgegnen, bereit zu sein, zu töten. Dies kann sie allerdings nicht tun, wenn sie nicht bereit ist, im Zweifel auch ihre eigene Geburt zu verhindern – sie muss sich wiederholt zwischen der Komplizenschaft mit Rufus und ihrem eigenen Leben entscheiden. Die breite Literatur zu Butlers Kindred lädt dazu ein, sich mit verschiedenen Interpretationen von Kindred auseinanderzusetzen. Das Buch wieder und wieder zu lesen, lohnt sich auf jeden Fall. 

Butler, Octavia E.: Kindred, London: Headline 2018 (1979).

Gilroy, Paul: The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness. Cambridge, MA: Harvard University Press 1993.

Haraway, Donna: Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980’s. In: Socialist Review 80. 1985.

Miletic, Philip: Octavia E. Butler’s Response to Black Arts/Black Power Literature and Rhetoric in ‘Kindred.” In: African American Review, vol. 49, no. 3, 2016, pp. 261–75.

Vonnegut, Kurt: Slaughterhouse-Five, or, The Children’s Crusade: A Duty-Dance with Death. New York, NY: Delacorte 1969.

Womack, Y. L.: Afrofuturism: The world of black sci-fi and fantasy culture. Chicago Review Press 2013.

Whale von Cheon Myeong-kwan

Ein wunderbarer Roman aus Südkorea von 2004, der zurzeit auf der Shortlist des International Booker Prize 2023 steht und sich zwischen Postmoderne, Groteske und magischem Realismus bewegt. An diesem Buch – anders kann man es nicht sagen – ist alles gut gelungen: der Plot, die Charaktere, die Erzählweise, die subtile Gesellschaftskritik und die Darstellung historischer Umbrüche.

Der Autor beherrscht sein Handwerk bestens, er hat es nicht nötig, mit experimentellen Erzähltechniken Eindruck zu schinden oder mit Taschenspielertricks Spannung zu erzeugen. Der Erzähler überblickt alle seine Figuren, auch wenn er immer mal wieder damit kokettiert, dieses oder jenes nicht zu wissen. Anstatt die Leser: innen unnötig im Unklaren zu lassen, positioniert er die Figuren immer klar innerhalb der Geschichte und in ihrem Verhältnis zur Welt. Das Buch verzichtet auf oberflächlichen Drive und beeindruckt stattdessen mit Charakteren, auf die es vertraut und deren Entwicklungen und Verwicklungen miteinander im Mittelpunkt stehen.

Myeong-Kwans Roman setzt sich immer wieder über die Realität hinweg – so gibt es zum Beispiel ein Mädchen, Chunhui, das bereits bei der Geburt sieben Kilo wiegt und deren Vater ein Riese ist, der vier Jahre vor ihrer Geburt gestorben ist. Durch solche Details, die den fiktiven Charakter der erzählten Welt immer wieder vor Augen führen und den Lesenden das immersive Eintauchen in das Buch leicht machen, ergibt sich eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz, Teilnahme und Beobachtung.

Wenn ein Roman ins Englische übersetzt wird und auf der Shortlist für den International Booker Prize landet, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass es in der Art und Weise, wie er von einer anderen Weltregion erzählt, eine gewisse Anschlussfähigkeit an die westliche Welt (und an ihre Erzähltraditionen) gibt. Whale erzählt vom Übergang von traditionellen Lebensformen in die Moderne und Postmoderne. Wir entdecken zusammen mit den Figuren das Kino, die Veränderungen durch die Eisenbahn, das Entstehen der Kaffeekultur und andere Entwicklungen.

In any case, that was how the construction of the railroad began. Soon, people started to come into Pyeongdae from other places for work. First came the railroad workers and the construction company staff members and the site manager, then came the bars and restaurants that sprouted up to serve them and the women who serviced them, then the vendors and peddlers selling things the women needed, and then finally a year later, when the train began to rumble through the village, there came doctors treating injured workers and pastors and missionaries and priests and monks who treated the soul, then the chapels and churches and temples were built, which brought in the workers who would build them, then came the women who would service those workers, and in that way peo ple came from faraway cities and nearby villages, looking for work, looking for things to see, looking for opportunities, looking for the faithful, looking for a mate, and later the local historians of Pyeongdae referred to this era’s sudden popula tion growth as the town’s first big boom.

CHEON MYEONG-KWAN, Whale, 134

Der Autor vermeidet es geschickt (vielleicht liegt hierin auch die Stärke der Übersetzung), zu sehr auf die Vermittlung oder die Erklärung kultureller Unterschiede zu setzen, wie wir es von vielen der  von Rebecca Walkowitz als „born translated“ bezeichneten international erfolgreichen Bücher kennen. Gleich auf der dritten Seite wird Hundesuppe gekocht, beschrieben als ein von Wärme geprägtes Gemeinschaftserlebnis. Eine der Protagonistinnen kehrt aus dem Gefängnis zurück und muss an dem verlassenen Ort ihrer Kindheit mit dem vorlieb nehmen, was da ist. So kommt es, dass unter anderem eine rohe Schlange gegessen wird. Zugleich vermeidet er Exotisierung und Othering, an Stellen, wo dies seinen Figuren passiert (zum Beispiel bei den Zwillingen, die im Zirkus auftreten) werden diese Mechanismen in einen reflexiven Zusammenhang eingebettet.

Das Lebensgefühl der Figuren ist geprägt von einer pragmatischen Haltung: sie haben Ambitionen und wollen etwas vom Leben, wenn sie scheitern, klagen sie nicht, sondern machen weiter. Dabei fehlt keineswegs das Pathos: es gibt mehrere Tode aus Liebe. Geumbok wird zunächst sehr reich, verliert das Geld wieder und findet neue Einnahmequellen. Es ist ein Auf und Ab zwischen einmaligen Gelegenheiten und Momenten des Scheiterns, dem Mut, Chancen zu ergreifen und der Fähigkeit, auch in den schlechtesten Zeiten nicht zu aufzugeben. Zugleich sind die Figuren komplex. Auch eine Person, die fähig ist, mit vielen Menschen tiefe und unterstützende Beziehungen aufzubauen, kann eine schlechte Mutter sein. Ein Gangster kann dagegen ein unterstützender Partner sein.  Es kommt es immer auf die Umstände und auf die Perspektive an. So heißt es an einer Stelle ganz am Anfang:

Life is sweeping away the dust that keeps piling up. That was what one of her cellmates, the one with freckles scattered across her face, always said. Everyone called her Cyanide – she had been sentenced to death for killing her two daughters and her husband with a cyanide-laced meal. Until the day she was executed, she was the one who swept and cleaned their cell. Any time the other prisoners grumbled, What’s the point of cleaning when your days are numbered? she would say, Life is sweeping away the dust that keeps piling up, as she mopped the floor with a rag, and sometimes she would add, Death is nothing more than dust piling up. Chunhui never quite understood what that meant, but that first day she was back, those riddles popped into her head as she walked toward the remnants of the house.

CHEON MYEONG-KWAN, Whale, 12

Das Buch ist weder moralisierend, noch zynisch – diese Perspektive auf die Welt ist sehr erfrischend. Dazu gibt es einmalige Charaktere – eine ambitionierte Frau namens Geumbok, die in jungen Jahren einen Wal gesehen hat und davon zutiefst beeindruckt war; ihre Tochter Chunhui, die in ihrer eigenen Welt lebt und mit einem Elefanten kommuniziert sowie eine ganze Reihe origineller Nebenfiguren. Definitiv ein Mustread und ein wohlverdienter Platz auf der Shortlist!

CHEON MYEONG-KWAN: Whale, aus dem Koreanischen von Chi-Young Kim, Europa Editions 2023 (2004). Auf Deutsch ist der Roman bei Weissbooks erschienen.

Cover von Patricia Lockwood und Olivia Sudjic

Olivia Sudjics Social-Media-Roman Sympathy und postdigitale Schreibweisen bei Patricia Lockwood

Olivia Sudjics Sympathy (2017) wurde in vielen Besprechungen – sicher nicht zu Unrecht –als „The First Great Instagram Novel“ (Livingstone 2017) angepriesen. Nicht weniger gelobt und bereits vor dem Erscheinen viel diskutiert wurde Patricia Lockwood’s No One Is Talking About This (2021). Der Guardian bewarb das Buch mit der Phrase: „A master of online writing turns her skills to a novel“ (Cummins 2021). Lockwood ist zuvor bereits als Dichterin in Erscheinung getreten. Auf Twitter ist sie ebenfalls sehr präsent (@TriciaLockwood). Sudjic und Lockwood stellen sich der Herausforderung, von der Digitalisierung und von der durch Internet und Smart Phone geprägten Interaktion der Gegenwart in literarischen Texten zu erzählen, auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Während Sudjic die narrativen Möglichkeiten des Romans auslotet, zeichnet sich Lockwoods Schreibweise dadurch aus, dass sie verschiedene „piece[s] of writing“ (Lockwood 2021: 58), die lose durch einen Plot um eine im Internet prominent gewordene Frau zusammengehalten werden, miteinander verknüpft. Ihre Schreibweise wurde zutreffend als „Lockwood‘s infinite scroll“ (McNeil 2021) bezeichnet.

„I sank back, deeper into the parallel universe I had found“

Sudjic beleuchtet in ihrem Roman nicht nur die Spezifik eines bestimmten sozialen Mediums, sondern zeigt auch auf, welche neuen Dynamiken sich durch die Kombination von persönlichen Verbindungen, den Vernetzungen in verschiedenen Apps und den auf sozialen Medien wie Instagram inszenierten persönlichen Profilen ergeben. Diese unterschiedlichen Ebenen werden in der Handlung um die Beziehung zwischen zwei Frauen, der Ich-Erzählerin Alice und der Schriftstellerin Mizuko, enggeführt. Das Erzählverfahren des Textes erinnert an die Funktionsweise sozialer Medien: Verschiedene Ereignisse vom Kennenlernen der beiden Frauen bis zum Zeitpunkt des vollständigen Kontaktabbruchs werden in loser zeitlicher Abfolge erzählt. Damit spiegelt der Text die Wirkungsweise sozialer Medien, deren antichronologischer Zeitstrahl es nur unter Schwierigkeiten zulässt, ein Profil chronologisch in der richtigen Reihenfolge nachzuvollziehen:

„I sank back, deeper into the parallel universe I had found. I’d scrolled back in time three years to Mizuko’s very first picture and was now working my way forwards again so I could follow her footsteps in a more logical sequence rather than randomly clicking on pictures of her.” (Sudjic 2017: 234)

Ich möchte weniger argumentieren, dass Sudjic mit ihrem Narrativ Social Media nachahmt, sondern vielmehr, dass sie bestimmte Aspekte eines Erzählverfahrens der Gegenwart einsetzt, welches auch in den sozialen Medien und anderen kulturellen Produktionen (etwa in Filmen oder Serien) genutzt wird. Die Umsetzung und konkrete Realisierung von zum Beispiel antichronologischen narrativen Strukturen ist jedoch jeweils spezifisch und hängt von der Beschaffenheit des Mediums (visuell, textuell, interaktiv usw.) ab. In Sympathy werden die Ereignisse durch das Ein- und Ausblenden ausgewählter Momente und durch die zeitliche Anordnung mithilfe von Vor- und Rückschauen jeweils unterschiedlich perspektiviert.

Anders als die sozialen Medien, die sich durch interaktive Nutzungsmöglichkeiten auszeichnen, gibt der Roman die zeitliche Abfolge, d.h. eine Chronologie der antichronologisch angeordneten Ereignisse, jedoch vor. Und anders als visuelle Medien, die Ort und Zeit durch bestimmte Bilder evozieren können, nutzen Texte für die raumzeitliche Navigation zumeist die Erzählstimme. Sympathy zeigt aber auch, was die Gattung Roman gerade im Gegensatz zu den fragmentarischen Erzählweisen im Internet leisten kann. So schreibt Dorothee Birke:

„Who knows where the media habits of the ‘millennials’ are tending next and how they will shape future selves and societies? The claim implicit in Sympathy is that for the fullest answer to this question we need to keep reading novels” (Birke 2019: 211). 

„Why were we all writing like this now?”

Dieser ganzheitliche Anspruch – den ein Roman wie Sympathy durch ein Narrativ erfüllt – wird in Patricia Lockwoods No One Is Talking About This durch den Verzicht auf ein konsistentes Narrativ zugunsten des Nacherzählens von Fragmenten aus dem Internet zurückgewiesen. Diese Erzählweise prägt vor allem den ersten Teil des Buches. Darin erzählt Lockwood ohne klassischen Plot, fragmentarisch und teils sarkastisch-anekdotisch, von einer durch Postings im Internet bekannt gewordenen Frau, die im Anschluss an ihren viral gegangenen Post „Can a dog be twins?“ (Lockwood 2021: 13) von ihrer Berühmtheit leben kann. Der Text kombiniert Momentaufnahmen aus ihrem Leben mit Reflektionen über das Internet, die Digitalisierung und die Veränderung des Alltags in Bezug auf Kommunikation, Sozialverhalten und Beziehungen.

„Why were we all writing like this now? Because a new kind of connection had to be made, and blink, synapse, little space-between was the only way to make it. Or because, and this was more frightening, it was the way the portal wrote. […]” (ebd.: 63)

Lockwood deutet hier ironisch die Möglichkeit an, dass das Internet selbst eine spezifische Schreibweise hervorbringt bzw. auf eine bestimmte Art und Weise „schreibt“. Damit bildet ihr Text das Gegenmodell zu Sudjics Roman, in dem versucht wird, aus den neuen Vernetzungs-, Beziehungs- und Kommunikationsmöglichkeiten ein Narrativ zu erzeugen. Lockwood konzentriert sich ganz auf die Unterbrechungen, auf einzelne Fragmente. Sudjics Roman bringt dagegen ein Narrativ, eine Erzählung hervor. Interessanterweise stellt Lockwood den Zusammenhang zwischen ihrer Art des Schreibens, dem Effekt des „page turners“ und der Unvermeidlichkeit eines vorwärtstreibenden Plots auch selbst her:

„That these disconnections were what kept the pages turning, that these blank spaces were what moved the plot forward. The plot! The plot was that she sat motionless in her chair, willing herself to stand up and take the next shower in a series of near-infinite showers, wash all the things that made her herself, all the things that just kept coming, all the things that would just keep coming, until one day they stopped so violently on the sidewalk that the plot tripped over them, stumbled, and lurched forward one more innocent inch.” (ebd.: 63f.)

In der Gegenüberstellung beider Texte wird deutlich, dass der Diskurs der Literatur und die intellektuelle Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen im Medium Buch weiterhin wichtig bleiben. Während sowohl die Schreibweise bzw. die textuellen Verfahren als auch der Inhalt bzw. Plot sich bei Sudjic und Lockwood fundamental unterscheiden, so dienen beide Texte der Auseinandersetzung mit dem digitalen Habitus und dessen Reflexion.

Die Protagonistinnen gehen offline

Im zweiten Teil von No One Is Talking About This behält Lockwood den Erzählstil in kurzen Sinneinheiten bei – die Protagonistin zieht sich nun allerdings aus dem Internet zurück, um einige Monate bei ihrer Familie zu verbringen. Lockwood erzählt im zweiten Teil eines Buches, das im ersten Teil vorwiegend von den Absurditäten des Internets handelt, davon, wie die Protagonistin sich um ihre Schwester und deren neugeborenes Baby kümmert, dem nur wenige Monate Lebenszeit bleiben, weil es mit dem Proteus-Syndrom (einer seltenen genetischen Erkrankung) geboren wurde.

Die beiden Teile des Buches zeigen ganz unterschiedliche Dimensionen der digitalisierten Gegenwart: im ersten Teil das Leben einer Person, die ständig online ist und deren Leben den Lesenden durch ihre Aktivitäten im Netz (sowohl ihre eigenen Beiträge, als auch das, was sie im Internet rezipiert) präsentiert wird, im zweiten Teil dann ein familiäres Schicksal, das zu ihren üblichen Interaktionen und Kommunikationsweisen in den sozialen Medien nicht passt und das sich aus Sicht der Protagonistin in diesem Kontext nur schwer kommunizieren lässt.

Lockwood geht es allerdings nicht darum, den Kontrast zwischen dem Internet und einem vermeintlich „echten“ Leben zu inszenieren oder die Kommunikation in den sozialen Medien als indifferent, ignorant oder irrelevant moralisch abzuwerten. Beides steht bei Lockwood nebeneinander. Während sich Sudjics Sympathy eindeutig dem Genre Roman zuordnen lässt, erweist sich Lockwoods Text in dieser Hinsicht als nicht kategorisierbar – für einen Roman oder eine Erzählung fehlt eine konsistente Handlung, aber auch die Entwicklung von Charakteren; der zweite Teil, der sich eher als Essay, Autofiktion oder Memoir einordnen ließe (und der auch autobiografische Bezüge hat, vgl. McNeil 2021), sperrt sich gegen die letztgenannten Zuordnungen wiederum durch die durchgehende Verwendung der dritten Person.

Während Sudjic eine Synthese aus den Online- und Offline-Handlungen ihrer Charaktere entwickelt, lässt Lockwood die Frage offen, wie die beiden Teile des Buches bzw. die unterschiedlichen Erfahrungswelten der Protagonistin zueinander passen. Im zweiten Teil ist jedenfalls wenig Platz für die ironischen Feinheiten der Kommunikation im Netz. Sowohl bei Sudjic als auch bei Lockwood sind das Krankenhaus und der Tod einer nahestehenden Person diejenigen Sphären, an denen die Protagonistinnen von ihren Endgeräten abgeschnitten sind bzw. in denen diese irrelevant werden.

Als die Protagonistin in Sympathy ihre Großmutter Silvia ins Krankenhaus bringt und dort auf die Untersuchungsergebnisse wartet, geht ihr Smartphone aus. Sie schreibt Dwight an, um mit ihren Gefühlen nicht allein zu sein: „Then my phone died just after I sent the message, so no comfort could come from it anyway.” (Sudjic 2017: 150). An dieser Textstelle wird auch deutlich, dass das Mobiltelefon nicht nur der Kommunikation, sondern auch der Gefühlsregulation dient.  

Der Text ist ein Auszug aus dem folgenden Aufsatz: Diana Hitzke: „Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur.“ Andreas Langenohl, Katrin Lehnen und Nicole Zillien (Hg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt/New York: Campus 2021, 243-267.

Literatur

Birke, Dorothee (2019), „New Media Narratives: Olivia Sudjic’s Sympathy and Identity in the Digital Age“, in: Astrid Erll u. Roy Sommer (Hg.), Narrative in Culture, Berlin/Boston, S. 199-214, https://doi.org/10.1515/9783110654370-012.

Cummins, Anthony (2021), “A Certain Ratio”, in: The Guardian Weekly, 19.02.2021.

Lockwood, Patricia (2021), No One Is Talking About This, London.

McNeil, Joanne (2021), “Can a Dog Be Twins. Patricia Lockwood‘s infinite scroll”, in: Vulture, 12.02.2021, letzter Zugriff: 22.03.2021, https://www.vulture.com/news/can-a-dog-be-twins%3F/.

Sudjic, Olivia (2017), Sympathy, London.

Flexen in Miami, Allegro Pastell, Pixeltänzer

Digitalisierung bei Berit Glanz, Joshua Groß und Leif Randt

Drei Romane der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – Pixeltänzer (2019) von Berit Glanz (*1982), Flexen in Miami (2020) von Joshua Groß (*1989) und Allegro Pastell (2020) von Leif Randt (*1983) – beschreiben eine fiktive Welt, deren Alltag von digitalen und sozialen Medien durchdrungen ist, die Protagonist:innen sind auch allerlei technischen Tools gegenüber aufgeschlossen. Die Texte thematisieren die Digitalisierung nicht als neu und gefährlich, sondern als bereits normalisierte Realität. Daher lassen sich an ihnen gesellschaftliche Veränderungen in Bezug auf Arbeit und Freizeit, Kunst und Kreativität, Beziehungen sowie die grundsätzliche Bedeutung der Digitalisierung besonders gut beobachten. Die literarischen Texte lassen sich als Auseinandersetzung mit Entwicklungen lesen, die derzeit gesellschaftlich ausgehandelt werden.  

Arbeit und Freizeit

In Leif Randts Allegro Pastell (2020) sind Arbeit und Freizeit weder räumlich noch zeitlich begrenzt: Jerome und Tanja haben keine festen Arbeitszeiten, sie arbeiten mobil und gern auch an den Wochenenden, an denen sie einander sehen. Dennoch gibt es Zeit für Ausflüge mit dem Tesla oder Spaziergänge ins Naturschutzgebiet[1] und Zeitfenster für intensives Ausgehen, wobei die Regeneration nach den von Schlafmangel und Drogenkonsum geprägten Tagen stets mit eingeplant wird. Jerome ist selbständiger Webdesigner, Tanja ist Schriftstellerin. Da beide mobil arbeiten, sind sie an Orte nicht gebunden – Jerome lebt in seinem Elternhaus in Maintal, Tanja in Berlin. Wie der Titel bereits suggeriert, wird das Lebensmodell der beiden weder glorifiziert, noch kritisch beleuchtet. Randt verleiht seiner Erzählung Ambivalenz, indem er vorwiegend ohne Wertungen erzählt. Dadurch bleibt es den Lesenden überlassen, ob sie den Roman als Abbild des Status quo einer Gesellschaft lesen, als Utopie für Beziehungen ohne Konflikte oder als Kritik an Lebensmodellen, die darauf basieren, alles Störende auszuschließen bzw. dies aufgrund ihrer privilegierten Position überhaupt zu können.

Während Randt die Arbeitswelt von Freischaffenden und Selbständigen beschreibt, geht es in Berit Glanz‘ ebenfalls gefeiertem Roman Pixeltänzer (2019) um die Tech-Arbeitswelt. Die Protagonistin Beta arbeitet in einem Start-Up-Unternehmen im Bereich der Software-Qualitätskontrolle. Technik, Internet und neue Arbeitsformen prägen jedoch auch ihren Alltag jenseits der Lohnarbeit. Die durch verschiedene Apps ermöglichten Vernetzungsmöglichkeiten, ihre eigenen Programmierfähigkeiten und das ständige Recherchieren im Internet sind für Beta essentiell: morgens wird sie von einer Weck-App geweckt, in ihrer Freizeit fertigt sie Tiermodelle für ihren 3D-Drucker an und nach Informationen oder Erklärungen sucht sie stets nur online.

Die Tech-Arbeitswelt wird bei Glanz fast durchweg positiv beschrieben. Betas Arbeitsplatz wird kaum als solcher bezeichnet, sondern immer nur als Ort für Kreativschaffende dargestellt: Das Team wird ständig motiviert und mit konzentrationsfördernden Snacks versorgt, montags gibt es Sushi zum Mittagessen und natürlich geht es auch für eine Woche in den (so nicht bezeichneten) Arbeitsurlaub nach Barcelona. Die Arbeits- und Verhaltensweisen der Tech-Branche werden zwar teils mit leichter Ironie beschrieben, Kehrseiten gibt es aber kaum – wenn überhaupt, dann erweist sich die Realität hinter den Versprechen als nicht ganz so rosig wie erwartet: Die Teamreise geht beispielsweise nicht wie auf den Fotos angekündigt nach Bali, sondern nach Barcelona, wo es anders als auf der indonesischen Insel keine Palmen am Arbeitsplatz gibt und wo die Sitzkissen zwar gut aussehen, aber unbequem sind. Die zunächst als innovativ angepriesene Fahrt im Tech-Bus, die Beta in ihrem Urlaub unternimmt, hebt sich nicht wirklich von Klassen- oder Seniorenfahrten ab, im Bus herrscht ein mit Kaffee aus großen Thermoskannen getränktes Arbeitsklima, das von durchwachten Nächten im Hotel begleitet wird, in denen die Teams an ihren Apps arbeiten.

Die Begriffe der Tech-Welt, die Arbeitsmethoden der Start-Up-Szene sowie die Funktionsweise des Codens und verschiedener Apps werden in lexikonähnlichen Einträgen erklärt: so etwa der „Monkey-Test“ (ebd.: 48), der „Black-Box-Test“ (ebd.: 58), das „Fuzzing“ (ebd.: 64), der „Gorilla-Test“ (ebd.: 76), das „Visual Testing“ (ebd.: 81), „Scrum“ (ebd.: 144, 149, 153, 158, 162), das „Impediment Backlog“ (ebd.: 171), „Planungspoker“ (ebd.: 173), die „Kanban-Tafel“ (ebd.: 177), „Open Source“ (ebd.: 235, 247) und die „Definition of Done“ (ebd.: 251). Damit führt der Text auch ein technisch nicht affines Publikum fast didaktisch in die Welt der Start Ups und in die Arbeitsweise des New Work ein.

Themen wie die Überwachung und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche werden angedeutet, stören aber weder das System noch die Protagonistin. Jede angedeutete Kritik erweist sich im Laufe der Geschichte höchstens als kleine Irritation oder sie läuft von vornherein ins Leere. Beta stiehlt – zum Spaß – einen Roboterfisch aus dem Aquarium des Ruheraums, der, so deutet die Ich-Erzählerin an, auch zur Überwachung der Mitarbeitenden dienen könnte. Dessen Verschwinden – er wird von Beta in der Spree versenkt und sendet daher für eine gewisse Zeit weiterhin Unterwasserbilder – bemerkt aber letztlich niemand. Der Versuch, mit ihren beiden Kolleg:innen den Wettbewerb, der auf der Fahrt im Tech-Bus ausgetragen wird, durch die Programmierung einer unverkäuflichen App zu stören, erweist sich als unmöglich – denn in der gewinnorientierten und warenförmigen Wahrnehmung der Jury lässt sich auch die Unverkäuflichkeit zum Verkaufsargument stilisieren. Die Ausweitung der Arbeit auf das gesamte Leben – Beta verbringt ihre Freizeit mit ihren Arbeitskolleg:innen und ihren Urlaub im Tech-Bus – wird an keiner Stelle kritisch gesehen; schließlich entspricht sie dem Ideal einer Verbindung von Arbeit und Leben (Work-Life-Blending im Gegensatz zu Work-Life-Balance, d.h. einer Verschmelzung im Gegensatz zu einer Ausbalancierung von Arbeit und Freizeit) in der Kreativbranche. 

In Joshua Groß‘ Flexen in Miami (2020) spielt Arbeit gar keine Rolle. Der Ich-Erzähler Joshua hat ein „einjähriges Aufenthaltsstipendium der Rhoxus Foundation“ (ebd.: 8) in Miami und verbringt seine Zeit hauptsächlich in seinem smart ausgestatteten Apartment, in dem er von einer Drohne mit Astronautennahrung versorgt wird. Neben Social Media und Suchmaschinen interessieren ihn vor allem NBA-Spiele und Sportwetten. Bald wird der Protagonist fast vollständig von einem Computerspiel namens Cloud Control in den Bann gezogen. Dieses Spiel prägt dann auch seine Interaktion mit den beiden Personen, die er in Miami kennenlernt – die Meeresbiologin Claire und deren Ex-Partner, den Rapper Jellyfish P. Obwohl zu Beginn des Textes durch das Stipendium und Hinweise auf das Schreiben angedeutet wird, dass der Protagonist Schriftsteller ist, wird während der gesamten Handlung nicht nur nicht geschrieben (was nicht ganz untypisch für Texte über Schriftsteller:innenresidenzen ist), sondern es wird nicht einmal beklagt, dass nichts geschrieben wird. Eine einzige Textstelle widmet sich dem Zwiespalt zwischen Schreiben und Lohnarbeit:

„Bevor ich nach Miami gekommen war, hatte ich halbtags gearbeitet, um unabhängig zu sein. Ich hatte mich komplett aufgerieben. Ich war immer noch ausgelaugt. Ich war darauf hingewiesen worden, dass auch Kafka seine Klassiker nebenberuflich geschrieben habe, nur für sich selbst, in der Brache des nächtlichen Burnouts. (…) Ein Ausweg hatte sich eröffnet, als mir das Stipendium der Rhoxus Foundation angeboten wurde und ich meinen Job kündigen konnte. Kein unbefristeter Vertrag mehr, nur neue Zukunftsangst.“ (ebd.: 25)

Von der Anlage erinnert Groß‘ Text stark an Ben Lerners Leaving the Atochia Station (2011), eine Erzählung, die auch im Diskurs um Literatur und Digitalisierung immer wieder genannt wird und insofern durchaus auch für Groß ein Vorbild gewesen sein könnte. Bei Lerner geht es um einen Autor, der durch ein Stipendium aus den USA nach Madrid gekommen ist und seinen Alltag dort zwischen dem Schreiben von Gedichten, dem Ausgehen mit seinen neuen Freund:innen aus einer Galerie und in nicht weiter definierten Beziehungen zu den beiden Frauen Isabel und Teresa verbringt. Während bei Groß das Schreiben gar keine Rolle spielt, da sein Ich-Erzähler fast vollständig von digitalen Medien und der von dem Computerspiel ausgehenden Interaktion vereinnahmt ist, steht bei Lerner das Schreiben, aber auch das Leben als Künstler im Mittelpunkt. Lerners Protagonist Adán gelingt es jedoch – ganz im Gegenteil zu Joshua – sich während seines Spanienaufenthaltes von Medien, zumindest in Bezug auf die damit zusammenhängenden sozialen Verpflichtungen, weitgehend fern zu halten:   

„Although I had internet access in my apartment, I claimed in my e-mails to be writing from an internet café and that my time was very limited. I tried my best not to respond to most of the e-mails I received as I thought this would create the impression I was offline, busy accumulating experience, while in fact I spent a good amount of time online, especially in the late afternoon and early evening, looking at videos of terrible things.“ (ebd.: 18f.)

Seinen Freunden in den USA erzählt er, er habe in seinem Apartment keinen Internetzugang. Seine neuen Freunde in Madrid können ihn telefonisch nicht erreichen, ebenso wenig die Stiftung.[2]

Während bei Lerner die Arbeit des Ich-Erzählers an seinen Gedichten und die Auseinandersetzung mit seiner Position als Künstler thematisiert wird, ist bei Groß von Kunst keine Rede (abgesehen von dem Rapper Jellyfish P, der unter massivem Drogeneinfluss an seinem neuen Album arbeitet). Lerner thematisiert darüber hinaus auch das Verhältnis von Kunst zu Arbeit, indem er ein Milieu beschreibt, in dem nicht gearbeitet werden muss. Teresa übersetzt Gedichte, Arturo und Rafa betreiben eine Galerie, alle drei entstammen Familien, die ihr Geld – wie sie selbstironisch reflektieren – nicht mit dem Schreiben von Gedichten verdient haben („Teresa said something about banks. (…) Arturo said they didn’t make (money) by writing poetry and we laughed“ [ebd.: 139]).

In Flexen in Miami wird keines der Themen, die durch die Anlage der Erzählung angedeutet werden, ausgeführt: Das Stipendium wird weder zum Schreiben noch zur Reflektion über Kunst genutzt, es findet keine Auseinandersetzung oder Entwicklung durch die Auslandserfahrung statt und auch der beständig intensiver werdende Drogenkonsum und das Versinken in dem Computerspiel werden nur dargestellt, nicht aber reflektiert. Flexen in Miami lässt sich daher vielleicht als Parodie auf die Erwartungen der Literaturwelt an den Roman über die Digitalisierung lesen, schöpft aber auch dieses Potential nicht aus. Was zunächst als selbstironische Spiegelung des Alltags eines zumindest zeitweise nicht zur Lohnarbeit verpflichten Schriftstellers in Zeiten von Social Media, Computerspielen und allerlei Ablenkungen durch das Internet gelesen werden kann, führt schließlich nicht mehr aus der Welt der Sportwetten, Drogen und aus Cloud Control heraus.   

Kunst, Kreativität, Gamification

In Allegro Pastell wird die Ähnlichkeit der Lebensmodelle von selbständigen Kreativarbeitenden und Autor:innen beschrieben – der Webdesigner Jerome und die Schriftstellerin Tanja arbeiten mobil, benötigen nur ihr Notebook zum Arbeiten und können sich ihre Zeit frei einteilen, was ihnen – in stets gut durchdachter Ausbalancierung von Disziplin und Ausschweifung – mühelos gelingt. Randts Roman ist in Bezug auf die Beschreibung von Social Media fast anachronistisch (und ähnelt in dieser Hinsicht Ben Lerners Text) – im Vordergrund stehen weder die damit verbundene ständige potentielle Erreichbarkeit noch die Ablenkung durch zahlreiche Apps. Die Nachrichten, die Tanja und Jerome einander schreiben, sind immer wohl durchdacht und ausformuliert. Mails werden genutzt, um mit Abstand noch einmal in aller notwendigen Komplexität und Länge über Dinge zu reflektieren, die in der direkten Kommunikation zu kurz gekommen sind.

In Flexen in Miami erlebt der Protagonist das Gegenteil von Reflektiertheit und Selbstbestimmung: er ist dem Internet und der Welt von Cloud Control völlig ausgeliefert und steigert diesen Zustand noch durch zunehmenden Drogenkonsum. Die suchtauslösenden Wirkungen von Drogen, Spiel und dem interaktiven Medium Internet werden bei Groß enggeführt – soweit, dass schon kurz nach Beginn des Romans das Ziel des Stipendiums nicht einmal mehr erwähnt wird. Weder Kreativität noch Kunst kommen bei Groß gegen die gamification des Alltags und die damit verbundenen Versprechen der ständigen Unterhaltung an.

Bei Berit Glanz werden Kunst, Kreativität und gamification gezielt miteinander verwoben. Beta interessiert sich für Kunst, besucht Museen und verfolgt die Geschichte um das Hamburger Künstler:innenpaar Lavinia Schulz und Walter Holdt. Sowohl ihre Arbeit als auch ihre Freizeit sind stark vom Spielcharakter aller Tätigkeiten geprägt – nicht jedoch im Sinne des Abdriftens wie bei Groß, sondern als kreativitätsfördernd und strukturgebend zugleich. Sowohl die Hauptfigur Beta als auch der Plot, der auf die Gegenüberstellung von avantgardistischen Künstler:innenzirkeln und der Welt der Start-ups setzt, entsprechen den von Andreas Reckwitz beschriebenen Entwicklungen der Gegenwart:

„In der Gegenwartsgesellschaft haben sich die Anforderung und der Wunsch, kreativ zu sein und schöpferisch Neues hervorzubringen, in ungewöhnlichem Maße verbreitet. Was ehemals subkulturellen Künstlerzirkeln vorbehalten war, ist zu einem allgemeingültigen kulturellen Modell, ja zu einem Imperativ geworden.“ (Reckwitz 2012, Klappentext)

Dieser Imperativ wird von Berit Glanz in Pixeltänzer nicht nur in einem fiktionalen Text umgesetzt, sondern geradezu idyllisch verklärt: Die Start-up-Szene wird als ständig gut gelaunt, kreativ und produktiv beschrieben. Betas Freizeit wird von Tiermodellen, Eisdielen und Ausflügen dominiert.  

Zugleich nutzt der Roman selbst auch Elemente der gamification (oder traditioneller formuliert: der Interaktion), indem er die Lesenden einbindet. Einerseits werden sie, wie bereits beschrieben, in Bezug auf neue Arbeitsformen und das Programmieren didaktisch geschult und andererseits – zusammen mit der Hauptfigur Beta – zum Entschlüsseln von (versteckten) Informationen aufgefordert. Dazu tragen nicht nur die im Text eingebundenen Links bei, die auf existierende Internetseiten verweisen und die Lesenden zu einem Medienwechsel anregen sollen, sondern auch die wahre Geschichte um Lavinia Schulz und Walter Holdt, die recherchiert werden kann. Darüber hinaus enthält der Text viel Symbolik, die sich entschlüsseln und interpretieren lässt. So verweist etwa der Vorname der Protagonistin Beta nicht nur auf die Testversion, sondern lässt sich auch als Abkürzung von Elisabeth (ein Name, der wiederum etymologisch „Gott“ und „Fülle“ in sich trägt) mit Bezug auf die digitalisierte Welt deuten. Neue Entwicklungen werden darüber hinaus oft mit Traditionen verbunden, etwa wenn Bezüge zwischen Avataren und Masken hergestellt werden.

Darüber hinaus wird das Programmieren/Coden anhand der Tiermodelle, die Beta in ihrer Freizeit gestaltet, als kreative, handwerkliche und autonome Tätigkeit dargestellt. Für Beta besteht kein Unterschied darin, ob sie in ihrer Arbeit oder Freizeit programmiert, ebenso wenig scheint sie Wert darauf zu legen, welchen kommerziellen Zwecken die Apps, die sie nutzt oder mit ihren Arbeitskolleg:innen programmiert, dienen. Einerseits wird in Pixeltänzer der Spielcharakter der Arbeitswelt beschrieben, andererseits wird implizit aber auch der Arbeitscharakter der Freizeit deutlich. 

Beziehungen

Beta nutzt das Internet und ihre Programmierfähigkeiten auch, um ihre romantischen Bedürfnisse zu erfüllen: Durch eine Weck-App, deren Nutzer:innen jeden Morgen durch ein dreiminütiges Gespräch mit Menschen aus aller Welt geweckt werden, lernt sie Toboggan kennen. Sie ist von seinem Avatar begeistert und beginnt, sich mit ihm zu beschäftigen. Dadurch entdeckt sie die Toboggan-Maske des Tänzerpaares Lavinia Schulz und Walter Holdt. Mit dem Ziel, mit Toboggan in Kontakt zu treten, setzt sie ein Blog auf. Dies gelingt ihr auch und fortan wartet sie auf versteckte Zeichen von ihm, die sie entschlüsseln muss. Auf diese Weise erhält sie von Toboggan in sich abgeschlossene Texte, die von Lavinia Schulz erzählen und als Binnenerzählungen in den Roman eingefügt sind. Beta recherchiert ihrerseits zu dieser Geschichte und verfasst auf ihrem Blog Briefe an Toboggan, in denen sie von ihrem Leben und ihrer Leidenschaft für Insekten erzählt. Auf diese Weise fügt Glanz in die vom Internet dominierte Romanwelt eine naturalistisch-romantische, sehr schlicht erzählte Geschichte ein, die von den persönlichen und künstlerischen Ausbruchsversuchen der expressionistischen Künstlerin erzählt. Diese Geschichte und die Briefe von Beta an Toboggan bilden den Kontrapunkt zu Betas technik- und internetdominiertem Alltag. Toboggan erweist sich als informierter Geschichtenerzähler, der schließlich bei der Präsentation des Tech-Bus-Startups erscheint, um einen letzten Text zu hinterlassen und schließlich, als Beta – wie im Blog angekündigt – am darauffolgenden Vormittag die Masken im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe besichtigt, am Ende der Ausstellung auf sie wartet.

Während Beta Toboggan über digitale Medien kennenlernt und darüber auch mit ihm kommuniziert, sind in Allegro Pastell Medien in Bezug auf die Beziehungsebene der Protagonist:innen kaum relevant. Die Personen, mit denen Jerome Kontakt hat, kennt er aus dem sogenannten echten Leben – die Medien, vor allem Messenger und E-Mails, dienen hauptsächlich der Kommunikation. Bei Groß findet am ehesten eine Vermischung statt – sein Protagonist kommuniziert über das Spieleforum mit Personen, die er persönlich nicht getroffen hat, Claire trifft er allerdings bei einem NBA-Spiel. Vergleichend lässt sich festhalten, dass bei Glanz alle beschriebenen Beziehungen durch digitale Medien geprägt sind, bei Randt Medien selbstbestimmt zur stets reflektierten Kommunikation genutzt werden und bei Groß eine Vermischung zwischen der Interaktion mit Personen aus der realen Welt und den Avataren in Cloud Control stattfindet. In allen drei beschriebenen Romanen ist der Einfluss von Medien auf Beziehungen jedoch nicht das eigentliche Thema: bei Glanz scheint er selbstverständlich, bei Randt ist er Teil der Reflexion über Beziehungen im 21. Jahrhundert, bei Groß fehlt die reflexive Ebene größtenteils ganz.  

Der Text ist ein Auszug aus dem folgenden Aufsatz: Diana Hitzke: „Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur.“ Andreas Langenohl, Katrin Lehnen und Nicole Zillien (Hg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt/New York: Campus 2021, 243-267.

Literatur

Glanz, Berit (2019), Pixeltänzer, Frankfurt a.M.

Groß, Joshua (2020), Flexen in Miami, Berlin.

Lerner, Ben (2011), Leaving the Atochia Station, London.

Randt, Leif (2020), Allegro Pastell, Köln.

Reckwitz, Andreas (2012), Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin.


[1] Während bei Leif Randt die Natur – wenn auch immer leicht ironisch – durchaus eine Rolle im Leben der Protagonist:innen spielt (Jerome lebt am Rande eines Naturschutzgebiets, sie machen Ausflüge an den Rhein usw.), wird sie bei Glanz und Groß zum Fluchtpunkt – in beiden Texten werden Roboter in die Freiheit entlassen: bei Glanz ein Fischroboter in die Spree, bei Groß ein Staubsaugroboter in den Ozean. In Sudjics Sympathy werden das Notebook und das Smartphone von Mizuko im Wasser versenkt – hier werden die technischen Geräte jedoch nicht in die Freiheit „entlassen“, sondern die Medien sollen endgültig stumm gestellt werden. 

[2] „I didn’t have a phone, and they didn’t know exactly where I lived“ (ebd.: 21).

 

Verschiedene Cover: Patricia Lockwood, Olivia Sudjic, Sammelband Digitaler Habitus, Leif Randt, Joshua Groß, Berit Glanz

Reflexionen über Digitalisierung in der Literatur

Mir war das Smartphone in die Badewanne gefallen, und als ich begriff, dass ich weder ein Foto davon für Instagram machen noch sofort darüber twittern können würde, war das eine wirklich schräge Erfahrung.

Christiane Frohmann

Es mag zunächst kontraintuitiv erscheinen, ausgerechnet im klassischen Medium Buch nach Reflexionen über Digitalisierung zu suchen. Gerade im traditionellen Medium der Literatur – nämlich in Büchern, die von Verlagen verbreitet werden und durch Literaturkritik bzw. Literaturpreise gesellschaftliche Relevanz erlangen – zeigt sich, wie tief die Transformation durch die Digitalisierung nicht nur diejenigen Bereiche durchdringt, die direkt von ihr beeinflusst werden. Sie wirkt sich auch auf Bereiche aus, die gern als Kontrapunkt bzw. Gegenwelt dazu wahrgenommen werden. Der Erfolg einer ganzen Reihe von Autor:innen und Texten, die sich positiv auf die Digitalisierung beziehen und diese auch strukturell in ihren Poetiken mitdenken, ist insbesondere vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass Handlungen selbst in der Gegenwartsliteratur gern in technikarme Umgebungen verlegt werden, wie Kathrin Passig völlig richtig bemerkt (Passig 2019: 33).

Dass das klassische Medium Buch keinesfalls obsolet wird, um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Literatur zu analysieren, zeigt sich auch daran, dass selbst Texte, die auf ein medienaffines Publikum zielen und auf Twitter veröffentlicht worden sind – so etwa die Tweets von Sarah Berger (Twitteraccount bis 2019: @milch_honig, neuer Account @fem_poet, letzter Zugriff 23.03.2021) oder die Kurzgeschichten in Tweet-Länge des kroatischen Autors Dragan Babić (Twitteraccount: @draganbabic, letzter Zugriff 23.03.2021) – später als Bücher veröffentlicht worden sind. Kathrin Passig beschreibt zutreffend, dass das Medium Buch einem Text Ernsthaftigkeit und Sinn verleihen kann: „Je erklärungsbedürftiger das Projekt, desto nützlicher ist das Buch als Verständnishilfe.“ (Passig 2019: 104).

Die Reflexion über Digitalisierung findet in literarischen Texten auf ganz unterschiedliche Art und Weise statt. Neben Romanen, in denen die Digitalisierung zum Hauptthema gemacht wird, gibt es eine ganze Reihe von Texten, in denen die Beschreibung einer von Technik, Computerspielen und sozialen Medien geprägten Welt im Vordergrund steht. Sie setzen sich mit einer mehr oder weniger in der Gegenwart angesiedelten digitalisierten Welt auseinander und bilden einen von Medien durchdrungenen Alltag ab.

Auch die Erfahrung von Intermedialität wird in den Texten sichtbar gemacht bzw. zum Teil auch direkt in die Texte integriert. Bei Joshua Groß finden sich zwei unterschiedliche Verfahren, um andere Medien in den Text einzuarbeiten: Einerseits werden die Erlebnisse des Protagonisten in der fiktiven Wirklichkeit und in einem Computerspiel so beschrieben, als würden sie auf derselben Ebene stattfinden. Andererseits werden einige Ereignisse – so etwa ein Kinobesuch, der durch die minutiöse, monotone Nacherzählung der Handlung geschildert wird – als in sich abgeschlossen dargestellt, in diesem Fall sogar im Druckbild abgehoben. Auch bei Berit Glanz werden längere in sich geschlossene Textpassagen – Briefe und eigenständige Erzählungen –, aber auch Links und Programmierbefehle in den Text integriert. Auch die Nachrichten (sowohl Textnachrichten als auch E-Mails), die sich Tanja Arnheim und Jerome Daimler in Leif Randts Allegro Pastell (2020) gegenseitig schreiben, sind sichtbar in den Text eingefügt. Neben diesen Elementen der Intermedialität und Interaktivität zeigt sich in einer ganzen Reihe von Texten der Gegenwart, wie die Digitalisierung den Alltag und die Handlungsoptionen von Menschen verändert. Die literarischen Texte reflektieren darüber, wie gewohnte Narrative über zwischenmenschliche Beziehungen, Arbeit und Freizeit, Selbstentfaltung oder Sicherheit sich verändern und wie Literatur darauf zwangsläufig reagieren muss, wenn sie nicht unglaubwürdig, realitätsfern oder eskapistisch wirken möchte.

Leif Randts Allegro Pastell reflektiert auch darüber, wie sich (Fern-)Beziehungen und Kommunikationsstrukturen verändern, wenn der oder die andere prinzipiell ständig erreichbar ist. Das Einfügen der Nachrichten bei Randt lässt sich daher nicht darauf reduzieren, dass lediglich ein veränderter Lebensstil mit neuen technischen Utensilien und den damit einhergehenden Kommunikationsarten abgebildet wird. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich solche Veränderungen im Alltag zwangsläufig auch auf Plots und Handlungsverläufe in fiktionalen Texten auswirken. Eine große Abschiedsszene am Bahnhof verliert an Bedeutung und Glaubwürdigkeit, wenn die Erreichbarkeit des oder der anderen nach dem Einstieg in den Zug weiterhin gewährleistet ist. Im Text müsste eine solche Szene zumindest plausibel gemacht werden – etwa durch nicht vorhandenes W-LAN oder einer Verweigerung von Telefon und/oder Internet –, um nicht völlig anachronistisch zu wirken. Olivia Sudjic führt in ihrem Roman Sympathy (2017) auf komplexe Art und Weise vor, wie sich Internet und Social Media auf die Wahrnehmung von Wirklichkeit auswirken, sie zeigt aber zugleich durch die Einbindung von Personen aus verschiedenen Generationen, dass die Gegenwart durchaus auch andere Perspektiven bereithält und dass auch in der Generation der sogenannten Digital Natives Erfahrungen gemacht werden, die nicht durch digitale Medien vermittelt sind. Sudjics Roman transportiert die Erfahrung, nicht vorhandene Erreichbarkeit und Konnektivität ständig plausibel machen zu müssen – etwa durch die Verweigerung bestimmter Medien durch gewisse Personen, durch die Abwesenheit von W-LAN an bestimmten Orten oder durch leere Akkus in bestimmten Situationen.

Während bei Sudjic die Beschreibungen von Situationen, in denen die Grenze zwischen Online und Offline auch in der Gegenwart weiterhin besteht, großen Raum einnimmt, spielt zum Beispiel bei Berit Glanz die Abgrenzung zwischen Online und Offline kaum eine Rolle, weil die Protagonistin die meiste Zeit online ist. Während Sudjic die (verdeckte) Normalität von Situationen ohne Internet in der Gegenwart (Orte ohne W-LAN, leere Akkus usw.) antizipiert, wird bei Berit Glanz in Pixeltänzer (2019) die Fiktion einer stets vernetzten Welt erzeugt. Situationen ohne Internet stehen dort für die Provinz: So erlebt die Protagonistin bei einem Ausflug in den Spreewald eine Welt mit schlechtem W-LAN, was auch gleich zu einem Streit führt (bezeichnenderweise zum einzigen Streit in dem ganzen Text), da niemand die Scrabble-Regeln online nachschauen kann.

Viele Romane, die sich mit Technologien und Digitalisierung beschäftigen, setzen ein gewisses technisches Wissen sowie praktische Erfahrungen nicht nur mit sozialen Medien, sondern auch im Bereich des Programmierens voraus, um deren Wirklichkeitsbezug angemessen einschätzen zu können. Wenn Handlungen nicht explizit in die Zukunft verlegt oder als utopisch bzw. dystopisch gekennzeichnet werden, dann spielen diese Texte mit der Unsicherheit der Lesenden in Bezug auf die Frage, was in der Gegenwart bereits (theoretisch) möglich ist, was ein Zukunftsszenario sein könnte und was wiederum in den Bereich der Fantasie fällt. Ein gutes Beispiel für einen Text, der mit diesen Grenzbereichen spielt, ist Joshua Groß‘ Roman Flexen in Miami (2020). Der Erzähler lebt in einem Apartment in Miami und bekommt von einer Stiftung, die ihm durch ein Stipendium sein Leben finanziert, täglich mit einer Drohne Astronautennahrung angeliefert – ein unwahrscheinliches, aber durchaus mögliches Szenario. Später bekommt er auch einen „smarten“ Kühlschrank, der zu Beginn vor allem die darin befindlichen Nahrungsmittel aktualisiert oder Bescheid gibt, wenn die Milch abläuft. Zunehmend wird der Kühlschrank aber zu einem Gesprächspartner des Protagonisten, der sich auch emotional an seinem Leben beteiligt und zu einem Freund wird. Parallel dazu entwickelt sich die Erzählung sukzessive zu einer Fiktion, in der sich die Handlungen des Protagonisten in einem Videospiel namens Cloud Control, in das er sich gleich zu Beginn vertieft, kaum noch von denen in der – auch zunehmend von allerlei Drogen beeinflussten – Realität unterscheiden lassen.

Eine ganze Reihe von Texten der Gegenwart (so zum Beispiel die bereits erwähnten Romane, Leif Randts Allegro Pastell oder Olivia Sudjics Sympathy) integrieren jedoch digitale Medien, ohne den Wirklichkeitsbezug der fiktiven Welt in Frage zu stellen und ohne explizit Medien- oder Kapitalismuskritik in Form von Dystopien zu üben. Die Beschäftigung mit Literatur setzt – wenn sie im Sinne von Poetizität/Literarizität, Fiktionalität bzw. Narrativität verstanden wird – grundsätzlich voraus, dass sie nicht an ihrer Referenzbeziehung zur Wirklichkeit gemessen wird und dass diese allein nichts über die Qualität literarischer Texte aussagt. Aus diesem Grund besteht zwischen Texten oder Textstellen, welche die Digitalisierung oder mit der Digitalisierung assoziierte Techniken (nichtlineare Schreib- und Leseprozesse, Zufallsprinzip, Kopieren usw.) imaginieren und solchen, die sie tatsächlich voraussetzen oder als Verfahren verwenden, zunächst kein kategorialer Unterschied. Ob die in Romanen beschriebenen Smart Cities und Technologien oder die Arbeitsweise von Programmierer:innen in fiktionalen Texten der Wirklichkeit entsprechen, ist genauso interessant (oder eben uninteressant) wie die Frage danach, ob die Straßen und Cafés in einem Berlinroman tatsächlich existieren und adäquat beschrieben sind.

Literatur

Der Text ist ein (leicht variierter) Auszug aus dem folgenden Aufsatz: Diana Hitzke: „Digitaler Habitus in der Gegenwartsliteratur.“ Andreas Langenohl, Katrin Lehnen und Nicole Zillien (Hg.): Digitaler Habitus. Zur Veränderung literaler Praktiken und Bildungskonzepte. Frankfurt/New York: Campus 2021, 243-267.

Frohmann, Christiane (2018), Präraffaelitische Girls erklären das Internet, Berlin.

Glanz, Berit (2019), Pixeltänzer, Frankfurt a.M.

Groß, Joshua (2020), Flexen in Miami, Berlin.

Passig, Kathrin (2019), Vielleicht ist das neu und erfreulich: Technik. Literatur. Kritik, Graz/Wien.

Randt, Leif (2020), Allegro Pastell, Köln.

Sudjic, Olivia (2017), Sympathy, London.

Bilder bauen, Bulimie als Metapher und andere Stilübungen: Yade Yasemin Önder

Dass Önder es ernst meint mit der Literatur, wird gleich auf der ersten Seite klar. Ihr Text beginnt ekphrastisch mit folgendem Bild:

An einem Tag ein Jahr nach Tschernobyl wurde ich auf einer Wiese geboren. Geschrien haben muss ich lang, und dunkel war meine Stimme schon bei der Geburt, sagte man mir. Auf die Wiese hat mein Vater eine Dreizimmerwohnung gebaut und meine Mutter bestand nicht auf einer Badewanne. Die Gegenstände stellten wir auf Grashalme und Moos, und das Wetter tat sein Übriges: Ausgebleicht waren alle von der Witterung, vor allem die aus Holz. Die Füße faulten sicherlich, doch das war uns egal. Egal war aber nicht, der Herd kam zu spät, es war schon Dezember, erst dann konnte die Milch, die nicht von meiner Mutter stammte, in einem kleinen roten Töpfchen erhitzt werden. Das schmeckte mir, dann grinste ich, und mein Vater steckte mir einen Grashalm in den zahnlosen Mund, und meine Mutter drückte auf den Polaroidknopf, und fertig war unsere Dreizimmerwohnung im Park.

Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2022.

Önder entwickelt ein Bild – eine Wohnung, die auf einer Wiese gebaut wird, vom Familienvater für die Mutter und das Kind. Die Mutter drückt zum Abschluss auf einen Polaroidknopf. Dadurch wird die Szene nun explizit zum Bild gemacht, allerdings zu einem, das noch zu entwickeln ist. Das Bild wird dadurch vervielfacht, der Text ist von Beginn an selbstreferenziell. Es gibt das Bild der Wohnung, die vom Vater aufgebaut wird. Die Betrachterinstanz des Bildes ist die Ich-Erzählerin im Moment ihrer Geburt. Die Mutter schließlich macht ein Bild von dem Bild – ein Polaroid, d.h. eines, das direkt entwickelt und damit materialisiert wird. In der anschließenden Szene betrachtet die erwachsene Tochter dieses Bild. Die Leser:innen haben es somit mit drei Bildern zu tun, die von den drei Figuren (Kind, Vater, Mutter) geschaffen werden. Die synästhetische Wirkung der ekphrastischen Beschreibung und das surreale Element (das Bauen der Wohnung auf einer Wiese), bewirken, dass sich von Anfang an ein Rahmen zwischen Realität, Phantasie, Traum und Kunst aufspannt.

Nicht nur, dass dieser erste Absatz mit der rhetorischen Form der Ekphrasis aufwartet und Selbstreferentialität den Beginn des Textes markiert (der Text beginnt mit der Geburt der Ich-Erzählerin, die ein Bild beschreibt), er enthält zugleich auch allerlei intertextuelle Anspielungen. Der Vater baut eine Art Puppenheim – die Referenz auf Ibsens Theaterstück „Nora oder Ein Puppenheim“ gelingt auch ohne direkte Bezugnahme, die Enge und das Gefühl des Eingesperrtseins werden im Bild einer vom Vater gebauten Wohnung auf einer Wiese bereits deutlich. Ibsens Protagonistin Nora widersetzt sich den Geschlechterzuschreibungen der damaligen Zeit und versucht schließlich, daraus ausbrechen.

In einer der folgenden Passagen wird Hannelore Kohl als „unsere Nachbarin, die damals mit ihrem dicken Mann neben uns einzog“ (ebd. 6) eingeführt und damit eine typisch patriarchale Paarkonstellation. Die Anspielung auf die Kohls evoziert einerseits die gesellschaftspolitische Stimmung in den 80er und 90er Jahren in der Bundesrepublik während Helmut Kohls 16-jähriger Kanzlerschaft. Andererseits wird durch die Betonung des Gewichts des Mannes, das sowohl bei Kohl als auch bei dem Vater der Protagonistin eine Rolle spielt, das Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau im wortwörtlichen Sinne besonders sichtbar gemacht. Das öffentliche Bild von Hannelore Kohl ist nicht nur das der perfekten Ehefrau und Mutter, sondern auch das einer von Gewalterfahrung und Krankheit gezeichneten Frau, die zuletzt an einer Lichtallergie litt, die es ihr unmöglich machte, bei Tageslicht das Haus zu verlassen.

Krankheit ist ein weiteres Motiv, das Önders Debütroman prägt. Das extreme Übergewicht des Vaters wird als Krankheit diagnostiziert – dem wird innerhalb der Erzählung die Bulimie der Tochter gegenübergestellt. Das bulimische Verhalten der Ich-Erzählerin bildet einen auffälligen Kontrast zu dem übergewichtigen Vater. Das Thema Bulimie ist in der Gegenwartsliteratur durchaus präsent, so etwa in Lana Lux‘ Jägerin und Sammlerin oder in Sofi Oksanens Stalins Kühe. Bulimie wird bei Önder jedoch nicht nur psychologisch als eine sich in der Pubertät entwickelnde Erkrankung einer jungen Frau beschrieben, sondern auch auf die Ebene struktureller Geschlechterverhältnisse gehoben. Darauf weist nicht nur die Polarisierung zwischen dem übergewichtigen Vater und der untergewichtigen Tochter hin, sondern auch die Anspielung auf Helmut Kohl als erfolgreichem dicken Mann und dessen vorbildlicher, aber kranker Ehefrau Hannelore. Dies nur als Gegenwartsbezug – als Verweis auf patriarchale Konstellationen in der westdeutschen Gesellschaft – zu lesen, greift jedoch zu kurz.

Önders Roman arbeitet sich auch an der Frage ab, wofür Bulimie als Metapher steht. In Susan Sontags Essay Krankheit als Metapher, in der sich die amerikanische Essayistin mit (dem auch bei ihr diagnostizierten) Krebs auseinandersetzt, werden die Metaphern, die in Zusammenhang mit Krebs und mit Tuberkulose gebraucht werden, analysiert (in einem Folgeessay beschäftigt Sontag sich auch mit Aids). Während Krebs von Sontag als „eine Krankheit des Mittelstandslebens, eine mit Überfluß, mit Exzeß assoziierte Erkrankung“ (Sontag: 17) beschrieben wird, werde die Tuberkulose als „eine Krankheit der Armut und Entbehrung“ (17) imaginiert. Sontag trägt in ihrem Essay verschiedene Vorstellungen über die beiden Krankheiten zusammen, sie bezieht sich dabei auf medizinische, literarische und psychologische Diskurse.

In einer Passage stellt sie das Bild der Tuberkulosekranken, die sie später mit dem Leben der Boheme in Verbindung bringen wird, den erfolgreichen Männern des 19. Jahrhunderts gegenüber:

Viele der literarischen und erotischen Verhaltensweisen, die als romantischer Schmerz bekannt sind, stammen von der Tuberkulose und ihren Umformungen durch die Metapher. Der Schmerz wurde romantisch in einer stilisierten Darstellung der einleitenden Symptome der Krankheit (beispielsweise wird Entkräftung in Sehnsucht umgewandelt), und der tatsächliche Schmerz wurde einfach ausgespart. Abgezehrte, hohlbrüstige junge Frauen und bleiche, rachitische junge Männer wetteiferten miteinander als Kandidaten für diese (zu jener Zeit) fast völlig unheilbare, entkräftende, wirklich schreckliche Krankheit. „Als ich jung war“, schrieb Theophile Gautier, „konnte ich als Lyriker niemanden akzeptieren, der mehr als 99 Pfund wog.“ (…) Nach und nach wurde die tuberkulöse Erscheinung, die eine anziehende Verletzlichkeit, eine überlegene Sensibilität symbolisierte, in zunehmendem Maße zum idealen Aussehen der Frauen – während bedeutende Männer des mittleren und späten 19. Jahrhunderts dick wurden, Industrieimperien gründeten, Hunderte von Romanen schrieben, Kriege führten und Kontinente plünderten.

Susan Sontag: Krankheit als Metapher/Aids und seine Metaphern. Frankfurt a.M.: Fischer 2003 (1977/78 und 1988/89).

Yade Yasemin Önders Debütroman lädt zu Interpretationen ein – nicht nur, weil die geschilderten Szenen von Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit geprägt sind und es oft zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Realität, Phantasie und Unbewusstem kommt. Sondern vor allem durch die explizite Literarizität, die sich in intertextuellen Verweisen, Metaphern und Motiven, aber auch in der strengen Form zeigt, die den ganzen Text durchzieht. Es gibt verschiedene Variationen ein- und derselben Szene, Listen, Wiederholungen und Aufzählungen. In den Verweisen nimmt Önder Bezug auf Raymond Queneaus Stilübungen.

Raymond Queneau: Stilübungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968 (1947).

Önder arbeitet sehr bewusst mit der Sprache, sie setzt Reime und Rhythmen sowie weitere Stilübungen ein, wodurch immer wieder Interpretationsspielräume eröffnet werden, die weniger auf die Handlung selbst bezogen sind, sondern vielmehr aus dem Text heraus, hin zu anderen literarischen und essayistischen Werken führen und auch auf gesellschaftspolitische Debatten in intersektionaler Dimension Bezug nehmen. Was für ein Buch!

Das Bild zeigt das Cover von Dincer Gücyeters Unser Deutschlandmärchen, abgebildet sind ein kleiner Junge und seine Mutter

Unser Deutschlandmärchen – der Debütroman des dichtenden Gabelstaplerfahrers und Verlegers Dinçer Güçyeter

Unser Deutschlandmärchen ist der von einigen schon lang erwartete Roman von Dinçer Güçyeter, dem Verleger und Teilzeit-Gabelstaplerfahrer aus Nettetal, der bereits mit dem Elif-Verlag und als Dichter auf sich aufmerksam gemacht hat. Er nimmt Teil an einer in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur neu aufflammenden Auseinandersetzung mit dem Verhältnis nicht nur von (Lohn-)Arbeit und Schreiben, sondern auch mit den als immer noch in Widerspruch zueinander stehenden Berufen von Arbeiter:innen und Schriftsteller:innen. Anders als bei den bekannten französischen Autor:innen, die für dieses Thema stehen, so etwa Édouard Louis oder die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, geht es in der neuen deutschen Arbeiter:innenliteratur allerdings nicht darum, sich aus dem bildungsfernen Milieu, dem vermeintlichen Sumpf, der aus Ausbeutung und körperlicher Erschöpfung besteht, herauszuschreiben, um dieses aus guten Gründen zurückgelassene Umfeld dann entweder in herablassender Distanz oder empathischer Rückschau literarisch oder biografisch zu erkunden.

Dinçer Güçyeter oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen, Domenico Müllensiefen, beschreiben eine Welt, die aus Anweisungen, Alkohol, Sexismus, Machtlosigkeit und Unterdrückung, natürlich aber auch aus Spaß und Gemeinschaftsgefühl, weitaus häufiger jedoch aus Arbeitsunfällen, Krankheit und Ignoranz besteht. Die Protagonist:innen stehen mittendrin in dieser Welt, der Elektriker bei Müllensiefen muss in der Lehre lernen, den Vormittag mit einem Bier zu beginnen und sexistische Witze zu machen, die Ausbildung zum Werkzeugmacher bei Dinçer Güçyeter zwingt seinen gleichnamigen Protagonisten dazu, dem dort üblichen harten Umgang miteinander einen Ausdruck für die zarten Seiten seiner Persönlichkeit abzuringen, die in der Werkhalle keinen Platz zu haben scheinen.

Dinçer Güçyeter ist als Dichter und Verleger des Elfi-Verlags bekannt geworden, sein Alleinstellungsmerkmal ist das Gabelstapelfahren in Teilzeit (er beschreibt dies in dem Band Brotjobs & Literatur) – damit ist er von Anfang an als Arbeiter in Erscheinung getreten. Es hat den Anschein, dass er sich gar nicht erst damit aufhält, den in der Literatur bereits durchexerzierten Weg zu beschreiten, der oft mit dem Verschweigen der eigenen Herkunft beginnt und oft erst nach dem erfolgreichen Ankommen im Bildungsbürger:innentum zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen, oft schambesetzten Aufstiegsgeschichte führt. Im Gegenteil, ähnlich selbstbewusst wie Christian Baron oder der bereits erwähnte Domenico Müllensiefen bricht Güçyeter mit der Übereinkunft, dass die körperliche Arbeit im Literaturbetrieb nichts zu suchen hat, es sei denn als literarisches Motiv.

Dinçer Güçyeter versteift sich aber auch nicht auf den Arbeiter:innenstolz, der bei anderen Autor:innen, die sich diesem Thema widmen, immer wieder durchscheint. Er widersteht der Versuchung, die Arbeit in der Fabrik romantisch zu verklären oder sie gar den zarten Gesprächsrunden, sauberen Denkbewegungen und während künstlerischer Residenzen bei freier Kost und Logis ausgelebten Schreibblockaden der Intellektuellen als vermeintlich authentischere Form des Broterwerbs vorzuziehen. Dinçer Güçyeter verschweigt auch nicht, dass das Gabelstaplerfahren notwendig ist, um den Verlag zu finanzieren, in dem er Gedichte verlegt.

Worum geht es nun in Unser Deutschlandmärchen, Güçyeters Debütroman, den der Mikrotext-Verlag damit anpreist, dass er nichts auslässt? In einer Mischung aus Familiengeschichte und Coming-of-Age-Roman wird von der Arbeit in der Fabrik, auf dem Feld und in der Familie erzählt, von türkischen Dörfern, traditionellen Geschlechterordnungen und der deutschen wie auch der türkischen (sozusagen gesellschaftsübergreifenden) Doppelmoral. Es geht um ein Leben in Lobberich als Teil einer Gemeinschaft von Migrant:innen und Arbeiter:innen, als Teil einer Familie, die zum Arbeiten nach Deutschland gekommen ist und sich im Sommer in einem Dorf in der Türkei versammelt. Den Kern der kurzen (mit der Genrebezeichnung Roman unnötig überfrachteten) Geschichten, Fragmente und Gedichte, die abwechselnd aus der Perspektive von Mutter und Sohn erzählt werden, bilden die Auseinandersetzung mit den Erwartungen der Familie und Gesellschaft sowie das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Erzählt wird von Scham, vom Alltag im Arbeiter:innenmillieu, von Geld und Armut, toxischer Männlichkeit und überkommenen Rollenbildern, von Traditionen und Ausschlussmechanismen. Nicht unwichtig ist die Frage, welchen Raum Theater, Literatur und Kunst in einer solchen Welt haben können.

Zugleich verschränkt sich die Perspektive der Arbeiter:innen mit der migrantischen und – was ziemlich bemerkenswert ist – mit der weiblichen Sicht, der Stimme von Fatma, Dinçers Mutter, die nicht nur unermüdlich arbeitet, um die Familie zu ernähren, sondern sich auch um Mann und Kinder, darüber hinaus auch um die erweiterte Familie und Nachbarschaft kümmert. Güçyeter springt auf den Zug der Autofiktion auf – private Familienbilder zeugen relativ ungebrochen von der Authentizität seiner Geschichte. Es ist ein feministischer, migrantischer und ein Arbeiter:innenroman zugleich. Einen weiteren Reiz des Textes macht die Distanz aus, die ein Gegengewicht zur Authentizitätsbehauptung bildet – alle Kapitel durchzieht ein Abstand zu den verschiedenen Milieus und ihren Diskursen. Dinçer Güçyeter hütet sich vor Idealisierung – und hält dies in alle Richtungen konsequent ein.

Eine Textstelle beschreibt, wie der Ort Lübberich täglich um 14 Uhr vom Schichtwechsel in den Fabriken geprägt war. Die Arbeiter:innen strömten in großen Massen aus und in die Fabriken, dafür nutzten sie die breite Straße, die durch den Park führte. Von dort aus blickten sie auf ein Restaurant, in dem die Bürger:innen der Stadt zu Mittag aßen.

Während die Bankiers, die Kaufmänner der Stadt, auf der Terrasse der Ingenhoven-Burg ihr Rotbarschfilet mit zwei gekochten Kartoffeln, dekoriert mit Schnittlauch, in Speiseglocken serviert bekamen, liefen die Arbeiter mit hängenden Schultern am Efeuzaun vorbei. Viele von ihnen standen immer wieder vor der Speisekarte am Burgtor und schüttelten angesichts der Preise mit dem Kopf. Mit dem Geld für ein Fischfilet mit zwei gekochten Kartoffeln könnte man bei Aldi einen ganzen Einkaufswagen füllen.

Dincer Gücyeter: Unser Deutschlandmärchen. Mikrotext Verlag, Berlin 2022, 154

Es hat den Anschein, als hätte Dinçer Güçyeter eine ähnliche Distanz zum idealisierten Literaturbetrieb, der sich immer noch nicht wirklich von der Genieästhetik verabschiedet hat und weiter am Ideal des nicht arbeitenden Schriftstellers festhält (siehe dazu die Texte verschiedener Autor:innen in Brotjobs & Literatur). Statt sich darüber aufzuregen, schüttelt er lieber den Kopf über den Preis, den er dafür zahlen müsste und schreibt über das, was ihn interessiert.

Damals bis heute war und ist mir bewusst, dass meine Texte in akademischen Kreisen kein Echo finden werden, sie werden Fetzen eines lyrischen Ichs bleiben. […] Nichts kommt auf das Blatt, was auf meiner Haut keine Spuren hinterlassen hat.

Dincer Gücyeter: Unser Deutschlandmärchen. Mikrotext Verlag, Berlin 2022, 191

Damit, dass Dinçer Güçyeters Texte kein Echo in akademischen Kreisen finden werden, täuscht er sich aber ganz sicher.

Dincer Gücyeter: Unser Deutschlandmärchen. Mikrotext Verlag, Berlin 2022